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Informationen zum Dokument  BGer 8C_211/2020  Materielle Begründung
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BGer 8C_211/2020 vom 23.09.2020
 
 
8C_211/2020
 
 
Urteil vom 23. September 2020
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
 
Gerichtsschreiberin Polla.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Hebeisen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
SWICA Versicherungen AG, Rechtsdienst UVG, Römerstrasse 37, 8401 Winterthur,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung (Invalidenrente; Revision),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 12. Februar 2020 (VV.2019.158).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. Die 1957 geborene A.________ wurde am 9. Juli 2010 an einer Tankstelle von einem rückwärts fahrenden Auto erfasst. Sie erlitt eine Prellung der Wirbelsäule sowie eine rechtsseitige Fraktur des proximalen Humerus (ohne Beteiligung des Gelenks). Mit Verfügung vom 10. Juni 2014 sprach die SWICA Versicherungen AG (nachfolgend: SWICA) als zuständiger Unfallversicherer mit Wirkung ab 1. Januar 2013 eine Invalidenrente (Invaliditätsgrad 19 %) sowie eine Integritätsentschädigung (Integritätseinbusse 25 %) zu. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 13. November 2014 fest. Die hiergegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit rechtskräftig gewordenem Entscheid vom 28. Oktober 2015 insoweit teilweise gut, als es den versicherten Verdienst auf Fr. 36'295.15 festsetzte und der Versicherten eine Invalidenrente auf der Grundlage einer 37%-igen Erwerbseinbusse zusprach. Die geltend gemachten psychischen Beschwerden beurteilte es als nicht unfallkausal.
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A.b. Nach Anmeldung bei der Invalidenversicherung liess die IV-Stelle des Kantons Thurgau A.________ bei der Swiss Medical Assessment- and Business Center (SMAB) AG, Bern, polydisziplinär abklären (Gutachten vom 21. April 2017). Danach ist A.________ sowohl in ihrer bisherigen Tätigkeit als Mitarbeiterin im Personalrestaurant der Thurgauer Kantonalbank als auch in einer adaptierten Tätigkeit im Umfang von 80 % arbeitsfähig, wobei die 20%-ige Einschränkung der Arbeitsfähigkeit psychiatrisch begründet wurde. Mit Verfügung vom 13. September 2018 stellte die SWICA ihre Rentenleistungen rückwirkend auf den 1. Februar 2018 ein, da keine unfallbedingte Erwerbseinbusse mehr vorliege. Dies bestätigte sie mit Einspracheentscheid vom 3. Juni 2019.
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B. Die gegen den Einspracheentscheid vom 3. Juni 2019 geführte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 12. Februar 2020 ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ sinngemäss beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und des Einspracheentscheids vom 3. Juni 2019 sei ihr die auf einem Invaliditätsgrad von 37 % basierende Invalidenrente über den 1. Februar 2018 hinaus zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache zur weiteren Abklärung und neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Die SWICA und das Bundesamt für Gesundheit haben auf eine Stellungnahme verzichtet.
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Erwägungen:
 
 
1.
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).
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1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
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2.
 
2.1. Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs. 1 ATSG). Anlass zur Rentenrevision gibt jede (wesentliche) Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen seit Zusprechung der Rente, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch zu beeinflussen. Die Invalidenrente ist daher nicht nur bei einer wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes, sondern auch dann revidierbar, wenn sich die erwerblichen Auswirkungen des an sich gleich gebliebenen Gesundheitszustandes erheblich verändert haben oder eine andere Art der Bemessung der Invalidität zur Anwendung gelangt (BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349 ff.; Urteil 9C_297/2016 vom 7. April 2017 E. 2.1, nicht publ. in: BGE 143 V 77, aber in: SVR 2017 IV Nr. 51 S. 152; MEYER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 3. Aufl. 2014, Rz. 27 zu Art. 30-31 IVG). Demgegenüber ist die lediglich unterschiedliche Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhalts im revisionsrechtlichen Kontext unbeachtlich (BGE 144 I 103 E. 2.1 S. 105; 141 V 9 E. 2.3 S. 10 f. mit Hinweisen).
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2.2. Liegt ein Revisionsgrund vor, ist der Rentenanspruch in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend ("allseitig") zu prüfen, wobei keine Bindung an frühere Beurteilungen besteht (BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 10 f. mit weiteren Hinweisen). Entsprechend ist gegebenenfalls auch die Adäquanz eines natürlichen Kausalzusammenhanges für die Zukunft aufgrund der im Zeitpunkt der Leistungsanpassung gegebenen Verhältnisse neu zu prüfen (SVR 2017 UV Nr. 41 S. 141, 8C_833/2016 E. 5).
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2.3. Nach der Rechtsprechung wird der in Art. 17 ATSG verwendete Begriff "für die Zukunft" so verstanden, dass eine Anpassung der Rente auf den Verfügungszeitpunkt erfolgt; dies wird damit begründet, dass die sich pflichtgemäss verhaltende versicherte Person darauf vertrauen können müsse, dass eine Aufhebung oder Herabsetzung nicht rückwirkend, sondern nur für die Zukunft erfolge (BGE 145 V 141 E. 7.3.2 S. 148 f.; 140 V 65 E. 3.3 S. 68 mit Verweis auf BGE 133 V 67 E. 4.3.5 S. 70).
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2.4. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz die von der SWICA am 13. September 2018 verfügte und mit Einspracheentscheid vom 3. Juni 2019 bestätigte Aufhebung der für den Unfall vom 9. Juli 2010 erbrachten Invalidenrente auf den 1. Februar 2018 zu Recht schützte.
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Massgeblicher Vergleichszeitpunkt für eine Sachverhaltsänderung im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG bildet der Einspracheentscheid vom 13. November 2014(BGE 134 V 131 E. 3 S. 132 f.; 133 V 108 E. 5.4 S. 114).
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3.
 
