BGer 4A_529/2020 | |||
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BGer 4A_529/2020 vom 22.12.2020 |
4A_529/2020 |
Urteil vom 22. Dezember 2020 |
I. zivilrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichterin Kiss, Präsidentin,
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Bundesrichterin Hohl,
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Bundesrichter Rüedi,
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Bundesrichterin May Canellas,
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nebenamtlicher Bundesrichter Kölz,
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Gerichtsschreiber Stähle.
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Verfahrensbeteiligte | |
A.________,
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vertreten durch Rechtsanwälte Thibaut Meyer und Patrick Wagner,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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B.________ AG,
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vertreten durch Rechtsanwältin Marisa Bützberger,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Haftpflichtrecht; Teilklage; negative Feststellungswiderklage,
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Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zug, I. Zivilabteilung, vom 29. September 2020 (Z1 2019 36).
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Sachverhalt: | |
A. Am 25. November 2005 ereignete sich vor dem Kreisel Richtung U.________ in V.________ ein Strassenverkehrsunfall. A.________ (Beschwerdeführerin) verlangt in diesem Zusammenhang Schadenersatz von der B.________ AG (Beschwerdegegnerin), bei welcher der andere am Unfall beteiligte Fahrzeuglenker haftpflichtversichert war. Am 18. Oktober 2018 erhob sie beim Kantonsgericht Zug Klage mit den folgenden Rechtsbegehren:
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"1. Es sei die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin CHF 30'000.00 nebst Zins zu 5 % p.a. seit 25. November 2005 (ein Anteil des der Klägerin zwischen dem 25. November 2005 und dem 31. Oktober 2018 entstandenen Erwerbsausfallschadens) zu bezahlen.
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2. Es sei davon Vormerk zu nehmen, dass es sich bei der vorliegenden Klage um eine Teilklage (ein Anteil des der Klägerin zwischen dem 25. November 2005 und dem 31. Oktober 2018 entstandenen Erwerbsausfallschadens) handelt und dass gegenüber der Beklagten weitere Forderungen aus dem Unfall vom 25. November 2005 vorbehalten bleiben.
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[Kosten- und Entschädigungsfolge] "
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In ihrer Antwort vom 8. Januar 2019 schloss die B.________ AG auf Abweisung der Klage und erhob Widerklage mit dem Antrag, es sei festzustellen, dass sie A.________ aus dem Unfallereignis vom 25. November 2005 keinerlei Leistungen schuldet. Zudem stellte sie in prozessualer Hinsicht den Antrag, das Verfahren sei an das für das ordentliche Verfahren zuständige Gericht zu überweisen.
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Der Einzelrichter am Kantonsgericht bezifferte den Streitwert der negativen Feststellungswiderklage auf Fr. 2.5 Mio. und beschränkte das Verfahren mit Entscheid vom 14. März 2019 auf die Frage, ob die Widerklage zulässig ist. Mit Entscheid vom 10. September 2019 bejahte er diese Frage und überwies den Prozess zur Behandlung im ordentlichen Verfahren zuständigkeitshalber an das Kantonsgericht.
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Dagegen gelangte A.________ mit Beschwerde, allenfalls mit Berufung, an das Obergericht des Kantons Zug. Dieses befand, das zulässige Rechtsmittel sei die Berufung, und wies diese mit Urteil vom 29. September 2020 ab, soweit es darauf eintrat. Es bestätigte den Entscheid des Einzelrichters und wies die Sache "zur Weiterführung im ordentlichen Verfahren" an das Kantonsgericht zurück.
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B. A.________ verlangt mit Beschwerde in Zivilsachen, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und es "sei festzustellen, dass auf die Widerklage vom 8. Juni [recte: Januar] 2019 nicht einzutreten sei und die Sache zur Fortsetzung des Verfahrens [...] an den Einzelrichter des Kantonsgericht[s] Zug zurückzuweisen". Eventualiter sei die Sache "zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen".
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Mit Präsidialverfügung vom 2. November 2020 wurde der Beschwerde aufschiebende Wirkung erteilt.
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In der Sache wurden keine Vernehmlassungen eingeholt.
