BGer 9C_336/2020 | |||
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BGer 9C_336/2020 vom 03.09.2020 |
9C_336/2020 |
Urteil vom 3. September 2020 |
II. sozialrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied,
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Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless,
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Gerichtsschreiber Grünenfelder.
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Verfahrensbeteiligte | |
A.________,
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c/o Pflegefamilie B.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Stark,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Ergänzungsleistung zur AHV/IV,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
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vom 27. April 2020 (EL 2017/24).
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Sachverhalt: | |
A. A.________ (geboren am 5. September 2002) lebt seit Ende September 2013 bei einer Pflegefamilie. Seine Mutter bezieht eine Rente der Invalidenversicherung samt Kinderrente sowie Ergänzungsleistungen. Mit Verfügung vom 19. Dezember 2016 sprach die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (nachfolgend: Ausgleichskasse) A.________ ab 1. Januar 2017 gesondert berechnete Ergänzungsleistungen von Fr. 194.- monatlich zu. Hierbei berücksichtigte sie eine (maximale) Tagestaxe von Fr. 33.-. Nachdem die Ausgleichskasse insbesondere die Reduktion der Alimentenbevorschussung übersehen hatte, erliess sie am 18. Januar 2017 eine neue Verfügung und erhöhte den Ergänzungsleistungsanteil für A.________ - bei unveränderter Tagestaxe - rückwirkend für das Jahr 2017 auf Fr. 196.- monatlich. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 8. Mai 2017 fest.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde des A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 27. April 2020 ab.
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C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese über seinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen neu befinde. Sodann ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege.
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Erwägungen: | |
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
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2. Streitig und zu prüfen ist in letzter Instanz einzig, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat, indem es auf eine Überprüfung der Rechtmässigkeit der angerechneten Tagestaxe von (maximal) Fr. 33.- verzichtete.
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2.1. Die Vorinstanz hat in diesem Zusammenhang auf ihre eigene Praxis verwiesen und erwogen, bei der Verfügung vom 18. Januar 2017 habe es sich um eine reine Revisionsverfügung im Sinne des Art. 17 Abs. 2 ATSG gehandelt. Deren Inhalt habe sich darauf beschränkt, die laufende Ergänzungsleistung ab 1. Januar 2017 an die Erhöhung der kantonalen Durchschnittsprämie für die obligatorische Krankenpflegeversicherung und die Reduktion der Alimentenbevorschussung anzupassen. In einem Revisionsverfahren nach Art. 17 Abs. 2 ATSG könnten aber entsprechend dem Wesen der Revision nur diejenigen Berechnungspositionen neu beurteilt werden, welche von einer Sachverhaltsänderung betroffen seien. Vorliegend hätten sich lediglich die erwähnten beiden Punkte verändert, wohingegen der Beschwerdeführer allein die Höhe der anrechenbaren Tagestaxe für den Aufenthalt in der Pflegefamilie beanstande. Diese betrage schon seit der erstmaligen Leistungszusprache unverändert Fr. 33.-. Somit falle die Revision gemäss Art. 17 Abs. 2 ATSG als Rückkommenstitel für die Berechnungsposition "Tagestaxe" ausser Betracht.
