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Informationen zum Dokument  BGer 8C_777/2019  Materielle Begründung
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BGer 8C_777/2019 vom 16.12.2020
 
 
8C_777/2019
 
 
Urteil vom 16. Dezember 2020
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
 
Gerichtsschreiberin Durizzo.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Davide Loss,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
 
vom 7. Oktober 2019 (IV.2017.01091).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. A.________, geboren 1956, hatte sich am 4. Juli 2006 bei einer Auffahrkollision ein Distorsionstrauma der Halswirbelsäule zugezogen. Mit Verfügung vom 11. November 2010 sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Zürich für die Zeit vom 1. Mai 2008 bis 30. September 2008 eine halbe Invalidenrente zu. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich bestätigte die Verfügung mit Entscheid vom 31. Mai 2012. Am 31. August 2012 beantragte A.________ dessen Revision unter Hinweis auf einen neuen Arztbericht. Das Sozialversicherungsgericht lehnte das Gesuch ab (Entscheid vom 26. September 2012). Gestützt auf das bundesgerichtliche Rückweisungsurteil 8C_899/2012 vom 7. Mai 2013 holte das Sozialversicherungsgericht ein Gutachten des Zentrums für Arbeitsmedizin, Ergonomie und Hygiene (AEH), Zürich, vom 2. Oktober 2015 ein mit Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit und neurologisch-neuropsychologischer Untersuchung. Dessen Fachpersonen hatten sich bereits im Jahr 2009, damals im Auftrag des Unfallversicherers, mit dem Fall befasst. Mit Entscheid vom 3. März 2016 wies das Sozialversicherungsgericht das Revisionsgesuch wiederum ab. Das Bundesgericht bestätigte diesen Entscheid mit Urteil 8C_323/2016 vom 11. August 2016. Es wurde insbesondere mit dem kantonalen Gericht festgestellt, dass bis zum Erlass der Verfügung der IV-Stelle vom 11. November 2010 keine rentenbegründende Invalidität eingetreten sei (E. 5).
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A.b. Im April 2016 meldete sich A.________ erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 6. September 2017 lehnte die IV-Stelle den Anspruch auf eine Invalidenrente ab.
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B. A.________ liess dagegen Beschwerde erheben mit dem Antrag, es sei ihm eine halbe Invalidenrente zuzusprechen. Des Weiteren ersuchte er um Durchführung einer öffentlichen Verhandlung. Nach einer Rückfrage bei seinem Rechtsvertreter lud das Sozialversicherungsgericht die Parteien zu einer Instruktionsverhandlung vor. Mit Entscheid vom 7. Oktober 2019 wies es die Beschwerde ab.
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C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen zur Neubeurteilung seines Rentenanspruchs nach Durchführung einer öffentlichen Verhandlung. Eventualiter sei ihm ab 1. November 2016 eine halbe Invalidenrente zuzusprechen.
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Das kantonale Gericht liess sich auf Einladung hin zum letztinstanzlich gestellten Hauptantrag vernehmen, wozu sich der Beschwerdeführer mit einer weiteren Eingabe äusserte.
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Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).
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2.
 