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Erwägungen: | |
1. Das Obergericht hat als letzte kantonale Instanz im Sinne von Art. 75 BGG einen auf Art. 224 Abs. 2 ZPO gestützten Entscheid des Einzelrichters am Kantonsgericht bestätigt. Ob es sich dabei um einen Endentscheid (Art. 90 BGG) oder einen selbständig eröffneten Vor- und Zwischenentscheid über die Zuständigkeit (Art. 92 BGG) handelt, kann offenbleiben. Weiter übersteigt der Streitwert den nach Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG geltenden Mindestbetrag von Fr. 30'000.-- (vgl. Art. 53 BGG). Damit steht die Beschwerde in Zivilsachen grundsätzlich offen.
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2. | |
2.1. Gemäss Art. 224 Abs. 1 ZPO kann die beklagte Partei in der Klageantwort Widerklage erheben, wenn der geltend gemachte Anspruch nach der gleichen Verfahrensart wie die Hauptklage zu beurteilen ist. Mit Blick auf diese Bestimmung ist es laut Erwägung 3 von BGE 143 III 506 grundsätzlich nicht zulässig, im vereinfachten Verfahren eine Widerklage zu erheben, die aufgrund ihres Streitwerts von über Fr. 30'000.-- (siehe Art. 243 Abs. 1 ZPO) in den Geltungsbereich des ordentlichen Verfahrens fällt. Abweichendes gilt jedoch für sogenannte negative Feststellungswiderklagen. In Erwägung 4 des erwähnten Urteils hat das Bundesgericht entschieden, dass Art. 224 Abs. 1 ZPO "der in Reaktion auf eine echte Teilklage erhobenen negativen Feststellungswiderklage nicht entgegensteht", "auch wenn deren Streitwert die Anwendbarkeit des ordentlichen Verfahrens zur Folge hat". Haupt- und Widerklage sind diesfalls zusammen im ordentlichen Verfahren zu beurteilen. In BGE 145 III 299 hat das Bundesgericht sodann - der in der Literatur geäusserten Kritik Rechnung tragend - ausdrücklich präzisiert, dass die Ausnahme vom Erfordernis der gleichen Verfahrensart gemäss Art. 224 Abs. 1 ZPO nicht auf den Fall einer sogenannten echten Teilklage beschränkt ist, sondern allgemein dann gilt, "wenn die Teilklage eine Ungewissheit zur Folge hat, die es rechtfertigt, im Sinne von Art. 88 ZPO die Feststellung des Nichtbestands einer Forderung oder eines Rechtsverhältnisses zu verlangen" (E. 2).
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2.2. Die Beschwerdeführerin argumentiert wie bereits im kantonalen Verfahren, die dargestellte Rechtsprechung sei im Personenschadenrecht nicht anwendbar und die negative Feststellungswiderklage der Beschwerdegegnerin daher unzulässig. Zu Unrecht: Aus den beiden genannten amtlich publizierten Entscheiden ergibt sich keine derartige Beschränkung. Im Gegenteil ist zu beachten, dass BGE 143 III 506 gerade einen Personenschaden zum Gegenstand hatte, und die Vorinstanz weist zu Recht darauf hin, dass das Bundesgericht die darin begründete (und in BGE 145 III 299 präzisierte) Rechtsprechung seither auch im Haftpflichtrecht anwendet (siehe insbesondere Urteil 4A_396/2018 vom 29. August 2019 E. 4.2.3, nicht publ. in BGE 145 III 409). Davon abzuweichen, besteht kein Anlass. Die Beschwerdeführerin nennt verschiedene Gründe, die nach ihrem Dafürhalten dafür sprechen, dass die geschädigte Person "von ihrem Gesamtschaden im Streitfall zunächst nur einen Teil" gerichtlich geltend macht, unter Hinweis auf diverse von einem ihrer Rechtsvertreter mitverfasste Artikel (WAGNER/SCHMID, Die Teilklage [im vereinfachten Verfahren] kommt nicht zur Ruhe, HAVE 2018 S. 175 ff.; dieselben, Die Individualisierung von Teilklagebegehren im Personenschadenrecht, HAVE 2017 S. 179 ff.; WAGNER/SCHMID/SANTSCHI, Die Teilklage im vereinfachten Verfahren: ein Instrument zur schnelleren und risikoärmeren Durchsetzung von Forderungen aus Personenschäden, HAVE 2013 S. 322 ff.). Indessen verbietet die dargestellte Rechtsprechung dieses Vorgehen nicht, sondern bedeutet lediglich, dass die mit einer Teilklage konfrontierte beklagte Partei, wenn sie über ein hinreichendes Rechtsschutzinteresse verfügt, unabhängig von der in Art. 224 Abs. 1 ZPO statuierten Voraussetzung der gleichen Verfahrensart eine negative Feststellungswiderklage erheben kann.
