BGer 9C_845/2016 | |||
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BGer 9C_845/2016 vom 27.12.2017 |
9C_845/2016 |
Urteil vom 27. Dezember 2017 |
II. sozialrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied,
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Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
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Gerichtsschreiberin Dormann.
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Verfahrensbeteiligte | |
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
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Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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A.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Kreso Glavas,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
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vom 23. November 2016 (IV 2014/235).
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Sachverhalt: | |
A. Die 1969 geborene A.________ meldete sich im Oktober 2007 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen sprach ihr mit Verfügung vom 3. resp. 15. Dezember 2010, gestützt auf ein Gutachten der MEDAS Zentralschweiz vom 12. August 2008, eine Viertelsrente ab 1. Mai 2008 zu (Invaliditätsgrad von 48 %). Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 13. Dezember 2012 teilweise gut; es hob die Verfügung vom 15. Dezember 2010 auf und wies die Sache zu weiteren Abklärungen und neuer Verfügung an die Verwaltung zurück. Nach Einholung insbesondere des polydisziplinären Gutachtens der MEDAS Zentralschweiz vom 19. November 2013 und Durchführung des Vorbescheidverfahrens ermittelte die IV-Stelle einen Invaliditätsgrad von 35 %. Mit Verfügung vom 24. März 2014 verneinte sie einen Leistungsanspruch; zudem verfügte sie die "Aufhebung" der Rente auf das Ende des der Zustellung folgenden Monats.
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B. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 23. November 2016 gut; es hob die Verfügung vom 24. März 2014 auf und sprach A.________ eine halbe Invalidenrente ab 1. Mai 2008 zu.
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C. Die IV-Stelle beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, der Entscheid vom 23. November 2016 sei aufzuheben und die Verfügung vom 24. März 2014 sei zu bestätigen. Ferner ersucht sie um Gewährung der aufschiebenden Wirkung.
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A.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei; eventualiter sei die Sache zu weiteren Abklärungen und neuem Entscheid an das kantonale Gericht resp. an die Verwaltung zurückzuweisen. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen beantragt ebenfalls, das Rechtsmittel abzuweisen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen: | |
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Immerhin prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).
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2. Das kantonale Gericht hat die rechtlichen Grundlagen zur Beurteilung des Anspruchs auf eine Invalidenrente (Art. 28 IVG; Art. 7 und 8 ATSG) und der Beweiskraft eines medizinischen Gutachtens (BGE 125 V 351 E. 3a und 3b S. 352 f.) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
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Erwägung 3 | |
3.1. Die Vorinstanz hat mangels einer rechtskräftigen Rentenzusprache originär über den Rentenanspruch entschieden. Sie hat dem Gutachten der MEDAS Zentralschweiz vom 19. November 2013 nicht nur in Bezug auf den medizinischen Sachverhalt, sondern auch hinsichtlich der darin enthaltenen Arbeitsfähigkeitsschätzung Beweiskraft beigemessen. Gestützt darauf hat sie für leidensangepasste Tätigkeiten eine ab dem 30. Mai 2007 um 50 % reduzierte Arbeitsfähigkeit festgestellt. Für die Invaliditätsbemessung hat das kantonale Gericht einen Prozentvergleich vorgenommen, wobei es einen Tabellenlohnabzug (vgl. BGE 126 V 75 E. 5b/aa in fine S. 80) von 10 % berücksichtigt hat. Beim resultierenden Invaliditätsgrad von 55 % hat es den Anspruch auf eine halbe Invalidenrente ab 1. Mai 2008 bejaht.
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3.2. Im MEDAS-Gutachten vom 19. November 2013 wurden - mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit - ein cochleovestibulärer Funktionsausfall rechts, eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10: F32.1) und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.40) diagnostiziert. Das kantonale Gericht hat diesbezüglich festgestellt, laut dem psychiatrischen Experten habe die depressive (chronische) Episode hauptsächlichen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit. Dabei handle es sich um ein eigenständiges Leiden und nicht nur um eine Begleiterscheinung zur anhaltenden somatoformen Schmerzstörung. Vor dem Hintergrund, dass 2010 Eheprobleme als initial bedeutsamer psychosozialer Belastungsfaktor entfallen sowie ein Unfall vom September 2006 und die Operation eines Akustikneurinoms im August 2007 fehlverarbeitet worden seien, sei von einer verselbständigten psychischen Störung mit erheblichen, im psychiatrischen Teilgutachten dargelegten Beeinträchtigungen auszugehen. Relevante Ressourcen der Versicherten hätten die MEDAS-Gutachter nicht erkennen können und ergäben sich auch nicht aus den übrigen Unterlagen.
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Weiter ist die Vorinstanz davon ausgegangen, dass die fehlende Therapieresistenz (vom Experten empfohlene Anpassung der antidepressiven Therapie, die [bei der Begutachtung] aus einer psychiatrischen Sitzung pro Monat und unregelmässiger Einnahme der antidepressiven Medikamente bestanden habe) einem Rentenanspruch nicht entgegenstehe. Sie hält die bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach leichte bis mittelgradige depressive Störungen einzig dann als invalidisierende Krankheiten in Betracht fielen, wenn sie erwiesenermassen therapieresistent seien (BGE 140 V 197 E. 3.3 S. 197; Urteil 9C_434/2016 vom 14. Oktober 2016 E. 6.3 mit Hinweisen), nicht für gesetzeskonform.