2.1. Die zunächst streitige Frage, ob Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt wurde, indem das kantonale Gericht von einem Verzicht des Beschwerdeführers auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung ausging, kann offen bleiben, da die Sache ohnehin zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.
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2.2. Umstritten ist des Weiteren, ob die vorinstanzlich bestätigte Ablehnung eines Rentenanspruchs nach Neuanmeldung mit Verfügung vom 6. September 2017 vor Bundesrecht standhält. Zur Frage steht dabei, ob sich hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit eine Verschlechterung, namentlich auch aus psychischen Gründen, eingestellt hat.
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3. Das kantonale Gericht hat die Bestimmung und die Rechtsprechung zur Anspruchsprüfung bei einer Neuanmeldung nach vorausgegangener Rentenverweigerung (Art. 87 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 IVV; BGE 130 V 71 E. 2.2 S. 72) unter analoger Anwendung der Grundsätze zur Rentenrevision nach Art. 17 ATSG (BGE 134 V 131 E. 3 S. 132 f.; 133 V 108; 130 V 71; 130 V 71 E. 3.1 S. 73; 117 V 198 E. 3a) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der Regeln über den Beweiswert eines ärztlichen Berichts oder Gutachtens (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352).
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4. In Würdigung der Aktenlage stellte das kantonale Gericht fest, dass der Sachverhalt umfassend abgeklärt sei, namentlich kein Anlass für die Anordnung einer psychiatrischen Untersuchung bestehe. Seit der Rentenverweigerung ab dem 1. Oktober 2009 mit bundesgerichtlich bestätigter Verfügung vom 11. November 2010 (Urteil 8C_323/2016 vom 11. August 2016) sei zudem keine relevante Veränderung des Gesundheitszustandes eingetreten. Es stellte diesbezüglich auf das im Revisionsverfahren eingeholte Gerichtsgutachten der AEH vom 2. Oktober 2015 ab, dem es volle Beweiskraft zumass. Sowohl im angestammten Beruf als Auto-Occasionshändler wie auch in einer leidensangepassten Tätigkeit erachtete es, letzteres jedoch in Abweichung vom Gutachten, eine Arbeitsfähigkeit von 70 % als zumutbar.
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5. Soweit der Beschwerdeführer erneut vorbringt, der Verzicht auf eine psychiatrische Abklärung stelle eine unrichtige und unvollständige Sachverhaltsfeststellung dar, vermag er damit keine Bundesrechtsverletzung darzutun. So bestanden, wie das kantonale Gericht schlüssig aufzeigte, keine Anzeichen für eine psychische Erkrankung, zumal der Beschwerdeführer Entsprechendes weder bei seiner Neuanmeldung im April 2016 noch später vor der IV-Stelle geltend machte. Gemäss seinen damaligen Angaben stand er lediglich in hausärztlicher sowie rheumatologischer Behandlung, was mit den von der IV-Stelle eingeholten Berichten dokumentiert ist. Dass er aus psychiatrischen Gründen (vom Hausarzt) mit Antidepressiva hätte versorgt werden müssen, ist anhand dieser Stellungnahmen nicht belegt. Insoweit kann daher eine weitere Verschlechterung seit der Befunderhebung durch die AEH-Gutachter im Jahr 2015 nicht als erstellt gelten. Diese waren damals aufgrund der Angaben des Beschwerdeführers ausdrücklich davon ausgegangen, es habe sich zwar seit ihrer letzten Begutachtung im Jahr 2009 eine quantitative Progredienz sämtlicher bisheriger Beschwerden eingestellt, hingegen hätten sich keine neuen Aspekte ergeben. Der vorinstanzliche Verzicht auf diesbezügliche beweismässige Weiterungen ist daher nicht zu beanstanden. Wenn die Vorinstanz bei der gegebenen Aktenlage auf psychiatrische Abklärungen verzichtete, ist dies weder offensichtlich unrichtig noch sonstwie bundesrechtswidrig.
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6. Der Beschwerdeführer rügt im Weiteren, das kantonale Gericht sei hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit zu Unrecht von der interdisziplinären Einschätzung durch die AEH-Gutachter mit Bescheinigung einer lediglich 50%igen Arbeitsfähigkeit abgewichen.
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6.1. Die Vorinstanz bemängelte die interdisziplinäre Einschätzung der Arbeitsfähigkeit im AEH-Gutachten, welche hinsichtlich der angestammten Tätigkeit über die Bescheinigung der neurologisch-neuropsychologischen Expertin (70 %) hinausging.
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6.2. Bei Vorliegen eines Gerichtsgutachtens weicht das Gericht nicht ohne zwingende Gründe von der Einschätzung der medizinischen Experten ab, deren Aufgabe es ist, ihre Fachkenntnisse der Gerichtsbarkeit zur Verfügung zu stellen, um einen bestimmten Sachverhalt medizinisch zu erfassen (BGE 125 V 351 E. 3b/aa S. 352 f. mit Hinweis; SVR 2015 UV Nr. 4 S. 13, 8C_159/2014 E. 3.2; Urteil 8C_132/2018 vom 27. Juni 2018 E. 6.1.2).
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6.3. Die Vorinstanz scheint sich daran gestört zu haben, dass die AEH-Gutachter bezüglich der noch zumutbaren Arbeitsfähigkeit nach ihrer interdisziplinären Besprechung unter Mitwirkung des federführenden Rheumatologen, des Physiotherapeuten sowie der Neurologin und Neuropsychologin von der Beurteilung durch die letztgenannte Expertin abwichen. Aus deren fachärztlicher Sicht betrug die Arbeitsfähigkeit 70 % in jeder angepassten Tätigkeit, aber namentlich auch im angestammten Beruf als Auto-Occasionshändler. Aus rein rheumatologischer Sicht wurden zwar keine berufsrelevanten Einschränkungen festgestellt. Dennoch gingen die Gutachter im Konsens davon aus, dass die geklagten muskuloskelettalen Beschwerden, aber auch eine nicht kontrollierte arterielle Hypertonie sowie weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren durch die neuropsychologischen Defizite (im Sinne mentaler Stressoren bei Vorliegen zerebraler struktureller Veränderungen) verstärkt würden. Sie bescheinigten dem Beschwerdeführer daher im angestammten Beruf eine 50%ige Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. Nur Tätigkeiten mit wenig Verantwortung und Erfolgsabhängigkeit seien zu 70 % zumutbar. Unter Abweichung von der interdisziplinären Einschätzung setzte das kantonale Gericht die Arbeitsfähigkeit auch in der angestammten Tätigkeit als Auto-Occasionshändler auf 70 % fest.
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6.4. Bei Zweifeln an der vom AEH attestierten Arbeitsfähigkeit wäre die Vorinstanz indessen gehalten gewesen, bei den Gutachtern, die sie selber mit der Untersuchung beauftragt hatte, nachzufragen. Indem sie, ohne über die erforderlichen Fachkenntnisse zu verfügen, den Umfang der medizinisch-theoretischen Arbeitsfähigkeit eigenständig festsetzte, verletzte sie die bundesrechtlichen Beweiswürdigungsregeln (oben E. 6.2) und den Untersuchungsgrundsatz. Der angefochtene Entscheid erweist sich insoweit als bundesrechtswidrig. Die Sache ist daher zur diesbezüglichen sachverhaltlichen Ergänzung in medizinischer Hinsicht sowie zu neuer Entscheidung (sofern verlangt, nach Durchführung einer öffentlichen Verhandlung) an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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7. Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Rückweisung der Sache an das kantonale Gericht oder an den Versicherungsträger zur erneuten Abklärung (mit noch offenem Ausgang) gilt praxisgemäss für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten als volles Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235; Urteil 8C_715/2016 vom 6. März 2017 E. 6). Die Gerichtskosten werden daher der unterliegenden Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Des Weiteren hat sie dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 7. Oktober 2019 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 16. Dezember 2020
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo
 
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