BGer 9C_550/2019 | |||
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BGer 9C_550/2019 vom 19.02.2020 |
9C_550/2019 |
Urteil vom 19. Februar 2020 |
II. sozialrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichter Parrino, Präsident,
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Bundesrichter Stadelmann, Bundesrichterin Glanzmann,
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Gerichtsschreiber Williner.
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Verfahrensbeteiligte | |
A.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Gehrig,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 20. August 2019
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(200 19 123 IV).
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Sachverhalt: | |
A. Die 1961 geborene A.________, zuletzt als Monteurin in der Uhrenindustrie tätig, meldete sich erstmals im Juni 2016 wegen den Folgen einer im Juli 2015 erlittenen Radiusfraktur bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Bern (nachfolgend: IV-Stelle) veranlasste verschiedene medizinische und erwerbliche Abklärungen. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren wies sie das Leistungsbegehren mit Verfügung vom 8. Juni 2017 erstmals ab.
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Am 7. Februar 2018 meldete sich A.________ erneut zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle veranlasste eine bidisziplinäre Begutachtung bei den Dres. med. B.________, FMH Rheumatologie/Allgemeine Innere Medizin, und med. C.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie (Expertisen vom 22. und 24. Oktober 2018). Gestützt darauf wies sie das Leistungsbegehren nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren erneut ab (Verfügung vom 18. Januar 2019).
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 20. August 2019 ab.
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C. A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, es sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und ihr rückwirkend, seit wann rechtens eine Invalidenrente in gesetzlicher Höhe auszurichten; eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz, subeventualiter an die IV-Stelle zurückzuweisen.
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Erwägungen: | |
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen). Stützt sich der angefochtene Entscheid auf mehrere selbstständige Begründungen bzw. eine Haupt- und eine Eventualbegründung, die je für sich für den Ausgang des Rechtsstreits entscheidend sind, müssen sämtliche Begründungen ausreichend substanziiert angefochten werden (BGE 133 IV 119 E. 6.3 S. 120 f. mit Hinweisen; Urteil 9C_364/2018 vom 25. Oktober 2018 E. 1; LAURENT MERZ, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2018, N. 73 zu Art. 42 BGG).
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Erwägung 2 | |
2.1. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG; unechte Noven), was in der Beschwerde näher darzulegen ist (BGE 133 III 393 E. 3 S. 395). Der vorinstanzliche Verfahrensausgang allein bildet noch keinen hinreichenden Anlass im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG für die Zulässigkeit von unechten Noven, die bereits im kantonalen Verfahren ohne Weiteres hätten vorgebracht werden können. Tatsachen, die sich erst nach dem angefochtenen Entscheid ereigneten oder Urkunden, die erst nach diesem entstanden sind, können als echte Noven vom Bundesgericht nicht berücksichtigt werden (zum Ganzen: BGE 143 V 19 E. 1.2 S. 22 f. mit Hinweisen).
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2.2. Die von der Beschwerdeführerin neu eingereichte Expertise des Dr. med. D.________, Chefarzt Orthopädie/Handchirurgie der Klinik E.________, datiert vom 15. Februar 2019 und damit vor dem angefochtenen Entscheid. Entgegen der Beschwerde handelt es sich somit um kein (zum vornherein unbeachtliches) echtes Novum. Die Expertise hat indessen auch als unechtes Novum unbeachtet zu bleiben. So waren der Beweiswert der bidisziplinären Expertise B.________/ C.________, der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin sowie die Frage der Verwertbarkeit ihrer Restarbeitsfähigkeit bereits im vorinstanzlichen Verfahren zentrales Thema (vgl. Beschwerdeschrift vom 13. Februar 2019), womit entgegen der Beschwerde nicht erst der angefochtene Entscheid zum Vorbringen des neuen Beweismittels Anlass gegeben hat. Die Beschwerdeführerin begründet auch nicht, weshalb sie die Expertise des Dr. med. D.________ nicht bereits im kantonalen Verfahren hätte einreichen können. Ungenügend ist in diesem Zusammenhang jedenfalls der blosse Hinweis, das Gutachten datierte nach ihrer beim kantonalen Gericht eingereichten Beschwerdeschrift.