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Soweit die Beschwerdeführerin meint, die beklagte Partei habe, wenn die klagende Partei im Haftpflichtprozess bloss einzelne Schadensposten einklage, kein schutzwürdiges Interesse an einer negativen Feststellungsklage auf Nichtbestehen der gesamten Schadenersatzpflicht, geht ihre Beschwerde am hier zu beurteilenden Fall vorbei: Denn die Frage, ob die Beschwerdegegnerin vorliegend ein Rechtsschutzinteresse hat an der von ihr erhobenen Klage auf Feststellung, dass sie der Beschwerdeführerin aus dem Unfallereignis keinerlei Leistungen schuldet, war nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 BGG) nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens und kann daher mangels Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs vom Bundesgericht nicht überprüft werden (siehe BGE 143 III 290 E. 1.1 mit Hinweisen). Somit kann hier offenbleiben, wie weit das Feststellungsinteresse der beklagten Partei in derartigen Fällen allgemein reicht.
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2.3. Im Übrigen ist auch kein Grund erkennbar, allgemein auf das in BGE 145 III 299 Gesagte zurückzukommen und entgegen diesem Entscheid danach zu unterscheiden, ob die negative Feststellungswiderklage in Reaktion auf eine echte oder eine unechte Teilklage erhoben wird. Wohl trifft es zu, dass der Bundesrat in der Botschaft zur Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung (Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung) vom 26. Februar 2020 (BBl 2019 2697 ff.) unter Hinweis auf BGE 143 III 506 ausführt, zukünftig solle "von Gesetzes wegen zulässig sein, widerklageweise negative Feststellungsklage zu erheben, wenn hauptklageweise eine echte Teilklage im vereinfachten Verfahren erhoben wurde [...]" (S. 2759 f. zu Art. 224 Abs. 1bis). Indessen bezweckt er mit der vorgeschlagenen Anpassung ausdrücklich, die bundesgerichtliche Rechtsprechung im Gesetz nachzuführen, und nicht etwa, diese zu ändern. Es bleibt daher bei der in BGE 145 III 299 präzisierten Rechtsprechung: Die Ausnahme vom Erfordernis der gleichen Verfahrensart gemäss Art. 224 Abs. 1 ZPO gilt allgemein dann, wenn die Teilklage eine Ungewissheit zur Folge hat, die es rechtfertigt, die Feststellung des Nichtbestands einer Forderung oder eines Rechtsverhältnisses zu verlangen; die Unterscheidung zwischen echten und unechten Teilklagen entfällt in diesem Zusammenhang.
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Somit kann offenbleiben, ob es sich bei der Klage der Beschwerdeführerin um eine echte oder unechte Teilklage handelt. Die von der Beschwerdeführerin vorgeschlagene Qualifikation ist für das vorliegende Verfahren nicht entscheiderheblich.
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3. Die Beschwerde ist nach dem Gesagten abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten gemäss Art. 66 Abs. 1 BGG der Beschwerdeführerin aufzuerlegen. Der Beschwerdegegnerin ist im bundesgerichtlichen Verfahren kein Aufwand entstanden, für den sie nach Art. 68 Abs. 2 BGG zu entschädigen wäre.
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 7'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
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3. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zug, I. Zivilabteilung, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 22. Dezember 2020
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Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Die Präsidentin: Kiss
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Der Gerichtsschreiber: Stähle
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