BGer 1B_548/2019 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
BGer 1B_548/2019 vom 31.01.2020 |
1B_548/2019 |
Urteil vom 31. Januar 2020 |
I. öffentlich-rechtliche Abteilung | |
Besetzung
| |
Bundesrichter Chaix, Präsident,
| |
Bundesrichter Fonjallaz, Kneubühler,
| |
Gerichtsschreiberin Hänni.
|
Verfahrensbeteiligte | |
A.________,
| |
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marcel Buttliger,
| |
Beschwerdeführer,
| |
gegen
| |
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
| |
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau.
| |
Gegenstand
| |
Strafverfahren; Ausstand,
| |
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 2. Oktober 2019 (SBK.2019.210).
|
Sachverhalt: |
A. | |
Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau führt eine Strafuntersuchung gegen eine im vorliegenden Verfahren nicht namentlich bekannte verdächtige Person. Bei deren Festnahme am 4. August 2019 (vgl. Ziff. 1.2 im angefochtenen Entscheid) durch die Sondereinheit Argus der Kantonspolizei Aargau befand sie sich im Fahrzeug von A.________. Während der Polizeiaktion wurde dieser ebenfalls festgenommen; sein Fahrzeug soll beschädigt worden sein und er soll sich Verletzungen zugezogen haben.
| 1 |
Am 20. August 2019 erstattete A.________ bei der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau Strafanzeige gegen unbekannte Polizeibeamte wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch, Körperverletzung und Sachbeschädigung. Er stellte Strafantrag und beantragte die Bestellung einer ausserkantonalen Staatsanwaltschaft, eventualiter die Übertragung der Strafuntersuchung an die Staatsanwaltschaft Baden.
| 2 |
B. | |
Am 28. August 2019 stellte die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau beim Obergericht des Kantons Aargau ihrerseits ein Ausstandsbegehren gegen die ganze Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau in Bezug auf die Behandlung der Strafanzeige von A.________; in Anwendung von § 7 Abs. 4bis lit. b des Einführungsgesetzes vom 16. März 2010 zur Schweizerischen Strafprozessordnung des Kantons Aargau (EG StPO/AG; SAR 251.200) sei ein ausserordentlicher Staatsanwalt zu bezeichnen.
| 3 |
C. | |
Mit Entscheid vom 2. Oktober 2019 hiess die Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Aargau das Ausstandsgesuch hinsichtlich der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau gut. Im Übrigen wies es die Gesuche ab.
| 4 |
D. | |
Dagegen hat A.________ am 14. November 2019 beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen erhoben. Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Vorinstanz sei anzuweisen, einen ausserordentlichen (ausserkantonalen) Staatsanwalt einzusetzen.
| 5 |
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt die Gutheissung der Beschwerde. Das Obergericht des Kantons Aargau verzichtet auf eine Vernehmlassung und verweist auf den angefochtenen Entscheid.
| 6 |
Erwägungen: |
Erwägung 1 | |
1.1. Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen selbständig anfechtbaren, kantonal letztinstanzlichen (vgl. Art. 59 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 380 StPO) Zwischenentscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, gegen den gemäss Art. 78 ff. in Verbindung mit Art. 92 Abs. 1 BGG grundsätzlich die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht offensteht.
| 7 |
1.2. Der Beschwerdeführer ist im vorliegenden Verfahren nicht Beschuldigter, sondern Privatkläger. Die Privatklägerschaft kann mit Beschwerde in Strafsachen ungeachtet der Legitimation in der Sache im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG eine Verletzung ihrer Parteirechte rügen, die ihr nach dem Verfahrensrecht, der Bundesverfassung oder der EMRK zustehen und deren Missachtung auf eine formelle Rechtsverweigerung hinausläuft. Zulässig sind Rügen, die formeller Natur sind und von der Prüfung der Sache getrennt werden können (BGE 141 IV 1 E. 1.1 S. 5 mit Hinweisen). Das nach Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG erforderliche rechtlich geschützte Interesse ergibt sich diesfalls aus der Berechtigung, am Verfahren teilzunehmen.
