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Informationen zum Dokument  BGer 8C_12/2018  Materielle Begründung
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BGer 8C_12/2018 vom 21.06.2018
 
 
8C_12/2018
 
 
Urteil vom 21. Juni 2018
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
 
Gerichtsschreiberin Polla.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Beat Frischkopf,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 21. November 2017 (5V 16 430).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________ meldete sich im November 1999 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen - insbesondere Einholung eines polydisziplinären Gutachtens der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) Zentralschweiz vom 18. April 2001 und eines Berichts der Beruflichen Abklärungsstelle B.________ vom 26. März 2002 - sprach ihm die IV-Stelle Luzern wegen der festgestellten somatoformen Schmerzstörung mit depressiver Symptomatik ab 1. Dezember 1999 eine halbe und ab 1. Juni 2001 eine ganze Invalidenrente zu (Verfügung vom 10. Juli 2002). Anlässlich zweier Revisionsverfahren bestätigte sie mit Verfügung vom 17. Mai 2006 und Mitteilung vom 17. September 2009 den Anspruch auf eine ganze Invalidenrente. Im Zuge eines im März 2014 von Amtes wegen eingeleiteten Revisionsverfahrens liess ihn die IV-Stelle bei der MEDAS Servizio Accertamento Medico (SAM) polydisziplinär untersuchen (Expertise vom 15. März 2016) und holte eine Stellungnahme ihres Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) ein (IV-Protokolleintrag vom 11. Mai 2016). Daraufhin hob sie die ganze Rente in Anwendung von lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen der Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket [SchlB IVG]) auf (Verfügung vom 29. September 2016), wobei sie die Rente bis längstens 31. Oktober 2016 bzw. bis zum Abbruch beruflicher Eingliederungsmassnahmen gewährte (Verfügung vom 30. September 2016).
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 21. November 2017 ab.
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C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die IV-Stelle zu verpflichten, ihm weiterhin eine Invalidenrente gestützt auf einen Invaliditätsgrad von mindestens 50 % zuzusprechen.
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Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.
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Erwägungen:
 
1. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. 
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2.1. Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden, werden innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten dieser Änderung überprüft. Sind die Voraussetzungen nach Artikel 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die Rente herabgesetzt oder aufgehoben, auch wenn die Voraussetzungen von Artikel 17 Absatz 1 ATSG nicht erfüllt sind (lit. a Abs. 1 SchlBest.). Diese Bestimmung findet keine Anwendung auf Personen, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Änderung das 55. Altersjahr zurückgelegt haben oder im Zeitpunkt, in dem die Überprüfung eingeleitet wird, seit mehr als 15 Jahren eine Rente der Invalidenversicherung beziehen (lit. a Abs. 4 SchlBest; BGE 140 V 197; 139 V 547 E. 10.1 S. 568).
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2.2. Streitig ist, ob das kantonale Gericht die von der IV-Stelle am 29. September 2016 verfügte Aufhebung der bisherigen Rente zu Recht bestätigte. Aufgrund der Erwägungen der Vorinstanz steht fest, dass die Voraussetzungen für eine Rentenüberprüfung nach lit. a Abs. 1 SchlB IVG vorliegen. Ebenfalls steht nicht in Frage, dass dem Gutachten der SAM vom 15. März 2016 in medizinischer Hinsicht Beweiswert zukommt. Umstritten ist jedoch, ob die Vorinstanz bundesrechtswidrig von der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit im Gutachten abwich und einen invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschaden verneinte.
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Erwägung 3
 
3.1. Die Vorinstanz würdigte die umfangreichen medizinischen Unterlagen im Lichte von BGE 141 V 281 einlässlich. Gestützt auf die SAM-Expertise vom 15. März 2016 bestünden eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit mittelgradiger Depression (ICD-10 F45.4) und sonstige Probleme in der primären Bezugsgruppe, einschliesslich familiärer Umstände, Abwesenheit von Familienangehörigen (ICD-10 F63.3). Aus psychiatrischer Sicht sei die Arbeitsfähigkeit wegen der depressiven Symptomatik (Morgentief, verminderte Energie und verminderter Antrieb) und der somatoformen Schmerzen, die die Konzentrationsfähigkeit beeinflussten, um 50 % eingeschränkt. Aus rechtlichen Gründen sei diese Arbeitsfähigkeitsschätzung hingegen nicht zu übernehmen, da sie mit Blick auf die Indikatoren gemäss BGE 141 V 281 nicht überzeuge. Im Einzelnen stellte sie fest, mit Bezug auf den Komplex "Gesundheitsschädigung" hätten die Gutachter den vielfältigen somatischen Beschwerden keinen wesentlichen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit beigemessen. Nachdem der Versicherte die Schmerzintensität als mittelgradig eingestuft habe und aufgrund der aus objektiver gutachterlicher Sicht wahrscheinlich bestehenden schmerzfreien Intervalle, sei nicht von einer besonders schweren Ausprägung der somatoformen Schmerzen auszugehen. Die Arbeitsunfähigkeit sei überdies gutachterlicherseits hauptsächlich mit depressionsbedingten Einschränkungen begründet worden. Der Versicherte habe aber seit dem Jahr 2001 keine entsprechende psychiatrische Behandlung oder eine Schmerztherapie in Anspruch genommen, obwohl ihm Therapieoptionen offen stünden, was ebenfalls gegen eine schwergradig ausgeprägte Schmerzstörung spreche. Bezüglich des Komplexes "Persönlichkeit" sei eine Persönlichkeitsproblematik im engeren Sinn ausgeschlossen worden. Es bestehe jedoch eine chronifizierte Schmerzfixation als hindernder Aspekt. Auch negativ ins Gewicht fielen die festgestellten schweren Beeinträchtigungen der Umstellungsfähigkeit und der Flexibilität. Im Gutachten seien demgegenüber auch etliche persönliche Ressourcen aufgeführt worden. Er besitze eine hohe Strukturfähigkeit, sei in den Alltagsfunktionen und der Haushaltsführung nicht eingeschränkt. Im sozialen Kontext sei das Umfeld weitgehend intakt. In der Schweiz lebe er etwas zurückgezogen, er verfüge über einen kleineren Kreis von Kollegen. Seine Familie, die er finanziell unterstütze und mit der er sich wohl fühle, lebe zwar aus finanziellen Gründen im Kosovo, er besuche sie aber mehrmals im Jahr und bleibe für einige Wochen bis mehrere Monate dort. Diese sei daher trotz der räumlichen Trennung eher als Ressource zu werten. Die Vorinstanz gelangte zum Schluss, dass funktionelle Auswirkungen der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung nicht in einem anspruchserheblichen Ausmass ausgewiesen seien. Eine Arbeitsunfähigkeit liege daher aufgrund der Schmerzstörung mit mittelgradiger Depressivität nicht vor.
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3.2. Zu Unrecht stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, das kantonale Gericht habe nicht von der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit durch die SAM-Gutachter abweichen dürfen. Die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ist nicht einzig Aufgabe der Ärzte oder Ärztinnen. Die medizinische Einschätzung bietet nur, aber immerhin eine wichtige Grundlage für die juristische Beurteilung, welche Arbeitsleistung der versicherten Person noch zugemutet werden kann (BGE 141 V 281 E. 5.2.1 S. 306 mit Hinweisen). Die Rechtsanwender prüfen dabei die medizinischen Angaben frei, insbesondere daraufhin, ob die Ärzte sich an die massgebenden normativen Rahmenbedingungen gehalten haben. Das heisst, ob sie ausschliesslich funktionelle Ausfälle berücksichtigt haben, welche Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung sind (Art. 7 Abs. 2 erster Satz ATSG), und ob die versicherungsmedizinische Zumutbarkeitsbeurteilung auf objektivierter Grundlage erfolgt ist (Art. 7 Abs. 2 zweiter Satz ATSG). Aus rechtlicher Sicht kann daher von einer medizinischen Einschätzung der Arbeitsfähigkeit abgewichen werden, ohne dass diese ihren Beweiswert verliert (Urteil 8C_604/2017 vom 15. März 2018 E. 3.2; vgl. auch SVR 2016 UV Nr. 25 S. 81, 8C_438/2015 E. 6 mit Hinweisen), worauf die Vorinstanz bereits hinwies.
