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Informationen zum Dokument  BGer 9C_232/2020  Materielle Begründung
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BGer 9C_232/2020 vom 17.07.2020
 
 
9C_232/2020
 
 
Urteil vom 17. Juli 2020
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiberin Oswald.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Rémy Wyssmann,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
1.  IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
2.  Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (vorinstanzliches Verfahren; Prozessvoraussetzung; Ausstand),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 10. März 2020 (VBE.2020.71).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. Der 1968 geborene A.________ meldete sich im März 2011 erstmals wegen unfallbedingter Handbeschwerden bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug. Die IV-Stelle des Kantons Aargau (fortan: IV-Stelle) wies das Leistungsbegehren betreffend berufliche Massnahmen ab (Verfügung vom 17. August 2011). Im August 2013 meldete sich der Versicherte erneut zum Leistungsbezug an. Die Verwaltung gewährte Frühinterventionsmassnahmen. Mit Verfügung vom 2. Februar 2018 verneinte sie einen Anspruch auf berufliche Massnahmen bzw. Arbeitsvermittlung und gewährte am 16. August 2018 für die Zeit vom 1. März 2014 bis 31. Dezember 2015 eine befristete ganze Rente. Auf Beschwerde hin hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Verfügungen vom 2. Februar und 16. August 2018 auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung des medizinischen Sachverhalts und anschliessender Neuverfügung an die IV-Stelle zurück (Entscheide vom 21. Januar 2019).
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A.b. Die Verwaltung traf in der Folge weitere medizinische Abklärungen und ordnete eine polydisziplinäre Begutachtung an (Mitteilung vom 8. November 2019). Der Begutachtungsauftrag in den Disziplinen Allgemeine Innere Medizin, Kardiologie, Orthopädie, Psychiatrie und Nephrologie wurde durch das SuisseMED@P-System der Gutachterstelle Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH, Basel (fortan: ABI) zugeteilt, was dem Versicherten am 18. Dezember 2019 unter Nennung der vorgesehenen einzelnen Expertinnen und Experten mitgeteilt wurde. A.________ stellte am 6. Januar 2020 ein Ausstandsbegehren "gegen die ABI-Gutachterstelle" mit dem Antrag "Sämtliche Gutachter der ABI-Gutachterstelle seien im Falle der Begutachtung des Versicherten infolge erweckten Anscheins der fehlenden Ergebnisoffenheit - nach erfolgter Konfrontation mit den Vorwürfen des Versicherten und entsprechender schriftlicher Stellungnahme - von Amtes wegen in den Ausstand zu versetzen und durch andere Gutachter zu ersetzen." Seinen Antrag begründete er damit, aufgrund der ihm vorliegenden ABI-Gutachten zuhanden der IV-Stelle Solothurn der Jahre 2012 bis 2014 habe die "Wahrscheinlichkeit beim ABI mit einem rentenrelevanten Leistungsantrag durchzudringen" ca. 12.3 % betragen, während diese Wahrscheinlichkeit 2014 bei der MEDAS Zentralschweiz mindestens 44 % betragen habe. Dies stelle die Objektivität der Beurteilungen der ABI in Frage. Die IV-Stelle verfügte am 17. Januar 2020, es werde an der vorgesehenen Begutachtung inklusive Durchführungsstelle festgehalten.
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B. Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau am 10. März 2020 ab.
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C. Der Versicherte führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Er beantragt, es sei der vorinstanzliche Entscheid vom 10. März 2020 aufzuheben und die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen "damit es die nötigen Weiterungen in anderer Zusammensetzung veranlasse und insbesondere die Frage nach der Ergebnisoffenheit der ABI-Gutachter kläre, indem es bei den betroffenen Gutachtern aktuelle Zahlen und Stellungnahmen nach Art. 49 Abs. 2 ZPO einhole".
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Erwägungen:
 
 
1.
 
1.1. Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren) Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 145 V 380 E. 1 S. 382 mit Hinweis).
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1.2. Der Entscheid des Versicherungsgerichts vom 10. März 2020 betrifft allein die Anordnung einer polydisziplinären Begutachtung bei der ABI durch die IV-Stelle, wobei Streitgegenstand die Ergebnisoffenheit der ABI bzw. ihrer sämtlicher Gutachter bildete. Es handelt sich demnach um einen das Verfahren nicht abschliessenden Zwischenentscheid. Dieser ist selbständig anfechtbar, soweit er die Ausstandspflicht einer sachverständigen Person betrifft (Art. 92 BGG; BGE 138 V 271 E. 2.2.1 i.f. S. 277; vgl. dazu fallbezogen unten E. 4).
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2.
 