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3. Die gerügte Gehörsverletzung begründet die Beschwerdeführerin weitgehend mit Darlegungen, weshalb die Verwaltung eine solche begangen haben soll. Darauf ist nicht näher einzugehen: Nicht das Verhalten oder die Verfügung der IV-Stelle, sondern der kantonale Entscheid vom 20. August 2019 bildet Anfechtungsobjekt des bundesgerichtlichen Verfahrens (vgl. Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG). Selbst wenn davon ausgegangen würde, es liege gegenüber der Vorinstanz eine den Anforderungen von Art. 106 Abs. 2 BGG genügende Rüge der Gehörsverletzung vor, könnte die Beschwerdeführerin daraus nichts zu ihren Gunsten ableiten. Wie die Vorinstanz richtig erwogen hat, erfordert die aus dem Gehörsanspruch (Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 42 Satz 1 ATSG) abgeleitete Begründungspflicht (vgl. Art. 49 Abs. 3 ATSG) nicht, dass sich die Verwaltung mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt. Vielmehr darf sich die Begründung auf die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken, so dass dieser sachbezogen angefochten werden kann (BGE 126 I 97 E. 2b S. 102 f.; 124 V 180 E. 1a S. 181). Diesen Anforderungen genügt die Verfügung vom 18. Januar 2019. Insbesondere geht hervor, dass sich die Verwaltung auf die Expertise B.________/C.________ und die darin attestierte Arbeitsfähigkeit von 90 % in angestammter Tätigkeit stützte. Es kann somit keine Rede davon sein, es sei nicht erkennbar, auf welcher medizinischen Grundlage die Verfügung fusse. Unzutreffend ist des Weiteren die Behauptung, es fehle an einer Auseinandersetzung mit den im Rahmen des Vorbescheidverfahrens am 14. Januar 2019 geäusserten Einwänden; diese seien in der Verfügung lediglich wiederholt worden. Eine solche Auseinandersetzung fand unter Bezugnahme auf die gutachterlichen Ausführungen durchaus statt. Gestützt darauf war es der Beschwerdeführerin denn auch möglich, die Verfügung sachgerecht anzufechten. Die Vorinstanz hat demnach zu Recht festgehalten, eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liege nicht vor.
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4. Die Vorinstanz mass der Expertise B.________/C.________ Beweiswert zu. Sie bejahte einen Revisionsgrund und stellte fest, die Beschwerdeführerin sei in angestammter Tätigkeit zu 90 %, in angepasster zu 100 % arbeitsfähig. Folglich sei sie nicht im Sinne von Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG während eines Jahres durchschnittlich zu 40 % arbeitsunfähig gewesen, womit es an einer rentenbegründenden Erwerbsunfähigkeit fehle. Selbst wenn ein Einkommensvergleich vorgenommen würde, wobei das Valideneinkommen anhand des zuletzt tatsächlich erzielten Einkommens und das Invalideneinkommen anhand der LSE-Tabellen (90 %-Pensum im Wirtschaftszweig 26) zu ermitteln sei, resultierte daraus ein rentenausschliessender Invaliditätsgrad von 20 %.
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Was in der Beschwerde dagegen vorgebracht wird, verfängt nicht:
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4.1. Die Beschwerdeführerin rügt, die Expertise B.________/ C.________ sei nicht lege artis erstellt worden, weil zum einen der Rheumatologe nicht nachvollziehbar begründet habe, weshalb die Rhizarthrose die Arbeitsfähigkeit in angestammter Tätigkeit nur zu 10 % einschränken solle. Zum anderen sei den Gutachtern das Stellenprofil in angestammter Tätigkeit gar nicht bekannt gewesen. Diese Kritik geht fehl: Dr. med. B.________ stellte bezüglich angestammter Tätigkeit zwar fest, die Akten enthielten kein detailliertes Stellenprofil. Er erhob in der Folge aber selber eine Arbeitsanamnese und beschrieb ein Stellenprofil. Dass dieses unzutreffend wäre, ist weder ersichtlich noch geltend gemacht. Konkret führte Dr. med. B.________ aus, die Beschwerdeführerin habe im Rahmen einer rein sitzenden Tätigkeit Kleinteile mit Hilfe einer Lupe und einer Pinzette montieren und hernach optisch kontrollieren müssen, wobei sie mit beiden Händen immer wieder repetitive gleiche Bewegungen im Sinne einer Drehbewegung des Vorderarms respektive der Hand von innen nach aussen habe tätigen müssen. Mit eben diesen Drehbewegungen beziehungsweise mit der daraus resultierenden Schmerzsituation begründete der Rheumatologe die 10 %-ige Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in angestammter Tätigkeit. Gleichzeitig verneinte er eine gleichmässige Einschränkung der Aktivitätsniveaus in allen Lebensbereichen und zeigte plausibel auf, dass seine Einschätzung der Arbeitsfähigkeit mit dem von der Beschwerdeführerin beschriebenen Tagesablauf beziehungsweise mit ihren Alltagsaktivitäten korreliere. Damit hat Dr. med. B.________ nachvollziehbar dargelegt, weshalb die von ihm als diskret bezeichnete Rhizarthrose (bei klinisch praktisch blandem Befund) die Arbeitsfähigkeit in angestammter Tätigkeit nur leicht (zu 10 %) einschränkt. Daran ändert die in der Expertise beschriebene erhebliche subjektive Krankheitsüberzeugung der Beschwerdeführerin nichts. Die gutachterliche Einschätzung überzeugt auch mit Blick auf das Attest einer vollständigen Arbeitsfähigkeit in angepasster Tätigkeit, wogegen die Beschwerdeführerin im Übrigen nichts vorbringt.
