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Informationen zum Dokument  BGer 9C_391/2020  Materielle Begründung
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BGer 9C_391/2020 vom 25.08.2020
 
 
9C_391/2020
 
 
Urteil vom 25. August 2020
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiber Grünenfelder.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Volker Pribnow,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 7. Mai 2020 (VBE.2019.538).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die IV-Stelle des Kantons Aargau sprach der 1973 geborenen A.________ ab 1. März 2005 in Anwendung der gemischten Methode eine Viertelsrente zu (Verfügungen vom 4. und 19. Juli 2005; Einspracheentscheid vom 9. September 2005). Nach mehrmaliger Bestätigung des Rentenanspruchs leitete sie im April 2017 ein Revisionsverfahren ein. Dabei veranlasste die Verwaltung insbesondere ein polydisziplinäres Gutachten bei der MEDAS Interlaken Unterseen GmbH (nachfolgend: MEDAS Interlaken) vom 9. Januar 2019. Gestützt darauf hob sie die bisherige Rente mit Verfügung vom 16. Juli 2019 wiedererwägungsweise auf (Invaliditätsgrad: 7 %).
1
B. Die dagegen erhobene Beschwerde der A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 7. Mai 2020 ab.
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C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei ihr ab 1. Januar 2018 eine halbe Invalidenrente auszurichten.
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig (willkürlich) ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
4
2. 
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2.1. Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze zur Invalidität und Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 f. ATSG) sowie betreffend den Rentenanspruch bzw. dessen Umfang (Art. 28 Abs. 1 und 2 IVG) korrekt dargelegt. Richtig sind insbesondere die Ausführungen betreffend die Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) infolge zweifelloser Unrichtigkeit der ursprünglichen rentenzusprechenden Verfügung (BGE 141 V 405 E. 5.2 S. 414 f.; 140 V 77 E. 3.1 S. 79 f.). Darauf wird verwiesen.
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Beizufügen bleibt, dass eine zweifellose Unrichtigkeit auch bei unrichtiger Feststellung im Sinne der Würdigung des Sachverhalts gegeben sein kann, worunter insbesondere eine unvollständige Sachverhaltsabklärung aufgrund einer klaren Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 ATSG und Art. 61 lit. c ATSG) fällt (statt vieler: Urteil 8C_456/2017 vom 23. Februar 2018 E. 3.1). Es erübrigt sich indessen, den damals rechtserheblichen Sachverhalt weiter abzuklären (Urteil 8C_789/2017 vom 30. Mai 2018 E. 3.2.1). Vielmehr ist der rechtskonforme Zustand für die Zukunft (ex nunc et pro futuro) auf der Grundlage eines richtig und vollständig festgestellten Sachverhalts im Zeitpunkt der Verfügung über die Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente herzustellen (BGE 144 I 103 E. 4.4.1 S. 108; 140 V 514 E. 5.1 S. 519).
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2.2. Letztinstanzlich kann als Rechtsfrage frei überprüft werden, ob im angefochtenen Entscheid von einem bundesrechtskonformen Verständnis der zweifellosen Unrichtigkeit ausgegangen wurde. Die Feststellungen, welche der entsprechenden Beurteilung zugrunde liegen, sind hingegen tatsächlicher Natur und nur auf offensichtliche Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit hin überprüfbar (statt vieler: Urteil 9C_394/2019 vom 27. August 2019 E. 3.3).
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3. Die Vorinstanz hat die am 4. und 19. Juli 2005 verfügte (und am 9. September 2005 bestätigte) Zusprache einer Viertelsrente für zweifellos unrichtig gehalten und deren Wiedererwägung im Sinne des Art. 53 Abs. 2 ATSG folglich als zulässig erachtet. Sodann hat sie der polydisziplinären Expertise der MEDAS Interlaken vom 9. Januar 2019 Beweiskraft beigemessen, wonach die Beschwerdeführerin in angepasster Tätigkeit zu 80 % im Rahmen eines Vollzeitpensums arbeitsfähig ist. Gestützt darauf hat das kantonale Gericht anhand der gemischten Methode einen maximalen Invaliditätsgrad von 8 % ermittelt und die wiedererwägungsweise Aufhebung der bisherigen Viertelsrente bestätigt.