3.1. Die Vorinstanz mass dem Gutachten der SMAB AG vom 21. April 2017 in Bezug auf die unfallbedingten Einschränkungen vollen Beweiswert bei. Sie bejahte gestützt auf die Einschätzungen der Experten eine anspruchserhebliche gesundheitliche Verbesserung im Vergleichtszeitraum (E. 2.1 und 2.4 hiervor) und verzichtete in antizipierter Beweiswürdigung auf weitere medizinische Abklärungen. Aus dem orthopädisch-traumatologischen Teilgutachten der SMAB AG gehe hervor, dass keine die Arbeitsfähigkeit beeinflussende (residuelle) rechtsseitige Frozen Shoulder mehr vorliege, wie sie im - der ursprünglichen Rentenzugsprache zugrunde liegenden - rheumatologischen Teilgutachten der MEDAS Zentralschweiznoch diagnostiziert worden sei. Soweit die Beweiskraft des SMAB-Gutachtens mit der Voreingenommenheit der Dres. med. B.________ und C.________ in Zweifel gezogen wurde, verneinte die Vorinstanz Ausstands- oder Ablehnungsgründe.
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3.2. Die Beschwerdeführerin hält ihren Vorwurf der Voreingenommenheit der Experten der SMAB AG nicht weiter aufrecht, doch stellt sie sich auf den Standpunkt, deren Gutachten sei nicht beweistauglich und beinhalte eine bloss abweichende ärztliche Einschätzung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Gesundheitszustandes. Der Umstand, dass keine Frozen Shoulder mehr diagnostiziert worden sei, rechtfertige jedenfalls nicht die Annahme eines Revisionsgrunds nach Art. 17 Abs. 1 ATSG, zumal die Gutachter eine volle Arbeitsfähigkeit bereits für einen vor der Untersuchung durch die MEDAS liegenden Zeitpunkt angenommen hätten.
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4.
 