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3.3. Dass die vorinstanzlichen Feststellungen im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung (E. 3.2 Abs. 1) offensichtlich unrichtig sein oder auf einer Rechtsverletzung beruhen sollen, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht geltend gemacht. Sie bleiben für das Bundesgericht verbindlich (E. 1).
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In Bezug auf die Arbeitsfähigkeit resp. das MEDAS-Gutachten vom 19. November 2013bestreitet die IV-Stelle einzig die invalidenversicherungsrechtliche Relevanz des depressiven Leidens, wobei sie sich auf fehlende Therapieresistenz im Sinne der soeben dargelegten (vgl. E. 3.2 in fine) bundesgerichtlichen Rechtsprechung beruft; hingegen anerkennt sie ausdrücklich die mit dem otoneurologischen Befund begründete Einschränkung von 35 %.
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3.4. Mit dem Urteil 8C_841/2016 vom 30. November 2017 (zur Publikation bestimmt) entschied das Bundesgericht jüngst, die von der IV-Stelle angerufene Rechtsprechung aufzugeben und auch die Folgen von lege artis diagnostizierten leichten bis mittelschweren depressiven Störungen an den Grundsätzen von BGE 141 V 281 zu messen. Somit ist eine invalidenversicherungsrechtlich relevante psychische Gesundheitsschädigung nicht bereits mit dem Argument der fehlenden Therapieresistenz auszuschliessen (Urteil 8C_841/2016 vom 30. November 2017 E. 4.5 und 5.1).
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Für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit sind daher systematisierte Indikatoren beachtlich, die - unter Berücksichtigung leistungshindernder äusserer Belastungsfaktoren einerseits und Kompensationspotentialen (Ressourcen) anderseits - erlauben, das tatsächlich erreichbare Leistungsvermögen einzuschätzen (BGE 141 V 281 E. 2 S. 285 ff., E. 3.4-3.6 und 4.1 S. 291 ff.).
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Erwägung 3.5 | |
3.5.1. Gemäss altem Verfahrensstandard eingeholte Gutachten verlieren nicht per se ihren Beweiswert. Vielmehr ist im Rahmen einer gesamthaften Prüfung des Einzelfalls mit seinen spezifischen Gegebenheiten und den erhobenen Rügen entscheidend, ob ein abschliessendes Abstellen auf die vorhandenen Beweisgrundlagen vor Bundesrecht standhält (BGE 141 V 281 E. 8 S. 309).
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3.5.2. Was den Verlauf und Ausgang von Therapien als wichtige Schweregradindikatoren (Urteil 8C_841/2016 vom 30. November 2017 E. 4.5.2) sowie die Inanspruchnahme therapeutischer Optionen mit Blick auf die Kategorie Konsistenz (BGE 141 V 281 E. 4.4.2 S. 304) anbelangt, so ergibt sich aus den Gutachten der MEDAS Zentralschweiz, dass die Versicherte bereits seit dem 29. September 2006 in regelmässiger psychiatrischer Behandlung stand. Vom 21. Januar bis zum 19. Februar 2008 unterzog sie sich einer stationären Behandlung. Ab 12. Januar 2010 erfolgte eine teilstationäre und vom 20. Juli bis zum 12. September 2012 wiederum eine stätionäre Behandlung; daran anschliessend organisierte die ambulant behandelnde Psychiaterin (laut verbindlicher vorinstanzlicher Feststellung) eine "dipl. psych. Pflegefachfrau", die die Versicherte mindestens wöchentlich zu Hause aufsuchte. Weiter gilt es zu beachten, dass zusätzlich zur depressiven Störung nicht nur die eigenständige Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung gestellt wurde, sondern mit dem cochleovestibulären Funktionsausfall eine die Arbeitsfähigkeit um 35 % beeinträchtigende Komorbidität (vgl. BGE 141 V 281 E. 4.3.1.3 S. 301) vorliegt. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte und der vorinstanzlichen Feststellungen (E. 3.2 Abs. 1) sind weder offensichtliche Mängel des MEDAS-Gutachtens vom 19. November 2013 erkennbar, noch ist sein Beweiswert aus rechtlichen Gründen in Frage gestellt. Die darauf beruhende Feststellung des kantonalen Gerichts betreffend die Arbeitsfähigkeit bleibt für das Bundesgericht verbindlich (E. 1).
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3.6. Schliesslich hält die Beschwerdeführerin bei der Invaliditätsbemessung den Tabellenlohnabzug (vgl. BGE 126 V 75 E. 5b/aa in fine S. 80) von 10 % für unzulässig. Wie es sich damit verhält, kann offenbleiben: Auch ohne Abzug bleibt es (bei einem Invaliditätsgrad von 50 %) beim Anspruch auf eine halbe Invalidenrente. Die Beschwerde ist unbegründet.
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4. Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegenstandslos.
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5. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdegegnerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
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3. Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'400.- zu entschädigen.
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4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 27. Dezember 2017
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Das präsidierende Mitglied: Meyer
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Die Gerichtsschreiberin: Dormann
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