2.1. Der Beschwerdeführer rügt, durch Indizien (auffallend hohe Zahl "ablehnender" Gutachten) sei der Anschein geweckt worden, es würden sämtliche Gutachter der ABI nicht ergebnisoffen begutachten. Das kantonale Gericht habe den diesbezüglichen Sachverhalt in Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes nicht abgeklärt. Ausserdem hätten die Mitglieder der Vorinstanz selbst den Anschein der Befangenheit erweckt, indem sie seinem Rechtsvertreter eine Kostenauflage angedroht hätten, falls er abermals den Rügegrund der fehlenden Ergebnisoffenheit sämtlicher ABI-Gutachter vortrage.
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2.2. Rechtsbegehren sind nach Treu und Glauben auszulegen, insbesondere im Lichte der dazu gegebenen Begründung (vgl. statt vieler 9C_813/2019 vom 20. Mai 2020 E. 1.2). Der Beschwerdeführer verlangt in seinen formellen Anträgen (Sachverhalt lit. C hiervor) den Ausstand der am vorinstanzlichen Entscheid mitwirkenden Gerichtsmitglieder lediglich für den Falle einer Rückweisung zur weiteren Abklärung. Aus der Beschwerdebegründung erhellt indes, dass er so oder anders die Aufhebung des angefochtenen Entscheids zufolge mangelnder Ergebnisoffenheit des Spruchkörpers begehrt. Darauf ist vorab einzugehen.
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3. Soweit er eine Befangenheit sämtlicher Mitglieder der Vorinstanz (gemeint wohl: sämtlicher Mitglieder des Spruchkörpers) geltend macht, beschränkt sich der Versicherte darauf, die Rechtsauffassung des kantonalen Gerichts zu kritisieren, das seinem Rechtsvertreter - implizit: wegen mutwilliger Prozessführung - Kostenfolgen androhte, falls er weiterhin Ausstandsbegehren gegen eine ganze Gutachterstelle erhebe. Wie es sich damit verhält, ist nicht im vorliegenden Verfahren zu beurteilen, sondern gegebenenfalls auf Beschwerde des betroffenen Rechtsanwaltes hin bei einer Kostenauflage in späteren Verfahren. Die vom Beschwerdeführer abweichende Rechtsauffassung diesbezüglich lässt jedenfalls nicht sämtliche Mitglieder des vorinstanzlichen Spruchkörpers als befangen erscheinen. Anhaltspunkte dafür, dass sich diese bei ihrem Entscheid von sachfremden Motiven hätten leiten lassen oder es ihnen zum Vornherein an Ergebnisoffenheit gemangelt hätte, vermag der Versicherte nicht darzutun und sind auch nicht ersichtlich, insbesondere nicht aus der - sachlich formulierten - vorinstanzlichen Erwägung 3.2.3 zur Androhung von Kostenfolgen.
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4. Es bleibt zu prüfen, ob auf das Rechtsmittel im Übrigen gestützt auf Art. 92 BGG einzutreten ist (vgl. oben E. 1.2).
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4.1. Ausstandsbegehren können sich nicht nur gegen einzelne Gerichtspersonen oder Sachverständige, sondern auch gegen sämtliche Mitglieder eines Gerichts oder einer Gutachtensstelle richten (etwa: Urteile 2C_110/2019 vom 9. Dezember 2019 E. 5.3 mit Hinweisen; 9C_810/2014 vom 1. Dezember 2014 E. 1.2). Dies setzt jedoch voraus, dass gegen jedes einzelne Mitglied spezifische Ausstandsgründe geltend gemacht werden, die über die Kritik hinausgehen, die Behörde oder Gutachterstelle als solche sei befangen. Pauschale Ausstandsbegehren sind unzulässig (statt vieler: zit. Urteil 9C_810/2014 vom 1. Dezember 2014, a.a.O.; Urteil 9C_773/2018 vom 3. April 2019 E. 4.4, je mit Hinweisen). Einwendungen gegen Gutachterpersonen, die sich nicht aus den konkreten Verhältnissen des Einzelfalls ergeben, zielen nicht auf einen personenbezogenen Ablehnungsgrund. Hierzu gehören Rügen hinsichtlich mangelnder Ergebnisoffenheit der Gutachterstelle, die einzig in einem Vortragen negativer Erfahrungen mit einer bestimmten Abklärungsstelle bestehen sowie in der Behauptung, in deren angeblichen Fehlleistungen manifestierten sich systemimmanente Gefährdungen der Verfahrensfairness. Sie führen nicht zur bundesgerichtlichen Befassung mit einem Zwischenentscheid über die Gutachtensanordnung (vgl. BGE 138 V 271 E. 2.2.2 S. 277 und E. 4 S. 280; Urteile 8C_106/2017 vom 12. April 2017 E. 1; 8C_862/2017 vom 23. April 2018 E. 2.2).