4.1. Hinsichtlich der Frage, ob eine wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustands vorliegt, steht fest, dass die damals diagnostizierte (residuelle) rechtsseitige Frozen Shoulder bei Status nach subkapitaler Humerusfraktur die Arbeitsfähigkeit beeinflusste. So lässt sich dem MEDAS-Gutachten vom 20. August 2012 entnehmen, dass diese aus rheumatologischer Sicht des damaligen Gutachters Dr. med. D.________ als Hauptproblematik mit alleiniger Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit bestand. Die Schulterbeschwerden führten zu einer geschätzten Leistungseinschränkung um 70 % als Küchenhilfe. In einer leidensadaptierten Tätigkeit wurde die Restarbeitsfähigkeit bezogen auf die unfallkausalen Beschwerden im Bereich der rechten Schulter gestützt auf das rheumatologische Teilgutachten vom kantonalen Gericht auf 80 % festgesetzt.
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4.2. Es steht ebenso fest, dass die Beschwerdeführerin anlässlich der jüngsten Begutachtung durch die SMAB AG bei der orthopädisch-traumatologischen Untersuchung am rechten Schultergelenk eine Funktionseinschränkung demonstrierte. Es bestand bei der gezielten klinischen Prüfung der Wirbelsäulenfunktion und bei der Untersuchung der rechten oberen und unteren Extremitätengelenke keine Mitwirkung/Compliance. Die Funktionen der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule waren nach Dr. med. C.________ ebenfalls nahezu aufgehoben. Seitens der rechten Schulter seien eine Abduktion bis 45° und eine Anteversion bis 60° demonstrierbar. Beim Versuch der passiven Weiterbewegung spanne die Versicherte "muskulär aktiv gegen". Radiologisch seien die gezeigten Funktionseinschränkungen nicht begründbar. Sämtliche Einschränkungen würden bewusstseinsnah negativ verstärkt präsentiert im Sinne einer Aggravation. Der Experte führte weiter aus, dass daher die im rheumatologischen Gutachten vom 10. August 2012 festgestellte residuelle Frozen Shoulder nicht erhoben werden könne, da die Versicherte eine Funktionsüberprüfung der rechten Schulter nicht zulasse bzw. frühzeitig mit einer muskulären Gegenspannung antworte. Dasselbe wiederholten die SMAB-Gutachter aus polydisziplinärer Sicht, indem sie angaben, die Diagnose einer residuellen Frozen Shoulder liege zum derzeitigen Zeitpunkt nicht vor bzw. könne klinisch nicht gestellt werden. Die somatische Untersuchung habe sich sehr schwierig gestaltet, bei mangelnder Compliance und bewusstseinsnaher Beeinflussung der Funktion liege Aggravation vor. Die Frage nach einer Veränderung des Gesundheitszustands im Vergleich zum Vorgutachten beantworteten die Experten im polydisziplinären Konsens dementsprechend mit dem Wegfall der Diagnose der Frozen Shoulder.
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4.3. Es lässt sich daher nicht beanstanden, wenn die Vorinstanz erwog, der von der SMAB AG erhobene Sachverhalt unterscheide sich wesentlich von der Situation anlässlich der MEDAS-Begutachtung, indem in Bezug auf die rechte Schulter der Versicherten die Frozen Shoulder nicht mehr habe nachgewiesen werden können. Nach dem soeben Dargelegten dringt die Beschwerdeführerin mit ihrem Einwand nicht durch, es werde im Gutachten der SMAB AG zu wenig substanziiert aufgezeigt, inwiefern sich ihr Gesundheitszustand verändert habe, weshalb im Vergleich zum Gutachten der MEDAS vom 20. August 2012 bloss eine neue Beurteilung des im Wesentlichen gleich gebliebenen Gesundheitszustands erfolgt sei. Denn dass sich Dr. med. C.________ nicht ausführlicher zur Befundlage bezüglich der rechten Schulter im Rahmen der klinischen Untersuchung äussern konnte, hat sich die Versicherte durch ihre mangelnde Mitwirkung selbst zuzuschreiben, was sich in beweisrechtlicher Hinsicht zu ihren Lasten auswirkt. Ob die fehlende Compliance auf einer Aggravation fusst, wofür Dr. med. C.________ aufgrund des Verhaltens bei der Untersuchung des Achsenorgans und der Extremitätengelenke deutliche Hinweise fand, ist hier ohne Belang. Selbst wenn es sich dabei um den Ausdruck eines psychischen Gesundheitsschadens handeln würde, bliebe dieser - da unfallfremd (vgl. Sachverhalt A.a hiervor) - im vorliegenden unfallversicherungsrecht lichen Kontext unerheblich. Und was die im Vergleich zum MEDAS-Gutachten divergierende Einschätzung der Arbeitsfähigkeit durch die Experten der SMAB AG angeht, die retrospektiv bereits neun Monate nach dem Unfall (April 2011) den somatischen Leiden keinen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit mehr einräumten, mag dies auf eine andere Beurteilung des gleichen Sachverhalts hindeuten. Das ändert jedoch nichts daran, dass im Gutachtenszeitpunkt insoweit eine rentenbeeinflussende Verbesserung des Gesundheitszustands gegeben war, als die demonstrierten Einschränkungen somatisch nicht erklärbar waren und keine Frozen Shoulder mehr diagnostiziert werden konnte. Gestützt auf die gutachterlichen Darlegungen lässt sich daher bundesrechtskonform ableiten, dass sich der Gesundheitszustand in Bezug auf die Frozen Shoulder massgeblich verändert hat, weshalb die vorinstanzliche Auffassung, der Rentenanspruch sei einer Revision zugänglich, zu schützen ist. Die gegenteilige Auffassung der Beschwerdeführerin ist nicht stichhaltig. Bei dieser Sach- und Rechtslage sind keine weiteren Abklärungen im Sinne des Eventualantrags der Beschwerdeführerin angezeigt. Die Beschwerde ist unbegründet.
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5. Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 23. September 2020
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Polla
 
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