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4.2. Die Beschwerdeführerin wendet weiter ein, die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit von Dr. med. B.________ weiche von "allen übrigen aktenkundigen ärztlichen Beurteilungen" ab. Abgesehen davon, dass sich ein Administrativgutachten nicht einzig mit blossen Hinweisen auf abweichende Einschätzungen behandelnder Ärzte in Zweifel ziehen liesse (vgl. dazu SVR 2017 IV Nr. 49 S. 148, 9C_338/2015 E. 5.5), geht aus der Beschwerde nicht hervor, auf welche Berichte sich die Beschwerdeführerin konkret beruft. Auf derlei unbegründete Kritik ist nicht näher einzugehen. Soweit die Beschwerdeführerin an anderer Stelle zumindest Bezug nimmt auf einen Bericht des Dr. med. F.________, FMH Handchirurgie, vom 17. Februar 2016, kann sie daraus nichts zu ihren Gunsten ableiten. Entgegen der Beschwerde handelt es sich bei Dr. med. F.________ nicht um einen Suva-Kreisarzt, sondern um den Operateur. Dieser beschrieb im Bericht vom 17. Februar 2016 einen bezüglich Knochenheilung problemlosen Verlauf nach erfolgter Operation im Juli 2015. Eine abschliessende Einschätzung der Arbeitsfähigkeit nahm er nicht vor. Vielmehr beschrieb er die schmerzbedingten Schwierigkeiten der Beschwerdeführerin, ihr Arbeitspensum im postoperativen Verlauf auf über 50 % zu steigern. Mit Verweis auf eine längere persönliche Abwesenheit bat er den Suva-Kreisarzt um weitere Prüfung des Falles, Übernahme der Behandlung sowie Durchführung allfälliger weiterer (insbesondere rheumatologischer) Abklärungen. Inwiefern dieser Bericht Zweifel an der über zweieinhalb Jahre später erstellten Expertise B.________/ C.________ begründen sollte, ist weder ersichtlich noch in der Beschwerde dargetan. Nichts anderes gilt in Bezug auf die darin ebenfalls erwähnte regionalärztliche Stellungnahme vom 13. April 2017. Beide Berichte hatten im Übrigen bereits im Zeitpunkt der rentenablehnenden Verfügung vom 8. Juni 2017 vorgelegen.
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4.3. Ob sich der angefochtene Entscheid auf eine Haupt- (mangels Erfüllung des Wartejahres bestehe keine rentenbegründende Erwerbsunfähigkeit) und eine Eventualbegründung (ein Einkommensvergleich würde zu keinem anderen Resultat führen) stützt und ob gegebenenfalls beide Begründungsstränge hinreichend angefochten sind (vgl. dazu E. 1 hievor), kann mit Blick auf das klare und überzeugende Ergebnis des Einkommensvergleichs (Invaliditätsgrad 20 %) offen bleiben. Insoweit die Beschwerdeführerin dagegen vorbringt, es liege zufolge fehlender Verwertbarkeit ihrer Resterwerbsfähigkeit eine vollständige Invalidität im Sinne von Art. 8 Abs. 1 ATSG vor, kann ihr nicht gefolgt werden. Nicht stichhaltig ist bereits der Einwand, massgebend für die Beurteilung der Zumutbarkeit sei der Zeitpunkt der Verfügung vom 18. Januar 2019. Mit dem kantonalen Gericht ist gestützt auf die Rechtsprechung (BGE 138 V 457 E. 3.3 S. 462) auf den Zeitpunkt der Erstattung der bidisziplinären Expertise vom Oktober 2018 abzustellen. Damit ist von einer verbleibenden Aktivitätsdauer von rund 7 Jahren auszugehen. Eine solche reicht gemäss Rechtsprechung grundsätzlich aus, um die Restarbeitsfähigkeit zu verwerten (Urteil 9C_549/2018 vom 20. Februar 2019 E. 4.2 mit Hinweis). Dies gilt hier umso mehr, als die Beschwerdeführerin in angestammter Tätigkeit beinahe vollständig arbeitsfähig und entsprechend von keiner oder nur einer geringen Einarbeitungszeit auszugehen ist. Darüber hinaus sind der Beschwerdeführerin angepasste Tätigkeiten (mit Belastung der linken Hand nur in einem körperlich leichten Bereich, ohne repetitive Umwendebewegungen) uneingeschränkt zumutbar. Mit der Vorinstanz bleibt deshalb festzuhalten, dass der Beschwerdeführerin insgesamt ein breiter Fächer an möglichen Tätigkeiten offen steht. Hilfsarbeiten wie die hier in Frage stehenden erfordern zudem weder (gute) Kenntnisse der deutschen Sprache noch eine Ausbildung (vgl. Urteil 9C_898/2017 vom 25. Oktober 2018 E. 3.4 mit Hinweis). Es ist demnach nicht bundesrechtswidrig, dass die Vorinstanz die Zumutbarkeit der Verwertung der Restarbeitsfähigkeit bejaht hat.
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Im Übrigen ist der vorinstanzliche Einkommensvergleich unbestritten. Weiterungen dazu erübrigen sich.
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5. Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die unterliegende Beschwerdeführerin hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
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3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 19. Februar 2020
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Parrino
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Der Gerichtsschreiber: Williner
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