BGer 2C_947/2020 | |||
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BGer 2C_947/2020 vom 15.12.2020 |
2C_947/2020 |
Verfügung vom 15. Dezember 2020 | |
Besetzung
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Bundesrichter Zünd, als Einzelrichter,
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Gerichtsschreiber Brunner.
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Verfahrensbeteiligte | |
A.________,
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Beschwerdeführer,
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vertreten durch Lea Hungerbühler, Rechtsanwältin und Leonie Haug,
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gegen
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Migrationsamt des Kantons Basel-Stadt, Spiegelgasse 12, 4051 Basel.
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Gegenstand
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Dublinhaft,
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Beschwerde gegen das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt als Verwaltungsgericht, Einzelrichterin für Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, vom 27. Oktober 2020 (AUS.2020.46).
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Sachverhalt: |
A. | |
A.________ (geb. 1984) ist Staatsangehöriger Afghanistans. Am 1. September 2020 stellte er in der Schweiz ein Asylgesuch; darauf trat das Staatssekretariat für Migration (SEM) mit Verfügung vom 23. September 2020 aufgrund der staatsvertraglichen (Verordnung [EU] Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist [ABl. L 180 vom 29. Juni 2013 S. 31 ff.]; nachfolgend: Dublin-III-Verordnung) Prüfungszuständigkeit Österreichs nicht ein; gleichzeitig ordnete es die Wegweisung und den Wegweisungsvollzug nach Österreich an.
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B. | |
Am 9. Oktober 2020 führte das Migrationsamt Basel-Stadt (nachfolgend: das Migrationsamt) ein Ausreisegespräch mit A.________ durch. Dabei bekundete dieser, nicht freiwillig nach Österreich zurückzukehren. Auch nach Afghanistan wolle er sich nicht begeben. In der Folge wurde A.________ am 26. Oktober 2020 im Bundesasylzentrum Basel verhaftet und dem Migrationsamt zugeführt. Anlässlich der Gewährung des rechtlichen Gehörs zu der in Erwägung gezogenen Ausschaffungshaft erklärte A.________, an seiner Meinung habe sich nichts geändert; er wisse, dass Österreich ihn nach Afghanistan deportieren werde; deshalb gehe er nicht dorthin zurück. In der Folge verfügte das Migrationsamt eine Ausschaffungshaft von sechs Wochen bis zum 7. Dezember 2020 (08.15 Uhr). Dagegen gelangte A.________ an das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt (nachfolgend: das Appellationsgericht). Dieses bestätigte die angeordnete Ausschaffungshaft mit Urteil vom 27. Oktober 2020.
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C. | |
C.a. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 17. November 2020 ficht A.________ das Urteil des Appellationsgerichts vom 27. Oktober 2020 beim Bundesgericht an. Er beantragt die Aufhebung des Urteils des Appellationsgerichts und die Haftentlassung; eventualiter sei die Angelegenheit zu vertieften Abklärungen und zur Neubeurteilung an das Appellationsgericht zurückzuweisen; subeventualiter sei festzustellen, dass die Haft unrechtmässig gewesen sei. Prozessual ersucht A.________ um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und um Beiordnung seiner Rechtsvertreterin als amtlichen Rechtsbeistand.
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C.b. Mit Präsidialverfügung vom 19. November 2020 hat das Bundesgericht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses antragsgemäss verzichtet. Dem prozessualen Gesuch um sofortige Haftentlassung hat es nicht entsprochen.
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C.c. Das Migrationsamt beantragt sinngemäss die Abweisung der Beschwerde. Das Appellationsgericht schliesst sich diesem Antrag an.
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D. | |
Mit Schreiben vom 30. November 2020 teilte das Staatssekretariat für Migration (SEM) dem Bundesgericht mit, dass die Wegweisung A.________ nach Österreich am 27. November 2020 habe vollzogen werden können.
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Erwägungen: |
1. | |
1.1. Gegen den kantonal letztinstanzlichen Entscheid betreffend Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht grundsätzlich zulässig (Art. 82 i.V.m. Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG; BGE 142 I 135 E. 1 S. 137 ff.; Urteil 2C_496/2016 vom 21. Juni 2016 E. 1 m.w.H.). Nach Art. 89 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten allerdings nur legitimiert, wer ein schutzwürdiges Interesse an der Beurteilung seiner Eingabe hat (lit. c). Dieses Interesse muss nicht nur bei der Beschwerdeeinreichung, sondern auch im Zeitpunkt der Urteilsfällung noch aktuell und praktisch sein. Fällt das Interesse im Verlaufe des Verfahrens dahin, wird die Sache als erledigt abgeschrieben (BGE 142 I 135 E. 1.3.1 S. 143; 139 I 206 E. 1.1 S. 208; 137 I 296 E. 4.2 S. 299). Die Freilassung oder Ausschaffung eines Ausländers lässt das aktuelle und praktische Interesse an der Überprüfung eines Haftentscheids regelmässig entfallen.
