VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 8C_396/2020  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 25.08.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 8C_396/2020 vom 30.07.2020
 
 
8C_396/2020
 
 
Urteil vom 30. Juli 2020
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiberin Durizzo.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. André Largier,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente, Revision),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 11. Mai 2020 (IV.2019.00070).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. A.________, geboren 1974, klagte nach einem Sturz auf Glatteis am 10. Januar 2005 über Bewusstseinsstörungen, die im Rahmen der Abklärungen des Unfallversicherers als wahrscheinliche Epilepsieanfälle interpretiert wurden. Im Juni 2008 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Ein weiterer (Auto-) Unfall ereignete sich am 19. Juli 2009. Die IV-Stelle des Kantons Zürich sprach ihm gestützt auf einen neurologisch-psychiatrischen Bericht des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD), Dr. med. B.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie, vom 30. März 2011 über die Untersuchung am 1. Juli 2010 ab 1. März 2009 eine ganze Invalidenrente zu (Invaliditätsgrad ab März 2009 100 %, ab 1. Juli 2010 77 %; Verfügung vom 16. Juni 2011).
1
A.b. Im Dezember 2011 leitete die IV-Stelle ein Revisionsverfahren ein. Die behandelnden Ärzte bestätigten einen weiterhin schlechten Gesundheitszustand. Zur gleichen Zeit ermittelte die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen A.________ wegen Provisionsbetrugs zum Nachteil verschiedener Lebensversicherer und in der Folge auch wegen Betrugs im Zusammenhang mit dem Bezug der Invalidenrente. Bezüglich dieses letzteren Vorwurfs wurde A.________ mit Urteil des Bezirksgerichts C.________ vom 20. Oktober 2016 freigesprochen. Die IV-Stelle sistierte die Auszahlung ihrer Rentenleistungen indessen mit Verfügung vom 2. Oktober 2015 per Ende September 2015 und holte ein Gutachten des Schweizerischen Zentrums für medizinische Abklärungen und Beratungen SMAB, Bern, vom 19. Januar 2018 mit Ergänzung vom 12. September 2018 ein. Mit Verfügung vom 14. Dezember 2018 hob sie den Rentenanspruch rückwirkend auf.
2
B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 11. Mai 2020 ab.
3
C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei ihm (insbesondere auch für die Zeit nach dem 1. Oktober 2015) eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.
4
Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.
5
 
Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).
6
2. Streitig ist, ob die vorinstanzliche Bestätigung der von der IV-Stelle am 14. Dezember 2018 verfügten prozessualen Revision der rentenzusprechenden Verfügung vom 16. Juni 2011 vor Bundesrecht standhält. Zur Frage steht dabei, ob die zu beachtende Revisionsfrist eingehalten wurde, insbesondere in welchem Zeitpunkt die IV-Stelle sichere Kenntnis über die revisionsbegründenden Tatsachen erlangte.
7
3. Das kantonale Gericht hat die Bestimmung von Art. 53 Abs. 1 ATSG über die prozessuale Revision wegen Entdeckung neuer Tatsachen oder Beweismittel und die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 143 V 105 E. 2.1 S. 106 f. und E. 2.3 S. 107 f.; 108 V 167 E. 2b S. 168; SVR 2012 UV Nr. 17 S. 63, 8C_434/2011 E. 7.1) zutreffend dargelegt. Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich der dabei zu beachtenden relativen 90-tägigen Revisionsfrist. Hervorzuheben ist, dass diese praxisgemäss zu laufen beginnt, sobald eine sichere Kenntnis über die neue erhebliche Tatsache oder das entscheidende Beweismittel vorhanden ist (BGE 143 V 105 E. 2.4 S. 108). Bei noch unvollständiger Kenntnis sind medizinische Abklärungen innert angemessener Frist anzuordnen (SVR 2012 UV Nr. 17 S. 63, 8C_434/2011 E. 4.2; Urteil 9C_555/2012 vom 25. Juli 2013 E. 2.3.2). Die neue Tatsache ist erheblich, wenn sie sich eignet, die tatbeständliche Grundlage der Verfügung zu verändern und bei zutreffender rechtlicher Würdigung zu einer andern Entscheidung zu führen (BGE 143 V 105 E. 2.3 S. 107 f.).
8
4. Das kantonale Gericht stellte fest, dass die Rentenzusprechung mit Verfügung vom 16. Juni 2011 aus psychiatrischen Gründen erfolgt sei. Die zusätzlich bestehende Epilepsie-Problematik habe immerhin die angestammte Tätigkeit als Galvaniseur sowie weitere gefährliche Tätigkeiten nicht mehr zugelassen. Angesichts der im Strafverfahren ans Licht gelangten neuen Tatsachen - Vermittlung von Versicherungsverträgen mit Provisionszahlungen zu Gunsten des Versicherten in der Höhe von Fr. 672'267.- in der Zeit vom 28. Oktober 2008 bis 4. Juni 2009 - sei die Annahme einer 70 %igen Arbeitsunfähigkeit durch den RAD anlässlich der Untersuchung vom 1. Juli 2010 geradezu abwegig gewesen. Damit lägen erhebliche neue Tatsachen vor, die eine prozessuale Revision rechtfertigten. Die 90-tägige Frist sei dabei eingehalten worden. Zufolge der Meldepflichtverletzung, so die Vorinstanz weiter, sei eine rückwirkende Aufhebung des Rentenanspruchs zulässig gewesen. Die Entstehung einer Rentenberechtigung (auch zu einem späteren Zeitpunkt) schloss sie gestützt auf das SMAB-Gutachten aus.
9
 
