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Informationen zum Dokument  BGer 6B_1400/2019  Materielle Begründung
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BGer 6B_1400/2019 vom 23.10.2020
 
 
6B_1400/2019, 6B_1413/2019
 
 
Urteil vom 23. Oktober 2020
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichterin van de Graaf,
 
Bundesrichterin Koch,
 
Gerichtsschreiber Reut.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
6B_1400/2019
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Amr Abdelaziz,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zü rich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,
 
2. B.________,
 
3. Verein C.________,
 
beide vertreten durch Rechtsanwalt Rolf W. Rempfler,
 
Beschwerdegegner,
 
und
 
6B_1413/2019
 
B.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Rolf W. Rempfler,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zü rich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,
 
2. A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Amr Abdelaziz,
 
Beschwerdegegnerinnen.
 
Gegenstand
 
Üble Nachrede, Willkür, rechtliches Gehör,
 
Beschwerden gegen das Urteil des Obergerichts
 
des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 12. September 2019 (SB180281-O/U/jv).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Am 29. März 2018 sprach das Bezirksgericht Winterthur A.________ der üblen Nachrede zum Nachteil des Vereins C.________ schuldig. Hingegen sprach es sie bezüglich der getätigten und weiterverbreiteten Äusserungen gegenüber B.________ frei. Das Bezirksgericht verurteilte A.________ zu einer bedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je Fr. 50.-- und verwies das Genugtungsbegehren von B.________ auf den Weg des Zivilprozesses.
1
B. Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 12. September 2019 das Urteil des Bezirksgerichts weitgehend, wobei es die Höhe des Tagessatzes auf Fr. 30.-- reduzierte und das Genugtuungsbegehren von B.________ abwies.
2
C. A.________ und B.________ führen Beschwerde in Strafsachen. A.________ beantragt, sie sei von Schuld und Strafe freizusprechen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. B.________ stellt den Antrag, der angefochtene Entscheid sei zur Gewährung des rechtlichen Gehörs und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter sei A.________ auch der üblen Nachrede zu seinem Nachteil schuldig zu sprechen und das Genugtuungsbegehren gutzuheissen.
3
D. Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich haben im Verfahren 6B_1400/2019 auf eine Vernehmlassung verzichtet. B.________ nahm zur Beschwerde Stellung. A.________ reichte Gegenbemerkungen ein.
4
 
Erwägungen:
 