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Zwar besteht die Möglichkeit, ausnahmsweise vom Erfordernis des aktuellen und praktischen Interesses abzusehen (vgl. BGE 142 I 135 E. 1.3.1 S. 143; 139 I 206 E. 1.2.1 S. 208 f.; Urteil 2C_373/2017 vom 14. Februar 2019 E. 1.3, nicht publ. in BGE 145 I 308); die entsprechenden Voraussetzungen sind vorliegend jedoch nicht erfüllt: Zum einen ist ohne weiteres denkbar, dass die vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Rechtsfragen sich in zukünftigen Fällen zur Dublin-Haft erneut stellen werden, und dann auch höchstrichterlich beantwortet werden können. Zum anderen wird die Verletzung von EMRK-Garantien in der Beschwerde nur sehr oberflächlich und ausschliesslich hinsichtlich der angeblich fehlenden Absehbarkeit des Wegweisungsvollzugs nach Österreich gerügt; die entsprechenden Ausführungen sind nicht rechtsgenüglich substanziiert (Art. 106 Abs. 2 BGG). Die Rüge, wonach es vorliegend an einem gesetzlichen Haftgrund fehle, ist zwar hinreichend substanziiert. Insoweit wird vonseiten des Beschwerdeführers jedoch kein Konnex zur EMRK hergestellt; zudem stellt der Beschwerdeführer keinen entsprechenden Feststellungsantrag, auch nicht nachdem er von der Vernehmlassung des SEM vom 30. November 2020 Kenntnis erhalten hat.
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1.2. Der Rechtsstreit ist daher gegenstandslos geworden, weswegen der Instruktionsrichter als Einzelrichter die Abschreibung des Verfahrens zu verfügen hat (Art. 32 Abs. 2 BGG). Die Kosten sind anhand einer summarischen Beurteilung aufgrund der Sachlage vor Eintritt des Erledigungsgrunds zu verlegen (Art. 71 BGG i.V.m. Art. 72 des Bundesgesetzes vom 4. Dezember 1947 über den Bundeszivilprozess [BZP; SR 273]). Es ist auf den mutmasslichen Ausgang des Prozesses abzustellen (BGE 125 V 373 E. 2.a S. 374 f.).
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2. | |
Der Beschwerdeführer rügte, der von der Vorinstanz angerufene Haftgrund von Art. 76a Abs. 1 lit. b AIG sei vorliegend nicht gegeben.
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2.1. Nach Art. 28 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung dürfen die Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Haft nehmen, weil sie dem durch die Dublin-III-Verordnung festgelegten Verfahren unterliegt. Die Inhaftierung einer Person im Rahmen eines Dublin-Verfahrens ist vielmehr nur dann zulässig, wenn erhebliche Fluchtgefahr vorliegt und die Haft insoweit geeignet ist, die Überstellung in den zuständigen Dublin-Staat sicherzustellen (vgl. Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung). In Ausführung von Art. 2 lit. n Dublin-III-Verordnung (Definition des Begriffs der "Fluchtgefahr" und Erfordernis objektiver gesetzlich festgelegter Kriterien) definiert Art. 76a Abs. 2 AIG verschiedene "konkrete Anzeichen, die befürchten lassen, dass sich die betroffene Person der Durchführung der Wegweisung entziehen will". Dazu gehört insbesondere der von der Vorinstanz angerufene Haftgrund von Art. 76a Abs. 2 lit. b AIG, wonach die Dublin-Ausschaffungshaft angeordnet werden kann, wenn das Verhalten der ausländischen Person in der Schweiz oder im Ausland darauf schliessen lässt, dass sie sich behördlichen Anordnungen widersetzt.
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2.2. Die Vorinstanz begründete das Vorliegen des Haftgrunds von Art. 76a Abs. 2 lit. b AIG im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer in Kenntnis seiner Ausreisepflicht gegenüber den kantonalen Migrationsbehörden mehrmals bekundet habe, nicht nach Österreich zurückkehren zu wollen (vgl. Bst. B hiervor). Der Beschwerdeführer hielt dem entgegen, dass aus solchen Äusserungen nicht auf eine erhebliche Fluchtgefahr geschlossen werden könne.
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2.2.1. Konstellationen wie die vorliegende sind dem Bundesgericht in Fällen zur Ausschaffungshaft bereits mehrfach vorgelegt worden. Das Bundesgericht hat dabei festgehalten, dass ein Ausländer allein wegen der Äusserung, lieber in der Schweiz verbleiben als ins Ausland zu verreisen, nicht in Ausschaffungshaft genommen werden dürfe, solange er noch mit einem Rechtsmittel um sein Bleiberecht streite (vgl. Urteil 2A.1/1998 vom 23. Januar 1998 E. 4c, m.w.H.). Darüber hinausgehend - und ohne Hinweis auf allfällig hängige Rechtsmittelverfahren bezüglich des Aufenthaltsrechts - hat es explizit darauf hingewiesen, dass aus dem offen deklarierten Wunsch eines Ausländers, in der Schweiz verbleiben zu wollen, nicht automatisch der Schluss gezogen werden dürfe, dass sich dieser auch einer behördlichen Ausschaffung entziehen werde (a.a.O.). Das Bundesgericht hat es in diesem Sinne abgelehnt, allein aus der Äusserung, die Schweiz nicht verlassen bzw. nicht in den Heimatstaat zurückreisen zu wollen, automatisch auf eine Untertauchensgefahr zu schliessen.