5.
 
5.1. Der Beschwerdeführer macht insbesondere geltend, dass die prozessuale Revision nicht rechtzeitig erfolgt und daher unzulässig sei. Er bringt vor, dass die IV-Stelle bereits seit dem Jahr 2012 informiert gewesen sei über die von ihm als Geschäftsinhaber geführte D.________ GmbH (durch ihn selber) und über das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren (aufgrund des Akteneinsichtsgesuchs der Staatsanwaltschaft).
10
5.1.1. Was zunächst seine eigenen Angaben vom 2. Februar 2012 im Revisionsverfahren betrifft, erzielte er mit der D.________ GmbH von Oktober 2008 bis April 2010 keine Einkünfte. Inwiefern der Bericht der Kantonspolizei E.________ vom 12. Oktober 2012 betreffend den Verdacht auf Erschleichen einer Invalidenrente oder deren Dokumentation vom 2. Juni 2014 über die weiteren Ermittlungen betreffend Provisionsbetrug eine hinreichende Basis für die weiter erforderlichen ärztlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit hätten bilden können, ist nicht erkennbar. Der um Stellungnahme angefragte RAD vermochte sich dazu denn auch im Juli 2014 noch nicht zu äussern. Gleiches gilt hinsichtlich der von der IV-Stelle im August 2015 getätigten Internetrecherche. Aus dem Umstand, dass die IV-Stelle gestützt auf die dadurch gewonnenen Anhaltspunkte mit Verfügung vom 2. Oktober 2015 die Auszahlung ihrer Rentenleistungen sistierte, kann der Beschwerdeführer bezüglich der Einhaltung der Revisionsfrist ebenfalls nichts zu seinen Gunsten ableiten. Auch lässt sich nicht ersehen, inwiefern die der IV-Stelle in der Folge zugestellten Protokolle der Einvernahmen des Beschwerdeführers durch die Staatsanwaltschaft weiter aufschlussreich hätten sein können. Dieser beschränkte sich dort im Wesentlichen darauf anzugeben, dass er sich an die ihm vorgehaltenen Vorkommnisse nicht erinnern könne beziehungsweise nichts darüber wisse. Sein als Zeuge befragter behandelnder Arzt vermochte sich die Diskrepanzen zwischen den bei ihm vorgebrachten gesundheitlichen Klagen und dem im Strafverfahren ans Licht gekommenen Aktivitätsniveau nicht zu erklären.
11
5.1.2. Inwiefern die Vorinstanz Bundesrecht verletzt haben sollte, indem sie die Anordnung medizinischer Abklärungen erst nach dem Vorliegen des Strafurteils des Bezirksgerichts C.________ vom 20. Oktober 2016 unbeanstandet liess, ist unter den gegebenen Umständen somit nicht zu erkennen. Insbesondere lagen entgegen den Einwänden des Beschwerdeführers erst damit verwertbare Erkenntnisse zu dem auch die IV-Stelle interessierenden Sachverhalt vor. Gegen dieses Urteil wurden indessen Berufung und Anschlussberufung erhoben. Es ist nicht zu beanstanden, dass gemäss Vorinstanz nach der Erstattung des Gutachtens vom 19. Januar 2018 zusätzlich noch die Rechtskraft des Strafurteils mit Abschreibungsbeschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 19. April 2018 (nach Rückzug der Berufung durch den Beschwerdeführer) abgewartet werden durfte. Gleiches gilt insoweit, als ihrer Auffassung nach zudem zu berücksichtigen war, dass erst im Anschluss daran noch eine ergänzende Stellungnahme der SMAB-Gutachter nachgefordert