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4. 
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4.1. Die Beschwerdeführerin stellt im Wesentlichen die zweifellose Unrichtigkeit der im Jahre 2005 erfolgten Rentenzusprache in Abrede.
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4.1.1. Das kantonale Gericht hat diesbezüglich willkürfrei (E. 1) festgestellt, es hätten divergierende Ansichten der behandelnden Ärzte hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit bestanden. So hätten die Dres. med. B.________ und C.________, Neurologische Klinik, Spital D.________, mit Bericht vom 20. Oktober 2004 eine Arbeitsfähigkeit von (anfänglich) vier Stunden pro Tag "in einem geschützten Rahmen, z.B. zu Hause, ohne äusseren Druck [in] einer vorwiegend sitzenden Tätigkeit" attestiert. Demgegenüber sei Dr. med. E.________, Facharzt für Neurologie, Klinik F.________, in seinem Bericht vom 4. Mai 2004 bei im Wesentlichen gleicher Befundlage von einer Arbeitsfähigkeit von 50 % für sitzende oder abwechselnd im Sitzen und Stehen ausführbare Tätigkeiten ohne Sturzgefahr ausgegangen. Der Hausarzt Dr. med. G.________ schliesslich habe in seinem Bericht vom 8. Februar 2005 eine volle Arbeitsfähigkeit in einer angepassten ebenerdigen Tätigkeit ohne Sturzgefahr und am besten im Sitzen mit der Möglichkeit zur jederzeitigen Arbeitsunterbrechung sowie ohne gefahrenträchtige Tätigkeiten an Maschinen für zumutbar gehalten.
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4.1.2. Ferner hat die Vorinstanz in sachverhaltlicher Hinsicht verbindlich ausgeführt, die Beschwerdegegnerin habe zweimal mündlich Rücksprache mit dem Regionalen Ärztlichen Dienst (nachfolgend: RAD) genommen. Eine eigentliche Beurteilung des medizinischen Sachverhalts habe dabei aber nicht stattgefunden. Gemäss Aktennotiz der zuständigen Sachbearbeiterin vom 16. Februar 2005 sei der RAD-Arzt Dr. med. H.________, Facharzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation sowie Rheumatologie, von einer - allenfalls steigerungsfähigen - Arbeitsfähigkeit von mindestens 50 % in angepasster Tätigkeit ausgegangen. Einer weiteren Aktennotiz der Sachbearbeitung vom 21. Juni 2005 sei zu entnehmen, Dr. med. H.________ habe angesichts der Diskrepanzen zwischen den Angaben des Hausarztes Dr. med. G.________ vom 8. Februar 2005 und des Spital D.________ vom 20. Oktober 2004 hinsichtlich der Arbeitsfähigkeitseinschätzung für angepasste Tätigkeiten angegeben, "der Bericht des Hausarztes ist aktueller, weshalb wir uns auf diesen abstützen - 5.2 Stunden pro Tag aufgrund der Methode".
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4.2.