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2.2.2. Zu den gleichen Schlüssen ist der EGMR in einem Fall gelangt, in welchem die Schweizerischen Behörden die Anordnung der Ausschaffungshaft unter anderem damit begründet hatten, dass der Beschwerdeführer sich mehrmals dahingehend geäussert hatte, die Schweiz nicht verlassen zu wollen; überdies hatte er sich geweigert, ein Formular für die Organisation der Ausreise zu unterzeichnen (vgl. EGMR, 2.12.2010, Jusic v. Schweiz, Rn. 64 und 81). Entscheidend war für den EGMR in diesem Fall, dass der damalige Beschwerdeführer nie ausdrücklich in Aussicht gestellt hätte, sich dem Wegweisungsvollzug zu entziehen ("de se soustraire à la décision de renvoi"; a.a.O. Rn. 81).
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2.2.3. Im vorliegenden Fall waren andere Bestimmungen massgeblich gewesen, als in den vorerwähnten Fällen. Aus der Dublin-III-Verordnung ergibt sich für die Anordnung von Überstellungshaft ausdrücklich das Erfordernis objektiver gesetzlich festgesetzter Kriterien (vgl. E. 2.1 hiervor). Es besteht jedenfalls kein Anlass, mit Blick auf die - auch unter dem Gesichtspunkt von Art. 76a Abs. 2 lit. b AIG letztlich entscheidende - Untertauchensgefahr (BGE 142 I 135 E. 4.2 S. 151; Urteil 2C_199/2018 vom 9. Juli 2018 E. 4.1) von weniger strengen Massstäben auszugehen, als dies das Bundesgericht und der EGMR in Fällen zur Ausschaffungshaft in der Vergangenheit getan haben (vgl. E. 2.2.1 und 2.2.2 hiervor). Es wäre zwar nicht ausgeschlossen, den Haftgrund von Art. 76a Abs. 2 lit. b AIG anzunehmen, wenn der betreffende Ausländer ausdrücklich bekundet hätte, sich der anstehenden Überstellung entziehen zu wollen. Davon wäre jedoch nur mit grösster Zurückhaltung auszugehen, solange sich solche Aussagen nicht auch in konkreten Handlungen niedergeschlagen hätten. Erforderlich wäre, dass der betreffende Ausländer mit seinen Aussagen klar zum Ausdruck gebracht hätte, dass er nicht freiwillig in den zuständigen Dublin-Staat reisen und sich vor allem auch nicht für eine behördliche Durchsetzung seiner Rückführung zur Verfügung halten werde (vgl. in diesem Zusammenhang auch die ständige Rechtsprechung des deutschen BGH, 20.5.2020, XIII ZB 71-19, Rn. 11; 20.10.2016, V ZB 13/16, Rn. 5; 12.5.2016, V ZB 27/16, Rn. 5).
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2.2.4. Diese Voraussetzungen wären vorliegend mutmasslich nicht erfüllt gewesen: Der Beschwerdeführer hat zwar wiederholt zum Ausdruck gebracht, nicht nach Österreich zurückkehren zu wollen (vgl. E. 2.2 hiervor). In konkrete Handlungen hat er diese Äusserungen jedoch - jedenfalls bis zum Zeitpunkt des angefochtenen Urteils - nicht umgesetzt. Auch hat er nicht bekundet, sich gegen eine behördliche Durchsetzung der Rückführung nach Österreich zur Wehr setzen zu wollen.
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2.3. Damit dürften jedenfalls bis zum Erlass des angefochtenen Urteils keine hinreichenden Gründe für die Annahme vorgelegen haben, dass sich der Beschwerdeführer der anstehenden Überstellung nach Österreich entziehen werde. Unter diesen Umständen fehlte es mutmasslich an dem von der Vorinstanz angerufenen Haftgrund. Da der Kanton Basel-Stadt damit im vorliegenden Verfahren mutmasslich unterlegen wäre, sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Basel-Stadt hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen.
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird als gegenstandslos abgeschrieben
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2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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3. Der Kanton Basel-Stadt hat der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers eine Parteientschädigung von Fr. 1'800.-- zu entrichten.
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4. Diese Verfügung wird den Verfahrensbeteiligten, dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt als Verwaltungsgericht, Einzelrichterin für Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 15. Dezember 2020
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Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Einzelrichter: Zünd
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Der Gerichtsschreiber: Brunner
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