| 8 |
Der Beschwerdeführer beantragt den Ausstand der gesamten Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und macht damit eine Verletzung seines Anspruchs auf eine unparteiische und unbefangene Behörde geltend. Er ist zur Beschwerde berechtigt.
| 9 |
1.3. Die Beschwerde wurde ausserdem rechtzeitig erhoben (Art. 100 Abs. 1 BGG). Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten.
| 10 |
Erwägung 2 | |
2.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei am 4. August 2019 von unbekannten Mitarbeitenden der Sondereinheit Argus der Kantonspolizei Aargau in völlig unverhältnismässiger Art und Weise verhaftet worden. Er wirft den involvierten Angehörigen der Kantonspolizei Amtsmissbrauch, einfache Körperverletzung und Sachbeschädigung vor. Der Einsatz der Sondereinheit Argus sei durch den Kommandanten der Kantonspolizei bewilligt worden und mindestens zwei namentlich bekannte Offiziere seien involviert gewesen. Die Namen der am Einsatz beteiligten Unteroffiziere seien jedoch noch nicht bekannt. Sämtliche Mitglieder der Staatsanwaltschaft und Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau würden tagtäglich eng mit den Mitarbeitenden der Kantonspolizei im Rahmen von Strafuntersuchungen zusammenarbeiten und es herrsche ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis. Unter diesen Umständen sei es nicht möglich, dass irgendeine Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau den Vorfall objektiv und unabhängig untersuchen könne. Die ganze Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau habe deshalb in den Ausstand zu treten und es sei ein ausserkantonaler Staatsanwalt zu ernennen. Indem die Vorinstanz diesem Antrag nicht stattgegeben habe, habe sie Art. 56 lit. f StPO verletzt.
| 11 |
2.2. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau führt in ihrer Vernehmlassung aus, aufgrund der bisherigen Informationen sei davon auszugehen, dass Angehörige des obersten Kaders der Kantonspolizei in das Verfahren einzubeziehen seien. Nach der Praxis der Staatsanwaltschaft Aargau würden Strafverfahren gegen Mitglieder der Polizei zwar nicht durch diejenige Staatsanwaltschaft geführt, die für den Dienstort der beschuldigten Polizisten oder Polizistinnen örtlich zuständig sei. Diese Praxis könne aber in Bezug auf die Sondereinheit Argus nicht umgesetzt werden, da deren Mitglieder ihren Einsatzort irgendwo im Kanton Aargau haben könnten. Die Umsetzung der Praxis sei auch schwierig, weil hohe Offiziere involviert sein könnten, mit denen die Staatsanwaltschaft aufgrund ihrer jeweiligen Funktion sehr intensiv zusammenarbeite. Bei dieser Ausgangslage sei es äusserst schwierig, ein Mitglied der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau zu finden, bei dem Ausstandsgründe zweifelsfrei nicht vorhanden seien.
| 12 |
Erwägung 3 | |
3.1. Die Ausstandsgründe für die in einer Strafbehörde tätigen Justizpersonen sind in Art. 56 StPO geregelt. Zu den Strafbehörden gehören neben den Gerichten (Art. 13 StPO) die Strafverfolgungsbehörden, darunter die Organe der Staatsanwaltschaft (Art. 12 lit. b StPO). Von den in Art. 56 lit. a-e StPO geregelten besonderen Ausstandsgründen abgesehen, tritt ein Staatsanwalt oder eine Staatsanwältin in den Ausstand, wenn er oder sie "aus anderen Gründen, insbesondere wegen Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand, befangen sein könnte" (Art. 56 lit. f StPO).
