BGer 9C_480/2018 | |||
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BGer 9C_480/2018 vom 30.01.2019 |
9C_480/2018 |
Urteil vom 30. Januar 2019 |
II. sozialrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
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Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
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Gerichtsschreiber Grünenfelder.
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Verfahrensbeteiligte | |
handelnd durch ihre Mutter und diese vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Stark,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Ergänzungsleistung zur AHV/IV,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 29. Mai 2018 (EL 2017/17).
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Sachverhalt: | |
A. Die 2008 geborene A.________ bezieht eine Kinderrente zur Invalidenrente ihres Vaters sowie Ergänzungsleistungen (EL). Ab März 2015 wurde sie in einer Pflegefamilie untergebracht. Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen legte den Ergänzungsleistungsanspruch für 2015 und 2016 rechtskräftig fest. Bei der Leistungsberechnung berücksichtigte sie jedoch nicht den in Rechnung gestellten Tagessatz von Fr. 180.- als Ausgabe, sondern lediglich die maximale Tagespauschale nach kantonalem Recht (Fr. 33.-). Daran hielt sie für das Berechnungsjahr 2017 mit der Begründung fest, dass kein voller Kostenersatz möglich sei, weil A.________ nicht in einem kantonal anerkannten Pflegeheim lebe (Verfügung vom 19. Dezember 2016; Einspracheentscheid vom 14. März 2017).
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde der A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 29. Mai 2018 ab.
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C. A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie im Sinne der geltenden Rechtsprechung über den Anspruch auf Ergänzungsleistungen neu befinde. Sodann ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege.
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Das kantonale Gericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen: | |
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
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Erwägung 2 | |
2.1. Prozessthema bildet in letzter Instanz einzig die Frage, ob das kantonale Gericht zu Recht auf eine umfassende Überprüfung des Tagessatzes für die Pflegeunterbringung verzichtet hat.
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2.2. Die Vorinstanz hat in diesem Zusammenhang auf ihre eigene Praxis verwiesen und erwogen, es beruhe auf einem falschen Verständnis der materiellen ELG-Bestimmungen, dass eine EL-Verfügung immer nur für ein Kalenderjahr verbindlich sei, und deshalb sämtliche Anspruchspositionen jedes Jahr neu überprüft werden könnten (sog. "Kalenderjahr-Praxis"). Auch in systematischer und teleologischer Hinsicht halte diese Auffassung nicht stand. Eine Neubeurteilung sämtlicher Anspruchspositionen der Verfügung vom 19. Dezember 2016 sei daher nicht zulässig. Mit Blick auf die strittige Tagestaxe hätte vielmehr einzig geprüft werden dürfen, ob eine massgebliche Veränderung eingetreten sei (Art. 17 Abs. 2 ATSG). Dies sei nicht der Fall, habe sich doch der geltend gemachte Tagessatz wie in den Vorjahren unverändert auf Fr. 180.- belaufen. Demzufolge seien die Voraussetzungen für eine revisionsweise Korrektur dieser Berechnungsposition nicht erfüllt.
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2.3. Die Beschwerdeführerin wendet in ihrer Beschwerde zu Recht ein, der Standpunkt des kantonalen Gerichts verstosse gegen die ständige bundesgerichtliche Rechtsprechung (vgl. statt vieler: Urteile 9C_741/2017 vom 31. August 2018 E. 5.2 in fine, 9C_132/2018 vom 14. Mai 2018 E. 3.2 und 9C_301/2016 vom 25. Januar 2017 E. 5.1, je mit Hinweis auf BGE 128 V 39 E. 3b und c S. 40 f.; ferner BGE 141 V 255 E. 1.3 S. 257 f.). Danach können die Berechnungsgrundlagen bei der jährlichen Überprüfung der Ergänzungsleistung ohne Bindung an die früher verwendeten Faktoren und unabhängig von der Möglichkeit der während der Bemessungsdauer vorgesehenen Revisionsgründe von Jahr zu Jahr neu festgelegt werden (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. a ELG). Das Kalenderjahrkonzept ergibt sich aus dem Charakter der Ergänzungsleistung als Bedarfsleistung, deren Ausrichtung dort angebracht ist, wo die Renten der Alters- und Invalidenversicherung sowie allfälliges übriges Einkommen die minimalen Lebenskosten nicht decken. Die jährliche Neuberechnung betrifft nicht die vorangegangenen Perioden, sondern bezweckt einzig die Berechnung der korrekten Ergänzungsleistung für das neue Kalenderjahr aufgrund der aktuellen tatsächlichen Gegebenheiten. Hingegen beziehen sich die Änderung der jährlichen Ergänzungsleistung (Art. 25 ELV) und die Revision von Dauerleistungen nach Art. 17 Abs. 2 ATSG auf die Anpassung (Erhöhung, Herabsetzung oder Aufhebung) auch während des Kalenderjahres, was - im Gegensatz zur jährlichen Neuberechnung - nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist. Sie ergänzen die jährliche Neuberechnung, ersetzen diese aber nicht (ausführlich, mit eingehenden Ausführungen zur abweichenden St. Galler Praxis und der entsprechenden Kritik in der Lehre: Urteil 8C_94/2007 vom 15. April 2008 E. 3 und 4; bestätigt mit Urteil 9C_52/2015 vom 3. Juli 2015 E. 2.2.1).
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Triftige Gründe für eine Praxisänderung ergeben sich weder aus dem angefochtenen Entscheid noch aus der Vernehmlassung der Vorinstanz vom 4. September 2018 (zu den Voraussetzungen vgl. BGE 141 II 297 E. 5.5.1 S. 303; 137 V 417 E. 2.2.2 S. 422). Insbesondere verlangt die Beschwerdeführerin erstmals die Überprüfung der Tagessatzhöhe für die Unterbringung in ihrer Pflegefamilie. Die Problematik einer mutwilligen Prozessführung stellt sich hier nicht. An der bisherigen Rechtsprechung ist festzuhalten. Weiterungen dazu erübrigen sich.
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2.4. Vor diesem Hintergrund ist die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es sich materiell mit der Höhe des beanstandeten Tagessatzes auseinandersetze. Der vorinstanzliche Entscheid verletzt im strittigen Punkt Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG).
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3. Da die Beschwerde offensichtlich begründet ist, wird sie im Verfahren nach Art. 109 Abs. 2 lit. b BGG mit summarischer Begründung (Art. 109 Abs. 3 Satz 1 BGG) erledigt.
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4. Die unterliegende Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG) und der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 29. Mai 2018 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
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3. Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
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4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 30. Januar 2019
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Die Präsidentin: Pfiffner
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Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder
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