BGer 9C_382/2020 | |||
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BGer 9C_382/2020 vom 07.10.2020 |
9C_382/2020 |
Urteil vom 7. Oktober 2020 |
II. sozialrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichter Parrino, Präsident,
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Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
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Gerichtsschreiberin Dormann.
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Verfahrensbeteiligte | |
A.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Michael Grimmer,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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IV-Stelle des Kantons Zürich,
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Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 21. April 2020 (IV.2019.00140).
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Sachverhalt: | |
A. Nachdem die IV-Stelle des Kantons Zürich ein erstes Leistungsgesuch des 1959 geborenen A.________ abgewiesen hatte (Verfügung vom 18. September 2013), sprach sie ihm mit Verfügung vom 3. Mai 2017 eine halbe Invalidenrente ab dem 1. Dezember 2016 zu (Invaliditätsgrad 50 %). Im Februar 2018 ersuchte A.________ um Erhöhung der Rente. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens bestätigte die IV-Stelle mit Verfügung vom 30. Januar 2019 einen unveränderten Rentenanspruch. Zur Begründung führte sie an, eine länger andauernde Verschlechterung des Gesundheitszustandes sei nicht ausgewiesen.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 21. April 2020 ab.
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C. A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegen heiten beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 21. April 2020 seien ihm die gesetzlichen Leistungen zu erbringen und es sei ihm eine ganze Invalidenrente ab dem 1. August 2018 auszurichten.
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Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen: | |
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. | |
2.1. Ändert sich der Invaliditätsgrad eines Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs. 1 ATSG [SR 830.1]). Anlass zur Rentenrevision gibt jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen seit Zusprechung der Rente, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Anspruch zu beeinflussen. Insbesondere ist die Rente bei einer wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes revidierbar. Weiter sind, auch bei an sich gleich gebliebenem Gesundheitszustand, veränderte Auswirkungen auf den Erwerbs- oder Aufgabenbereich von Bedeutung. Hingegen ist die lediglich unterschiedliche Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhalts im revisionsrechtlichen Kontext unbeachtlich (BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 10 f. mit Hinweisen). Weder eine im Vergleich zu früheren ärztlichen Einschätzungen ungleich attestierte Arbeitsunfähigkeit noch eine unterschiedliche diagnostische Einordnung des geltend gemachten Leidens genügt somit per se, um auf einen verbesserten oder verschlechterten Gesundheitszustand zu schliessen; notwendig ist in diesem Zusammenhang vielmehr eine veränderte Befundlage (SVR 2012 IV Nr. 18 S. 81, 9C_418/2010 E. 4.2; Urteil 9C_346/2019 vom 6. September 2019 E. 2.1.1 mit weiteren Hinweisen).
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Eine Verschlechterung der Erwerbsfähigkeit ist zu berücksichtigen, sobald sie ohne wesentliche Unterbrechung drei Monate gedauert hat (Art. 88a Abs. 2 IVV [SR 831.201]).
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2.2. Tritt die Verwaltung auf ein Revisionsgesuch ein (vgl. Art. 87 Abs. 2 IVV), so gilt der Untersuchungsgrundsatz. Danach haben Sozialversicherungsträger (Art. 43 Abs. 1 ATSG) und im Beschwerdefall das Sozialversicherungsgericht (Art. 61 lit. c ATSG) den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen. Diese Untersuchungspflicht dauert so lange, bis über die für die Beurteilung des streitigen Anspruchs erforderlichen Tatsachen hinreichende Klarheit besteht (Urteil 8C_641/2019 vom 8. April 2020 E. 3.3.1, nicht publ. in: BGE 146 V 121).