| 13 |
3.2. Nach der bundesgerichtlichen Praxis sind pauschale Ausstandsgesuche gegen eine Behörde als Ganzes grundsätzlich nicht zulässig. Ausstandsgesuche haben sich auf einzelne Mitglieder der Behörde zu beziehen und die gesuchstellende Person hat eine persönliche Befangenheit der betreffenden Personen aufgrund von Tatsachen konkret glaubhaft zu machen (Art. 58 Abs. 1 StPO). Das Gesetz spricht denn auch (ausschliesslich und konsequent) von Ausstandsgesuchen gegenüber "einer in einer Strafbehörde tätigen Person" (vgl. Art. 56-60 StPO). Ein formal gegen eine Gesamtbehörde gerichtetes Ersuchen kann jedoch unter Umständen als Ausstandsbegehren gegen alle Einzelmitglieder der Behörde entgegengenommen werden (Urteile 1B_97/2017 vom 7. Juni 2017 E. 3.2; 2C_1124/2015 vom 31. März 2017 E. 4.2; 2C_831/2011 vom 30. Dezember 2011 E. 3.1).
| 14 |
3.3. Der Beschwerdeführer beantragt zwar formell die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Anweisung an die Vorinstanz, einen ausserkantonalen Staatsanwalt einzusetzen. Aus der Beschwerdebegründung geht jedoch hervor, dass er in einem ersten Schritt den Ausstand der gesamten Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt. Der Einsatz eines ausserkantonalen Staatsanwalts oder einer ausserkantonalen Staatsanwältin würde in einem zweiten Schritt, nach der Gutheissung des Ausstandsgesuchs, folgen (vgl. § 7 Abs. 4bis lit. b EG StPO/AG).
| 15 |
Das Gesuch des Beschwerdeführers richtet sich somit formell gegen eine Gesamtbehörde und ist grundsätzlich nicht zulässig.
| 16 |
3.4. Auch wenn das Begehren als Ausstandsgesuch gegen alle Einzelmitglieder der Staatsanwaltschaft Aargau entgegenzunehmen wäre, könnte es nicht gutgeheissen werden.
| 17 |
Der Beschwerdeführer behauptet zwar, die Mitglieder der Kantonspolizei Aargau würden tagtäglich eng mit der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau zusammenarbeiten und es bestehe ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Behörden. Zudem fänden regelmässige Treffen zwischen der Sondereinheit Argus und den Staatsanwaltschaften des Kantons Aargau statt. Aus dem Umstand allein, dass sich sowohl die Angehörigen der Kantonspolizei und wie auch jene der Staatsanwaltschaft der Strafverfolgung widmen und dabei zusammenarbeiten, kann jedoch nicht generell auf eine gegenseitige Befangenheit geschlossen werden (Urteile 1B_405/2014 vom 12. Mai 2015 E. 6.4; 1B_263/2009 vom 11. Dezember 2009 E. 3.2). Der Beschwerdeführer hätte konkrete Umstände vorbringen müssen, die auf eine Voreingenommenheit sämtlicher Mitglieder der Staatsanwaltschaft schliessen lassen würden, was er jedoch nicht tat.
| 18 |
Auch die vom Beschwerdeführer aufgeführten historischen - von der Oberstaatsanwaltschaft jedoch bestrittenen - Gründe für eine institutionelle Befangenheit vermögen nicht zu überzeugen: aus dem Umstand, dass einige aktuelle Staatsanwälte und Staatsanwältinnen vor Einführung der StPO angeblich Kantonspolizisten und Kantonspolizistinnen waren, folgt nicht, dass jegliche Mitglieder der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau im vorliegenden Fall befangen sind.
| 19 |
3.5. Die Abweisung des vorliegenden Ausstandsgesuchs gegen die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau schliesst nicht aus, dass der Beschwerdeführer den Ausstand der fallführenden Mitglieder der Staatsanwaltschaft beantragen kann, sobald diese bestimmt sind. Wollte er von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, müsste er aufzeigen, dass diese durch ihre besondere Nähe zu den involvierten Polizeioffizieren befangen sein könnten.
| 20 |
Erwägung 4 | |
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
| 21 |
Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
| 22 |
Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
| |
2. Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
| |
3. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
| |
Lausanne, 31. Januar 2020
| |
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
| |
des Schweizerischen Bundesgerichts
| |
Der Präsident: Chaix
| |
Die Gerichtsschreiberin: Hänni
| |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |