BGer 6B_73/2020 | |||
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BGer 6B_73/2020 vom 03.11.2020 |
6B_73/2020 |
Urteil vom 3. November 2020 |
Strafrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichter Denys, Präsident,
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Bundesrichterin van de Graaf,
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Bundesrichterin Koch,
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Gerichtsschreiber Held.
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Verfahrensbeteiligte | |
A.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Kaiser,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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1. Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Spisergasse 15, 9001 St. Gallen,
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2. B.________,
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Beschwerdegegner.
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Gegenstand
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Wiederaufnahme nach Strafprozessgesetz des
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Kantons Sankt Gallen (Revision),
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Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 13. November 2019 (AK.2019.304-AK (ST.2003.26786)).
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Erwägungen: | |
1. Das Untersuchungsamt Altstätten sprach gegen den Beschwerdegegner mit Strafbescheid vom 26. Februar 2004 eine bedingte Freiheits-strafe von drei Monaten und eine Busse von Fr. 1'000.- wegen mehrfacher fahrlässiger Körperverletzung, grober Verkehrsregelverletzung und Nichttragens der Sicherheitsgurte aus. Der Strafbescheid erwuchs in Rechtskraft.
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Die Vorinstanz trat am 13. November 2019 auf ein von der Beschwerdeführerin erhobenes "Revisionsbegehren" nicht ein. Sie erwägt, der Strafbescheid sei vor Inkraftreten der StPO ergangen, weshalb das Gesuch der Beschwerdeführerin gemäss Art. 453 Abs. 1 StPO nach damaligem Recht von der Anklagekammer zu behandeln sei. Nach aArt. 249 des Strafprozessgesetzes des Kantons St. Gallen vom 1. Juli 1999 (StP/SG; sGS 962.1) könne die Wiederaufnahme vom Beschuldigten und vom Staatsanwalt beantragt werden, hingegen sei die Beschwerdeführerin als "Kläger" - im Unterschied zu anderen [ehemaligen] kantonalen Prozessordnungen oder zur Regelung des Bundes - insoweit nicht legitimiert. Auch könne der Beschwerdeführerin gestützt auf aArt. 8 Abs. 1 lit. c OHG die Berechtigung zur Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs nicht zuerkannt werden, da sie weder im damaligen Strafverfahren noch mit dem Wiederaufnahmegesuch Zivilansprüche geltend gemacht habe.
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2. Die Beschwerdeführerin beantragt mit Beschwerde in Strafsachen im Hauptpunkt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Angelegenheit im Sinne der Erwägungen zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sie rügt sinngemäss, die Vorinstanz wende aArt. 248 ff. StP/SG willkürlich an, indem sie ihre Legitimation zur Stellung eines Revisionsbegehrens (recte: Wiederaufnahmegesuchs) verneine. Sie (die Beschwerdeführerin) sei durch den vom Beschwerdegegner verursachten Autounfall in ihren rechtlich geschützten Interessen betroffen und somit gemäss aArt. 42 StP/SG im damaligen kantonalen Verfahren berechtigt gewesen, Strafklage zu erheben und im Strafverfahren Parteirechte auszuüben. Diese umfassten auch die Legitimation zur Einreichung eines Wiederaufnahmegesuchs, auch wenn aArt. 249 StP/SG eine solche für die Privatklägerin nicht erwähne. Ihr wurde im damaligen Verfahren weder eine Genugtuung noch Schadensersatz zugesprochen, weshalb sie durch den Entscheid, dessen Wiederaufnahme sie beantragt habe, in ihren rechtlichen Interessen betroffen sei. Zudem verletze die Vorinstanz ihre Begründungspflicht, da sie nicht prüfe, ob bei aArt. 249 StP/SG von einem qualifizierten Schweigen des Gesetzgebers auszugehen sei oder eine Lücke im Gesetz vorliege.
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3. Mit der Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht kann insbesondere die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Soweit die Vorinstanz kantonales Recht anzuwenden hatte, kann im Wesentlichen geltend gemacht werden, der angefochtene Entscheid verstosse gegen Bundesrecht und die Bundesverfassung. Dabei prüft das Bundesgericht die Auslegung und Anwendung kantonalen Rechts nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür und Vereinbarkeit mit anderen bundesverfassungsmässigen Rechten (Art. 95 BGG; BGE 141 I 105 E. 3.3.1; 138 I 143 E. 2; je mit Hinweisen).
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Willkür in der Rechtsanwendung liegt vor, wenn der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Erforderlich ist, dass nicht bloss die Begründung, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist (BGE 144 I 170 E. 7.3; 140 III 16 E. 2.1, 167 E. 2.1; je mit Hinweisen).