1. Die Beschwerden betreffen dasselbe Strafverfahren mit identischem Lebenssachverhalt, weshalb beide Verfahren gestützt auf Art. 71 BGG i.V.m. Art. 24 Abs. 2 lit. b BZP zu vereinigen und in einem Entscheid zu behandeln sind (BGE 133 IV 215 E. 1).
5
2. Die Beschwerdeführerin 1 wirft der Vorinstanz eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) vor. Sie macht geltend, die Beschwerdegegner 2 und 3 hätten am 12. August 2019 auf ihre Stellungnahme repliziert und verschiedene Beilagen eingereicht. In dieser Eingabe sei entgegen des bisherigen Standpunkts, wonach der Beschwerdegegner 2 den Beschwerdegegner 3 verkörpere und dessen Gesicht sei, versucht worden, die Rolle des Beschwerdegegners 2 beim Beschwerdegegner 3 zu relativieren. Es sei behauptet worden, der Verein werde etwa zu 50% von der Vizepräsidentin in Eigenverantwortung geführt. Diese Eingabe sei der Beschwerdeführerin 1 nicht zugestellt worden. Das gelte auch für das nachfolgende Berichtigungsschreiben der Beschwerdegegner 2 und 3 vom 15. August 2019 und die berichtigte Beilage sowie ein weiteres Schreiben vom 15. Mai 2019. Auch darin argumentierten die Beschwerdegegner 2 und 3 gegen die Zurechenbarkeit der Äusserungen des Beschwerdegegners 2 auf den Beschwerdegegner 3.
6
2.1. Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK haben die Parteien eines Gerichtsverfahrens Anspruch auf rechtliches Gehör. Dieser umfasst auch das Recht, von den beim Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu erhalten und sich dazu äussern zu können (sog. Replikrecht; vgl. BGE 133 I 98 E. 2.1). Das Replikrecht hängt nicht von der Entscheidrelevanz der Eingaben ab (BGE 138 I 154 E. 2.3.3: spricht von neuen erheblichen Gesichtspunkten). Die Wahrnehmung des Replikrechts setzt voraus, dass die von den übrigen Verfahrensbeteiligten eingereichten Eingaben der Partei vor Erlass des Entscheids zugestellt werden, damit sie sich darüber schlüssig werden kann, ob sie sich dazu äussern will oder nicht (BGE 137 I 195 E. 2.3.1 mit Hinweisen).
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2.2. Die Vorinstanz führte mit Zustimmung der Parteien ein schriftliches Berufungsverfahren durch (Art. 406 Abs. 2 StPO). Nach Abschluss des Schriftenwechsels reichten die Beschwerdegegner 2 und 3 am 20. März 2019 sowie am 15. Mai 2019 verschiedene Urkunden ins Recht. Diese wurden der Beschwerdeführerin 1 und der Staatsanwaltschaft am 21. Mai 2019 zur freigestellten Vernehmlassung zugestellt. Die Beschwerdeführerin 1 nahm am 27. Juni 2019 dazu Stellung. Die Vorinstanz stellte diese Stellungnahme den Beschwerdegegnern 2 und 3 am 17. Juli 2019 zur Kenntnisnahme zu, woraufhin die Beschwerdegegner 2 und 3 am 12. August 2019 Gegenbemerkungen anbrachten, samt prozessualen Anträgen und Beweismitteln. Bezugnehmend auf ihre eigene Eingabe liessen sie sich unter Beilage weiterer Unterlagen am 15. August 2019 abermals vernehmen (angefochtener Entscheid S. 6 f.).
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2.3. Weder aus der Sachverhaltsfeststellung im angefochtenen Entscheid noch aus den kantonalen Akten geht hervor, dass die genannten Eingaben der Beschwerdegegner 2 und 3 vom 12. August 2019 und 15. August 2019 der Beschwerdeführerin 1 vor Erlass des Urteils am 12. September 2019 zugestellt wurden. Das gilt auch hinsichtlich der Eingabe vom 15. Mai 2019, die - soweit ersichtlich (kant. Akten, act. 185, 211) - unvollständig eröffnet wurde. Die kantonalen Behörden liessen sich dazu nicht vernehmen. Zwar hat die Vorinstanz die in der Eingabe vom 12. August 2019 gestellten prozessualen Anträge (Sistierung, Aktenbeizug) im Endentscheid abgewiesen bzw. ist darauf nicht eingetreten (angefochtener Entscheid S. 7). Gleichwohl nahmen die Beschwerdegegner 2 und 3 in jener Eingabe ausführlich Stellung zu den Vorbringen der Beschwerdeführerin 1 in deren Stellungnahme vom 27. Juni 2019 (kant. Akten, act. 201 S. 4 ff.). Ausserdem reichten sie weitere Urkunden ein (kant. Akten, act. 203). Dazu hätte sich die Beschwerdeführerin 1 im Rahmen des Replikrechts nochmals äussern dürfen. Durch die unterlassene Zustellung verletzte die Vorinstanz das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin 1. Da der Anspruch auf rechtliches Gehör formeller Natur ist, führt seine Verletzung grundsätzlich und ungeachtet der materiellen Begründetheit der Beschwerde zu deren Gutheissung und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 137 I 195 E. 2.2; 132 V 387 E. 5.1; 127 V 431 E. 3d/aa). Eine Heilung dieses Verfahrensmangels im bundesgerichtlichen Verfahren fällt nur schon deshalb ausser Betracht, weil das Bundesgericht in tatsächlicher Hinsicht nicht über volle Kognition verfügt (vgl. Art. 105 Abs. 2 BGG; zum Ganzen BGE 137 I 195 E. 2.3.2 mit Hinweisen) und vorliegend Sachverhaltsfragen, namentlich solche im Zusammenhang mit der üblen Nachrede zum Nachteil des Beschwerdegegners 3, zur Diskussion stehen könnten. Es erübrigt sich, auf die weiteren Rügen der Beschwerdeführerin 1 einzugehen.
9
3. Die Beschwerde im Verfahren 6B_1400/2019 ist gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung (unter Gewährung des rechtlichen Gehörs) an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Zürich und die Beschwerdegegner 2 und 3 haben die Beschwerdeführerin 1 für das bundesgerichtliche Verfahren unter solidarischer Haftung angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 2 und 4 i.V.m. Art. 66 Abs. 5 BGG). Die Beschwerde im Verfahren 6B_1413/2019 ist dagegen als gegenstandslos abzuschreiben. Eine summarische Beurteilung der Kosten- und Entschädigungsfolgen, d.h. eine Einschätzung, wer im Entscheidfall mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als unterliegende Partei zu betrachten gewesen wäre (vgl. Art. 71 BGG i.V.m. Art. 72 BZP), entfällt. Ohnehin sind in diesem Verfahren keine Vernehmlassungen eingeholt worden.
10
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Verfahren 6B_1400/2019 und 6B_1413/2019 werden vereinigt.
 
2. Die Beschwerde im Verfahren 6B_1400/2019 wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 12. September 2019 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
3. Das Verfahren 6B_1413/2019 wird als gegenstandslos abgeschrieben.
 
4. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
5. Der Kanton Zürich und die Beschwerdegegner 2 und 3 haben der Beschwerdeführerin 1 für das bundesgerichtliche Verfahren 6B_1400/2019 eine Parteientschädigung von je Fr. 1'000.--, d.h. insgesamt Fr. 3'000.--, unter solidarischer Haftung eines jeden für den vollen Betrag von Fr. 3'000.--, auszurichten.
 
6. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 23. Oktober 2020
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Der Gerichtsschreiber: Reut
 
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