wurde. Diese Rückfrage sei unter Beachtung des Fristenstillstandes im Sommer 2018 gemäss Art. 38 Abs. 4 lit. b ATSG noch rechtzeitig, das heisst innert angemessener Frist erfolgt. Insgesamt sei mit der Ankündigung der Rentenaufhebung im Vorbescheid vom 12. Oktober 2018, zwei Monate nach Eingang der Ergänzung des Gutachtens durch die SMAB-Ärzte, die für die prozessuale Revision zu beachtende 90-tägige Frist eingehalten worden. Nach dem kantonalen Gericht war dabei im Ergebnis auch in Betracht zu ziehen, dass selbst eine Einleitung der medizinischen Abklärungen erst nach Vorliegen des rechtskräftigen Strafurteils zulässig gewesen wäre. Eine Verletzung der bundesrechtlichen Regeln über die bei Anhaltspunkten für neue erhebliche Tatsachen innert angemessener Frist einzuleitenden medizinischen Abklärungen und die nach sicherer Kenntnis zu beachtende 90-tägige Revisionsfrist ist nicht erkennbar.
12
5.2. Inwiefern die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen und Schlussfolgerungen zur Erheblichkeit der neu entdeckten Tatsachen offensichtlich unrichtig beziehungsweise bundesrechtswidrig wären, ist ebenfalls nicht erkennbar. Im Einzelnen fiel für das kantonale Gericht diesbezüglich insbesondere in Betracht, dass die im Strafverfahren erkannte deliktische, sehr lukrative Tätigkeit im Rahmen der Vermittlung fingierter Versicherungsverträge unter Akquirierung einer grossen Kundschaft, verbunden mit entsprechender Reisetätigkeit, nicht zu vereinbaren sei mit den beim RAD im Juli 2010 geklagten Beschwerden über eine gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Hoffnungslosigkeit, Antriebsverminderung, erhöhte Ermüdbarkeit, Konzentrationsstörungen sowie dem sozialen Rückzug und der dort wegen entsprechender Insuffizienz im Alltagsleben attestierten 70%igen Arbeitsunfähigkeit. Der Einwand, das kantonale Gericht habe bei seiner Beurteilung der Revisionsvoraussetzungen zu Unrecht Freizeitaktivitäten wie den Abschluss eines Fitnessabonnements oder private Reisen ins Ausland als massgeblich erachtet, ist unbehelflich. Dass die Vorinstanz die Revision unter den gegebenen Umständen materiell als gerechtfertigt erachtete, ist nicht zu beanstanden.
13
5.3. Die vom kantonalen Gericht weiter bestätigte rückwirkende Aufhebung des Rentenanspruchs gestützt auf das seines Erachtens voll beweiskräftige SMAB-Gutachten mit Bescheinigung einer (insbesondere auch aus psychiatrischer Sicht) uneingeschränkten Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit während des gesamten Beurteilungszeitraums wird beschwerdeweise nicht weiter beanstandet. Der angefochtene Entscheid gibt keinen Anlass zu diesbezüglichen Weiterungen.
14
5.4. Zusammengefasst ist der vorinstanzliche Entscheid hinsichtlich der von der IV-Stelle mit Verfügung vom 14. Dezember 2018 vollzogenen prozessualen Revision der Rentenverfügung vom 16. Juni 2011 weder offensichtlich unrichtig noch sonstwie bundesrechtswidrig.
15
6. Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
16
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 30. Juli 2020
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).