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3.3. Mit dem Beschwerdeführer kann dem kantonalen Gericht wegen der zwischenzeitlich mit BGE 143 V 409 erfolgten Rechtsprechungsänderung insoweit nicht gefolgt werden, als es die depressive Komponente des Krankheitsbildes als nicht invalidisierend bezeichnete, weil sie therapierbar sei. Denn eine invalidenversicherungsrechtlich relevante psychische Gesundheitsschädigung darf nunmehr nicht allein mit dem Argument der fehlenden Therapieresistenz ausgeschlossen werden (BGE 143 V 409 E. 4.4 S. 414 f.). Weiter beurteilte die psychiatrische Expertin Dr. med. C.________ die funktionellen Auswirkungen der mittelgradigen Depression zwar losgelöst von der Schmerzstörung, sah das depressive Leiden, wie der psychiatrische Vorgutachter Dr. med. D.________ im MEDAS-Gutachten vom 18. April 2001, letztlich aber nicht als eigenständiges Krankheitsbild an, sondern als Teil der somatoformen Schmerzstörung, wie sich aus der diagnostischen Einordnung desselben ergibt. Ob es sich bei der mittelgradigen Depression des Versicherten um ein von der Schmerzkrankheit losgelöstes, eigenständiges Krankheitsbild handelt, ist ohnehin insofern irrelevant, als mit den Urteilen BGE 143 V 409 und 418 auch depressive Störungen leicht- bis mittelgradiger Natur grundsätzlich einem strukturierten Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu unterziehen sind.
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3.4. Die weiteren Einwendungen des Beschwerdeführers gegen die vorinstanzliche Beweiswürdigung sind nicht stichhaltig. Soweit er auf einen chronifizierten Krankheitsverlauf hinweist und damit ungenügende Ressourcen für den Umgang mit der depressiven Problematik geltend machen will, ist ihm entgegen zu halten, dass die Gutachterin die Möglichkeit einer erfolgreichen Behandlung derselben bejahte und auf die fehlende Inanspruchnahme medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung hinwies. Fest steht, dass er die psychiatrische Behandlung im Jahr der ursprünglichen Rentenzusprache (2002) beendete und seither keine psychiatrische Therapie mehr stattfand; die im MEDAS-Gutachten vom 18. April 2001 empfohlene medikamentöse Therapie wurde nie umgesetzt. Es ist weder offensichtlich unrichtig noch sonstwie bundesrechtswidrig, wenn die Vorinstanz diesen Umstand bei der Feststellung, es liege keine schwergradige Ausprägung der Schmerzstörung vor, miteinbezog. Dass die fehlende psychiatrische und (adäquate) medikamentöse Behandlung klarerweise auf eine (unabwendbare) Unfähigkeit zur Krankheitseinsicht zurückzuführen wäre, was dennoch auf einen beachtlichen Leidensdruck hindeuten würde, ergibt sich aus den medizinischen Unterlagen nicht (BGE 141 V 281 E. 4.4.2 S. 304.). Wie die Vorinstanz nicht offensichtlich unrichtig feststellte, besitzt der Versicherte insgesamt genügend erhaltene Ressourcen (fehlende somatische Komorbidität, nicht ausgeschöpfte psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten, trotz mittelgradiger Schmerzzustände volle Funktionsfähigkeit im Alltags- und Beziehungsleben), die das Ausüben einer Erwerbstätigkeit vollumfänglich erlauben. Nicht nachvollziehbar ist, weshalb das Schmerzleiden mit depressiver Symptomatik oder die festgestellten Einschränkungen hinsichtlich Flexibilität und Umstellungsfähigkeit einen Wiedereinstieg ins Erwerbsleben gänzlich verunmöglichten, wie eingewendet wird. Auch mit Blick auf die vorinstanzlichen Feststellungen zu den sozialen Aktivitäten und der nicht eingeschränkten Haushaltsführung, die sich entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers auf die gutachterlichen Darlegungen stützen, kann er keine konkreten Argumente vorbringen, die eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung oder eine anderweitige Bundesrechtsverletzung des kantonalen Gerichts begründen könnten. Ohnehin beschränkt sich der Beschwerdeführer auf weiten Strecken auf eine von der Vorinstanz abweichende Beweiswürdigung (vgl. Urteile 9C_714/2015 vom 29. April 2016 E. 4.3; 9C_65/2012 vom 28. Februar 2012 E. 4.3 mit Hinweisen) resp. appellatorische Kritik (vgl. BGE 140 III 264 E. 2.3 S. 266), was nicht genügt.
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3.5. Somit hat das kantonale Gericht kein Recht verletzt, indem es der im SAM-Gutachten attestierten Arbeitsunfähigkeit die rechtliche Relevanz absprach und davon ausging, dass die anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit mittelgradiger Depression die Arbeitsfähigkeit des Versicherten nicht erheblich beeinträchtigt, ohne dass der Erfolg einer Therapie abzuwarten gewesen wäre. Es bleibt demzufolge bei der vorinstanzlich bestätigten Rentenaufhebung.
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4. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 21. Juni 2018
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Polla
 
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