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4.1.1. Die Vorinstanz erwog, beim Ausstandsbegehren des Beschwerdeführers handle es sich - trotz vordergründig anderslautender Formulierung - im Ergebnis um ein unzulässiges Ausstandsbegehren gegen die ABI als Gutachterstelle, zumal eine persönliche Befangenheit der einzelnen konkret zugewiesenen Gutachterinnen und Gutachter weder geltend gemacht noch ersichtlich sei.
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4.1.2. Der Versicherte macht im Wesentlichen geltend, das kantonale Gericht habe weder die neuen Erkenntnisse aus BGE 144 I 170 berücksichtigt, noch habe es sich mit den von ihm substanziiert vorgebrachten Anscheinsindizien hinsichtlich einer Befangenheit sämtlicher Gutachter des ABI (auffallend hohe Zahl "ablehnender" Gutachten, vgl. oben E. 2.1) inhaltlich auseinandergesetzt, was seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK) verletze.
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4.1.3. Das zitierte Urteil betraf ein Dokumentenzugangsgesuch. Ausdrücklich offen gelassen wurde, ob allfällige gutachterliche Tendenzen, Arbeitsunfähigkeit eher zurückhaltend oder grosszügig anzuerkennen, aussagekräftig seien und ob sich daraus auch rechtliche Folgerungen ziehen liessen. Diese Frage sei erst im einzelnen Leistungsverfahren definitiv zu beantworten (BGE 144 I 170 E. 7.6 S. 176). Welche neuen Erkenntnisse sich hinsichtlich des Ausstandes von Sachverständigen aus BGE 144 I 170 ergeben sollten, die das kantonale Gericht nicht berücksichtigt hätte und die anscheinsweise eine Befangenheit sämtlicher Gutachter der ABI zu begründen vermöchten, legt der Beschwerdeführer weder sachbezogen dar, noch ist es ersichtlich. Dies gilt umso mehr, als nicht erstmals als Folge von BGE 144 I 170 Datenmaterial zu den Arbeitsfähigkeitsschätzungen einzelner Gutachterstellen erhältlich ist (vgl. nur zit. Urteil 8C_106/2017 E. 2, worin die Beschwerdeführerin gestützt auf Vergleichsdaten aus dem SuisseMED@P Reporting des Jahres 2014 eine Befangenheit der Gutachterstelle PMEDA geltend machte). Es besteht damit kein Anlass zur Abkehr von der Rechtsprechung, wonach auf Ausstandsbegehren, mit denen einzig die Rüge überdurchschnittlich strenger Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen durch gewisse Experten erhoben wird, nicht einzutreten ist (vgl. etwa SVR 2016 IV Nr. 8 S. 23, Urteil 8C_599/2014 vom 18. Dezember 2015 E. 6.5 zit. Urteil 8C_106/2017 E. 3.1; Urteil 8C_25/2020 vom 22. April 2020 E. 5.1.2.2). Sie leuchtet nicht zuletzt mit Blick darauf ein, dass die medizinische Folgenabschätzung gerichtsnotorisch eine hohe Variabilität aufweist, die unausweichlich Ermessenszüge trägt (BGE 145 V 361 E. 4.1.2 S. 365 mit Hinweisen).
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4.2. Zusammengefasst hat der Beschwerdeführer nicht ansatzweise Anhaltspunkte für eine Befangenheit der konkret zur Begutachtung vorgesehenen Expertinnen und Experten aufgezeigt. Weder substanziiert geltend gemacht noch ersichtlich ist sodann, dass aktuell Unregelmässigkeiten vorliegen würden, aufgrund derer ausnahmsweise eine ergebnisoffene Begutachtung durch die ABI generell in Frage gestellt wäre (vgl. als Beispiel für Unregelmässigkeiten dieser Art BGE 144 V 258 E. 2.3.2 S. 262 f.). Solche vermag der Beschwerdeführer jedenfalls nicht mit Verweis auf eine über ein Jahrzehnt zurückliegende frühere Praxis eines Gutachters des ABI, die Gesamtbeurteilung nicht mit den beteiligten Fachgutachtern abzusprechen, darzutun, wie sie aus dem von ihm zitierten Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts C-3255/2007 vom 15. Dezember 2009 (vgl. dort E. 6.6.1) erhellt, zumal dieser noch vor BGE 137 V 210 erging (zur in Letzterem enthaltenen Aufforderung, im Sinne institutsinterner Kontrollmechanismen etwa die Mitwirkung der Konsiliarsachverständigen im Rahmen der Formulierung der gutachterlichen Schlussfolgerungen vorzusehen vgl. E. 3.3.2 S. 245 unten). Auf die Beschwerde ist demnach hinsichtlich der gerügten fehlenden Unabhängigkeit sämtlicher ABI-Gutachter nicht einzutreten.
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5. Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Der unterliegende Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 17. Juli 2020
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Oswald
 
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