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3. Die Vorinstanz hat festgestellt, in Bezug auf das Rückenleiden, die Epistaxis und den Glutealabszess sei (im Vergleich zum Zustand bei der Rentenzusprache am 3. Mai 2017) von einem unveränderten Gesundheitszustand auszugehen. Hinsichtlich der beim Versicherten diagnostizierten chronischen obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) hat sie erwogen, das "Ein-Sekunden-Volumen" habe vom 20. Juli 2016 bis zum 30. November 2018 um 5 % abgenommen, was neu zu einer Einstufung unter dem Schweregrad III (statt wie bisher II) gemäss der Global Initiative for Chronic Obstructive Lung Disease (GOLD) geführt habe. Diese klassifikatorische Änderung belege für sich alleine keine massgebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Die von Dr. med. B.________, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und für Pneumologie, festgehaltene "medizinisch-theoretische Ateminvalidität" von 80-100 % bezeichne die messbare Einbusse der Lungenfunktion oder des Gasaustausches ungeachtet des ausgeübten Berufes. In Anbetracht der geringen Abweichungen der massgeblichen Werte in den Vergleichszeitpunkten sei die Differenz in den Beurteilungen der "Ateminvalidität" - 50 % am 15. August 2016 und 80-100 % am 30. Januar 2019 - nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen. Die Abnahme der CO-Diffusionskapazität von 50 auf 37 % des Solls vermöge diesbezüglich keine Klarheit zu schaffen. Dem Beschwerdeführer seien aber ohnehin nur noch körperlich "nicht anfordernde" Tätigkeiten zumutbar, die keine gesteigerte Sauerstoffaufnahme voraussetzten, und die Aussagekraft der "medizinisch-theoretischen Ateminvalidität" sei im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit in angepasster Tätigkeit stark beschränkt. Dr. med. B.________ habe nicht ausgeführt, ob und in wel chem Ausmass sich die festgehaltene "Ateminvalidität" auf die Arbeitsfähigkeit in angepasster Tätigkeit auswirke. Bereits bei der Rentenzusprache sei die Indikation zur Dauersauerstoff-Therapie gegeben gewesen, was die Teilzeitarbeit nicht verunmöglicht habe. Im Rentenrevisionsverfahren habe der Versicherte die Rückenproblematik in den Vordergrund gestellt und über einen stabilen pulmonalen Verlauf berichtet. Somit sei - entsprechend der Einschätzung des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) - auch bezüglich der Lungenproblematik eine massgebliche Veränderung nicht erstellt. Folglich hat das kantonale Gericht einen Revisionsgrund im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG verneint und die angefochtene Verfügung bestätigt.
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4. | |
4.1. Streitig und zu prüfen ist, ob sich das Lungenleiden seit dem 3. Mai 2017 erheblich verschlechterte und deshalb ein Revisionsgrund vorliegt.
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4.2. | |
4.2.1. Anders als die Vorinstanz anzunehmen scheint, stellt die klassifikatorische Änderung (COPD von Schweregrad II zu III) nicht bloss eine unterschiedliche diagnostische Einordnung eines unveränderten Leidens dar. Vielmehr erhob Dr. med. B.________ neue objektive Befunde, die er zu Recht im Rahmen der anerkannten medizinischen Richtlinien (GOLD) berücksichtigte. Sodann ist zu präzisieren, dass die Reduktion des "Ein-Sekunden-Volumens" (FEV 1) von 52 % (20. Juli 2016) auf 47 % (30. November 2018) nicht 5 %, sondern 5 Prozentpunkten und (ausgehend vom im Juli 2016 gemessenen Wert) rund 10 % entspricht. Weiter ist nicht von vornherein auszuschliessen, dass sich die Erhöhung der "medizinisch-theoretischen Ateminva lidität" in quantitativer Hinsicht negativ auf die Arbeits- resp. Leistungsfähigkeit auswirkt.
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Zwar enthalten die Berichte des Dr. med. B.________ keine konkrete Einschätzung der Restarbeitsfähigkeit. In seinem Bericht vom 6. September 2018 bezeichnete er aber den Gesundheitszustand des Ver sicherten als verschlechtert; zudem verneinte er die Frage nach einer "Belastbarkeit für Massnahmen der Wiedereingliederung im Umfang von mindestens zwei Stunden/Tag". Er empfahl u.a. einen Rauchstopp, als Prognose hielt er aber fest, dass auch im besten Fall keine Verbesserung, (sondern) nur eine Stabilisierung der aktuellen Lungenproblematik zu erwarten sei.