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2.2. Der Beschwerdeführer bringt zu Recht vor, der Standpunkt der Vorinstanz verstosse gegen die gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 128 V 39 E. 3b und c S. 40 f.; 141 V 255 E. 1.3 S. 257 f.; zuletzt bestätigt mit Urteilen 9C_480/2018 vom 30. Januar 2019 E. 2.3 und 9C_541/2019 vom 7. Oktober 2019 E. 4.1). Danach können die Berechnungsgrundlagen bei der jährlichen Überprüfung der Ergänzungsleistung ohne Bindung an die früher verwendeten Faktoren und unabhängig von der Möglichkeit der während der Bemessungsdauer vorgesehenen Revisionsgründe von Jahr zu Jahr neu festgelegt werden (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. a ELG). Dieses sog. Kalenderjahrkonzept ergibt sich aus dem Charakter der Ergänzungsleistung als Bedarfsleistung, deren Ausrichtung dort angebracht ist, wo die Renten der Alters- und Invalidenversicherung sowie allfälliges übriges Einkommen die minimalen Lebenskosten nicht decken. Die jährliche Neuberechnung betrifft nicht die vorangegangenen Perioden, sondern bezweckt einzig die Berechnung der korrekten Ergänzungsleistung für das neue Kalenderjahr aufgrund der aktuellen tatsächlichen Gegebenheiten. Hingegen beziehen sich die Änderung der jährlichen Ergänzungsleistung (Art. 25 ELV) und die Revision von Dauerleistungen nach Art. 17 Abs. 2 ATSG - welche Bestimmung auch die Vorinstanz ihren Erwägungen zugrunde legt - auf die Anpassung (Erhöhung, Herabsetzung oder Aufhebung) auch während des Kalenderjahres, was - im Gegensatz zur jährlichen Neuberechnung - nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist. Sie ergänzen die jährliche Neuberechnung, ersetzen diese aber nicht (statt vieler: Urteil 9C_480/2018 vom 30. Januar 2019 E. 2.3).
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Triftige Gründe für eine Rechtsprechungsänderung ergeben sich auch heute nicht (zu den Voraussetzungen vgl. BGE 141 II 297 E. 5.5.1 S. 303; 137 V 417 E. 2.2.2 S. 422). Insbesondere verlangte der Beschwerdeführer bereits im Rahmen seiner Einsprache gegen die Verfügung vom 19. Dezember 2016 und erneut in derjenigen gegen die Verfügung vom 18. Januar 2017 die Überprüfung der Tagessatzhöhe für die Unterbringung in seiner Pflegefamilie. Die Problematik einer mutwilligen Prozessführung stellt sich hier nicht. An der bisherigen Rechtsprechung ist festzuhalten. Weiterungen dazu erübrigen sich.
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2.3. Nach dem Gesagten ist die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es sich materiell mit der Höhe des beanstandeten Tagessatzes auseinandersetze. Der angefochtene Entscheid verletzt im strittigen Punkt Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG).
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3. Da die Beschwerde offensichtlich begründet ist, wird sie im Verfahren nach Art. 109 Abs. 2 lit. b BGG erledigt.
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4. Auf einen Schriftenwechsel ist angesichts des klaren Verfahrensausgangs und des Kostenentscheids (nachfolgende E. 5) aus prozessökonomischen Gründen zu verzichten. Die Einholung einer Vernehmlassung zur Beschwerde käme einem Leerlauf gleich und würde nur weitere Kosten verursachen (Art. 102 Abs. 1 BGG).
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5. Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die Gerichtskosten und eine allfällige Parteientschädigung hätte grundsätzlich die unterliegende Partei zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG; BGE 133 V 642). Unnötige Kosten hat indessen zu bezahlen, wer sie verursacht (Art. 66 Abs. 3 und Art. 68 Abs. 4 BGG). Dies gestattet es auch, ausnahmsweise die Gerichts- und Parteikosten der Vorinstanz resp. dem Gemeinwesen, dem diese angehört, aufzuerlegen. Das kantonale Gericht missachtet systematisch die ständige Praxis des Bundesgerichts und hat damit den Beschwerdeführer zum letztinstanzlichen Prozess gezwungen, was zu einer unnötigen Verlängerung des Verfahrens geführt hat. Dieser Umstand kann nicht der Beschwerdegegnerin angelastet werden. Es rechtfertigt sich demnach, dem Kanton St. Gallen die Gerichts- und Parteikosten aufzuerlegen (vgl. Urteile 8C_742/2016 vom 5. Januar 2017 E. 3 und 8C_276/2016 vom 23. Juni 2016 E. 8).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 27. April 2020 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Kanton St. Gallen auferlegt.
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3. Der Kanton St. Gallen hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
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4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 3. September 2020
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Das präsidierende Mitglied: Meyer
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Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder
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