 
4.2.1. Die Einwände der Beschwerdeführerin verfangen vor diesem Hintergrund nicht. Entgegen ihrer Darstellung ist den aktenkundigen Aussagen des RAD-Arztes Dr. med. H.________ keine (schlüssige) medizinische Begründung dafür zu entnehmen, dass angesichts der augenscheinlich uneinheitlichen medizinischen Akten der Beurteilung des Hausarztes der Vorzug gegeben werden müsste (zum Beweiswert hausärztlicher Berichte vgl. schon BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 und 3b/cc S. 353; 122 V 157 E. 1d S. 162 f.). Der Umstand, dass es sich um die aktuellste Beurteilung handelte, genügt für sich allein eindeutig nicht, zumal die unterschiedlichen Einschätzungen der Arbeitsfähigkeit im Wesentlichen auf denselben Befunden beruhten (vgl. E. 4.1.1). Weitere Ausführungen des RAD-Arztes, welche die verfügte Rentenzusprache rechtfertigen könnten, liegen - anders als die Beschwerdeführerin anzunehmen scheint - nicht vor. Dergestalt kann offen bleiben, ob die lediglich in Form von Aktennotizen festgehaltenen telefonischen Angaben des Dr. med. H.________ den formellen Beweisanforderungen grundsätzlich genügten, was das kantonale Gericht verneint hat (zum Beweiswert von Aktennotizen vgl. Urteil 9C_161/2019 vom 28. Juni 2019 E. 5.4.2 mit Hinweis auf BGE 117 V 281 E. 4c S. 284 f.).
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4.2.2. Hinzu kommt, dass die dannzumal behandelnden Neurologen nach verbindlicher (E. 1) Sachverhaltsfeststellung im angefochtenen Entscheid mehrfach auf eine psychogene Komponente hingewiesen und eine psychiatrisch-psychologische Behandlung empfohlen hatten. Das kantonale Gericht hat in diesem Zusammenhang zu Recht die stark divergierenden Angaben der Beschwerdeführerin und ihres Ehemannes zur Anfallshäufigkeit einbezogen, welche zwischen "praktisch täglich" bzw. "jeden zweiten Tag" bis hin zu "drei- bis viermal pro Woche" und "vier- bis fünfmal pro Monat" geschwankt hätten. Nachdem psychiatrische Abklärungen zwecks Objektivierbarkeit dieser Beschwerden gänzlich unterblieben, liegt eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (bereits) nach damaliger Rechtslage gleichfalls auf der Hand (vgl. BGE 127 V 294 E. 3c in fine S. 298). Auch in Anbetracht der sonstigen Vorbringen ist keine Rechtsverletzung ersichtlich. Im Gegenteil spricht das in der Beschwerde wiederholt (Ziff. 40, 47) vorgetragene Argument, es habe sich seit der Rentenzusprache im Jahr 2005 "nichts geändert" - weder erwerblich noch statusmässig noch gesundheitlich -, klar für zweifellose Unrichtigkeit der Leistungsgewährung, zu der es nicht gekommen wäre, wenn damals eine umfassende medizinische Abklärung in die Wege geleitet worden wäre, wie dies im Herbst 2018 dann endlich geschah. Diese ergab, dass "bei suffizienter Anfallskontrolle (...) aus neurologischer Sicht keine relevante Einschränkung der Arbeitsfähigkeit besteht" (Teilgutachten Neurologie vom 26. November 2018, S. 27). Das kantonale Gericht durfte die Verfügungen vom 4. und 19. Juli 2005 bzw. den diese bestätigenden Einspracheentscheid vom 9. September 2005 demzufolge als zweifellos unrichtig im Sinne des Art. 53 Abs. 2 ATSG einstufen (vgl. E. 2.1), ohne Bundesrecht zu verletzen.
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4.3. Die Beweiskraft des polydisziplinären Gutachtens der MEDAS Interlaken vom 9. Januar 2019 sowie die vorinstanzliche Invaliditätsbemessung bieten keinen Anlass zu näherer Überprüfung. Das kantonale Gericht hat insbesondere zutreffend darauf verwiesen, dass auch bei einer die statistischen Grundlagen des Jahres 2017 und die Vorgaben des Art. 27bis IVV (in Kraft seit 1. Januar 2018) berücksichtigenden Berechnung bei Weitem kein rentenbegründender Invaliditätsgrad resultiert. Damit hält die im angefochtenen Entscheid bestätigte Rentenaufhebung vor Bundesrecht stand. Die Beschwerde ist unbegründet.
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5. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 25. August 2020
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder
 
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