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4. | |
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf überhaupt eingetreten werden kann. Die Beschwerdeführerin zeigt nicht auf, inwieweit die Vorinstanz das kantonale Verfahrensrecht in unhaltbarer Weise angewendet haben soll; dies ist auch nicht ersichtlich. Die Beschwerdeführerin beschränkt sich darauf darzulegen, wie das ehemalige kantonale Strafprozessgesetz ihrer Ansicht nach auszulegen ist, ohne sich jedoch näher mit der von der Vorinstanz vorgenommenen Rechtsauslegung und -anwendung auseinanderzusetzen. Die Vorinstanz legt unter Anführung kantonaler Rechtsprechung und Literatur nachvollziehbar und überzeugend dar, dass und warum die Beschwerdeführerin nicht legitimiert ist, ein Wiederaufnahmegesuch zu stellen. Sie weist zutreffend darauf hin, dass nach dem Wortlaut von aArt. 249 StP/SG - soweit vorliegend von Bedeutung - lediglich "der Angeschuldigte und der Staatsanwalt", jedoch nicht der "Kläger" oder andere Verfahrensbeteiligte die Wiederaufnahme des mit rechtskräftigem Entscheid abgeschlossenen Strafverfahrens beantragen können. Auch die Beschwerdeführerin räumt explizit ein, dass aArt. 249 StP/SG "betreffend die Legitimation der Privatklägerschaft keine Regelung" enthält. Soweit sie - losgelöst von den vorinstanzlichen Erwägungen - unter Hinweis auf aArt. 42 StP/SG - ausführt, dass die Parteirechte des "Klägers" auch die Einreichung eines Gesuchs um Wiederaufnahme umfassen, ist dies ungeeignet, die vorinstanzliche Auslegung des kantonalen Prozessrechts als unhaltbar erscheinen zu lassen, und überzeugt im Übrigen nicht. Dass aus der gemäss aArt. 42 StP/SG dem "Kläger" eingeräumten Befugnis, Strafklage zu erheben und die zur Wahrung seiner rechtlich geschützten Interessen erforderlichen Parteirechte wahrzunehmen, nicht auch dessen umfassende Legitimation zur Ergreifung von Rechtsmitteln abgeleitet werden kann, ergibt sich bereits daraus, dass der Gesetzgeber die Legitimation der am Strafverfahren beteiligten Parteien und weiteren Personen für jedes Rechtsmittel explizit und unterschiedlich regelt. So kann der "Kläger" nur gegen Bussenverfügungen (aArt. 171 Abs. 1 StP/SG) und Strafbescheide (aArt. 186 Abs. 1 StP/SG) Einsprache und gegen Nichteintretens-, Aufhebungs- und Einstellungsverfügungen sowie Sachurteile, letztere beschränkt auf die Kostenauflage und Zivilklage mit einem Streitwert von über Fr. 5'000.-, Rechtsmittel erheben (aArt. 222 Abs. 1 lit. c i.V.m. aArt. 223, aArt. 230 Abs. 1 und aArt. 237 StP/SG). Als lex specialis beschränkt aArt. 249 StP/SG darüber hinaus die Legitimation zur Stellung eines Gesuchs um Wiederaufnahme ausschliesslich auf den Angeschuldigten und den Staatsanwalt. Ob mit der Vorinstanz entgegen dem Wortlaut von Art. 249 StP/SG aus aArt. 8 Abs. 1 lit. c OHG eine (selbständige) Legitimation des zuvor am Verfahren beteiligten Opfers abgeleitet werden kann, soweit der wiederaufzunehmende Entscheid sich auf die Beurteilung allfälliger Zivilansprüche auswirken kann, erscheint fraglich, kann aber offenbleiben, da die Beschwerdeführerin im kantonalen Verfahren keine Zivilansprüche geltend gemacht hat. Nicht zu hören ist die Beschwerdeführerin ferner mit der Rüge, die Vorinstanz sei aufgrund der "Star-Praxis" verpflichtet gewesen, auf ihr Begehren einzutreten. Abgesehen davon, dass diese Rechtsprechung Eintretensfragen vor Bundesgericht und nicht vor kantonalen Instanzen betrifft, zielt die Argumentation der Beschwerdeführerin im Ergebnis auf eine materielle Überprüfung des angefochtenen Entscheids ab, auf welche nicht einzutreten wäre (vgl. BGE 141 IV 1 E. 1.1 S. 5 mit Hinweisen).
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Dass die Vorinstanz die Rechtsmittellegitimation der Beschwerdeführerin verneint, ist nicht zu beanstanden. Auf die Rügen gegen die Erwägungen, mit denen die Vorinstanz das Gesuch zusätzlich als unbegründet abweist, ist nicht einzugehen.
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5. Die Beschwerde ist im Verfahren gemäss Art. 109 BGG abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Die Gerichtskosten sind der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
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3. Dieses Urteil wird den Parteien und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 3. November 2020
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Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Denys
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Der Gerichtsschreiber: Held
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