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4.2.2. Den fachärztlichen Berichten mit den objektiv verschlechterten pneumologischen Befunden stehen einzig die äusserst knappen Stellungnahmen (vgl. Art. 59 Abs. 2 bis IVG und Art. 49 Abs. 1 IVV) des RAD (Dr. med. C.________, Facharzt für Chirurgie, und Dr. med. D.________, Praktische Ärztin) vom 19. November 2018 und 24. Ja nuar 2019 gegenüber. Darin wird unter blossem Verweis auf persistierenden Nikotinkonsum und ohne weitere Begründung eine pneumologisch unveränderte Situation postuliert. Ausserdem berücksichtigte Dr. med D.________ nicht den am 30. November 2018 gemessenen (auf 47 % verschlechterten), sondern lediglich den am 20. Juli 2016, mithin noch vor der Rentenzusprache eruierten FEV 1-Wert von 52 %.
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4.3. Die RAD-Stellungnahmen vermögen die mit den Berichten des Dr. med. B.________ (zumindest) glaubhaft gemachte Verschlech terung der pneumologischen Situation und damit der Arbeitsfähigkeit nicht nachvollziehbar zu entkräften. Gleiches gilt für den Umstand, dass der Versicherte im Verwaltungsverfahren stärker auf die Rückenproblematik als auf die COPD fokussierte. Dass das kantonale Gericht (wie die Verwaltung) bei der gegebenen Aktenlage hinsichtlich einer wesentlichen Veränderung des Gesundheitszustandes auf weitere Abklärungen verzichtet und die Einschätzung der RAD-Ärzte übernommen hat, stellt eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes dar (vgl. obenstehende E. 2.2). Die entsprechende vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung ist somit nicht verbindlich (E. 1).
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Da die Berichte des Dr. med. B.________ keine Arbeitsfähigkeits schätzung enthalten (vgl. obenstehende E. 1 und 3), kann von vornherein nicht darauf abgestellt werden. Die IV-Stelle wird in Bezug auf eine allfällige pneumologisch begründete Verschlechterung der Arbeitsfähigkeit weitere Abklärungen zu treffen und anschliessend erneut über das Revisionsgesuch zu befinden haben. In diesem Sinn ist die Beschwerde begründet.
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4.4. Schliesslich ist von Amtes wegen (vgl. E. 1) auf Folgendes hinzuweisen: Die Vorinstanz hat - verbindlich - festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis mit der langjährigen Arbeitgeberin, wo der Versicherte zuletzt (als Teilinvalider) in einem Pensum von 50 % gearbeitet hatte, auf Ende November 2018 aufgelöst worden sei. Anders als bei der Rentenzusprache kann spätestens ab diesem Zeitpunkt bei einer Invaliditätsbemessung (vgl. Art. 16 ATSG) nicht mehr auf das zuvor tatsächlich erzielte Invalideneinkommen abgestellt werden (vgl. BGE 139 V 592 E. 2.3 S. 593 f.; 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475). Die IV-Stelle wird zu berücksichtigen haben, dass bereits daraus eine erhebliche Veränderung im erwerblichen Bereich (vgl. E. 2.1) und damit ein Revisionsgrund im Sinne von Art. 17 ATSG resultieren könnte.
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5. Hinsichtlich der Prozesskosten gilt die Rückweisung der Sache zu neuem Entscheid praxisgemäss als volles Obsiegen (vgl. statt vieler: Urteil 9C_279/2019 vom 1. Juli 2019 E. 3 mit Hinweisen). Dementsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
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1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 21. April 2020 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 30. Januar 2019 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
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3. Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
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4. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
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5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 7. Oktober 2020
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Parrino
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Die Gerichtsschreiberin: Dormann
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