BGer 6B_426/2020 | |||
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BGer 6B_426/2020 vom 10.03.2021 |
6B_426/2020 |
Urteil vom 10. März 2021 |
Strafrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin,
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Bundesrichter Muschietti, Hurni,
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Gerichtsschreiberin Bianchi.
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Verfahrensbeteiligte | |
A.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt André Kuhn, imkp,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
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Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,
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2. B.________ AG,
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vertreten durch Rechtsanwältin Carole Schenkel,
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Beschwerdegegnerinnen.
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Gegenstand
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Verspätete Berufungsanmeldung; Grundsatz von Treu und Glauben, Verbot des Rechtsmissbrauchs etc.,
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Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, vom 25. Februar 2020 (SST.2019.216).
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Sachverhalt: |
A. | |
Das Bezirksgericht Lenzburg sprach A.________ am 28. Mai 2019 der Sachbeschädigung gemäss Art. 144 Abs. 1 StGB, der mehrfachen teilweise versuchten Nötigung gemäss Art. 181 StGB in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1 StGB sowie des Hausfriedensbruchs gemäss Art. 186 StGB schuldig. Es verurteilte sie zu einer bedingten Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je Fr. 250.-- unter Ansetzung einer Probezeit von zwei Jahren sowie einer Busse von Fr. 100.--.
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Das Urteil des Bezirksgerichts wurde A.________ am 5. Juni 2019 zusammen mit einer "Kurzbegründung" zugestellt. Am 25. Juni 2019 reichte A.________ ein Schreiben mit dem Titel "Berufung" beim Obergericht ein.
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B. | |
Das Obergericht des Kantons Aargau trat mit Beschluss vom 25. Februar 2020 auf die gegen das Urteil des Bezirksgerichts erhobene Berufung von A.________ wegen verspäteter Berufungsanmeldung nicht ein.
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C. | |
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und das Obergericht sei anzuweisen, auf ihre Berufung einzutreten. Eventualiter sei der Beschluss aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an das Obergericht zurückzuweisen.
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D. | |
Das Obergericht, die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau und die B.________ AG verzichten auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen: |
1. | |
1.1. Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe gegen den Grundsatz von Treu und Glauben im Sinne von Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO sowie das Verbot des Rechtsmissbrauchs nach Art. 3 Abs. 2 lit. b StPO verstossen und Art. 399 Abs. 3 StPO verletzt, indem sie nicht auf ihre Berufung eingetreten ist. Sie sei in guten Treuen davon ausgegangen, dass es sich bei dem ihr am 5. Juni 2019 zugestellten Urteil und der "Kurzbegründung" um das begründete Urteil gehandelt habe, weshalb sie konsequenterweise innert Frist von 20 Tagen gemäss Art. 399 Abs. 3 StPO seine Berufung eingereicht habe.
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1.2. Die StPO sieht für die Einlegung der Berufung ein zweistufiges Verfahren vor. Nach Art. 399 Abs. 1 StPO ist die Berufung dem erstinstanzlichen Gericht innert 10 Tagen seit Eröffnung des Urteils schriftlich oder mündlich zu Protokoll anzumelden. Die Partei, die Berufung angemeldet hat, reicht dem Berufungsgericht gemäss Art. 399 Abs. 3 StPO innert 20 Tagen seit der Zustellung des begründeten Urteils eine schriftliche Berufungserklärung ein. Die am Prozess beteiligten Parteien, welche mit dem erstinstanzlichen Urteil nicht einverstanden sind, müssen mithin in der Regel zweimal ihren Willen kundtun, das Urteil nicht zu akzeptieren, nämlich einmal im Rahmen der Anmeldung der Berufung bei der ersten Instanz nach Eröffnung des Dispositivs (siehe Art. 84 StPO zur Eröffnung sowie Art. 81 Abs. 4 StPO zum Inhalt des Dispositivs) und ein zweites Mal nach Eingang des begründeten Urteils durch eine Berufungserklärung beim Berufungsgericht (BGE 143 IV 40 E. 3.4.1 S. 44; 138 IV 157 E. 2.1 S. 158; Urteile 6B_429/2020 vom 1. Oktober 2020 E. 1.1; 6B_684/2017 vom 13. März 2018 E. 1.4.2).
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Wird das Urteil weder mündlich noch schriftlich im Dispositiv eröffnet, sondern direkt in begründeter Form zugestellt, ist eine Anmeldung der Berufung nicht nötig. Es genügt, innert 20 Tagen eine Berufungserklärung einzureichen (BGE 138 IV 157 E. 2.2 S. 159 mit Hinweisen; Urteil 6B_429/2020 vom 1. Oktober 2020 E. 1.1).
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1.3. Die Vorinstanz erwägt, es habe sich bei dem am 5. Juni 2019 im Dispositiv zusammen mit der "Kurzbegründung" zugestellten Urteil um ein blosses Urteilsdispositiv gehandelt, gegen welches die Beschwerdeführerin innert zehn Tagen bei der Erstinstanz hätte Berufung anmelden müssen. Die dem Urteil beigelegte Urteilsbegründung habe knapp sieben Seiten umfasst und sei damit relativ umfangreich ausgefallen. Sie sei jedoch explizit als "Kurzbegründung" bezeichnet, vom Dispositiv getrennt und separat geheftet sowie weder von der Gerichtspräsidentin noch der Gerichtsschreiberin unterzeichnet gewesen. Damit sei die "Kurzbegründung" nicht Teil des Urteils im Sinne von Art. 81 Abs. 3 StPO, sondern lediglich dessen Beilage gewesen, was auch für einen juristischen Laien erkennbar gewesen sei. Die Rechtsmittelbelehrung habe über das zweistufige Vorgehen der Berufungsanmeldung und anschliessender Berufungserklärung korrekt und auch für einen juristischen Laien unmissverständlich aufgeklärt. Die dem Urteil beigeheftete "Kurzbegründung" sei nicht geeignet gewesen, Zweifel an der Rechtsmittelbelehrung aufkommen zu lassen. Hätten aber Zweifel bestehen sollen, wäre es einer sorgfältig handelnden Partei nach Treu und Glauben zumutbar gewesen, Berufung anzumelden oder sich bei der Erstinstanz nach der Vorgehensweise zu erkundigen.
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Die zehntägige Frist ab Eröffnung des Urteilsdispositivs habe am 17. Juni 2019 geendet, womit die Berufungsanmeldung am 25. Juni 2019 verspätet eingereicht worden sei. Infolge Fristversäumnis sei auf die Berufung nicht einzutreten.
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1.4. Die Beschwerdeführerin wendet gegen die vorinstanzlichen Erwägungen ein, dass die Rechtsmittelbelehrung auf die in der StPO vorgesehene Zustellung eines Urteilsdispositivs ohne "Kurzbegründung" zugeschnitten gewesen sei. Die "Kurzbegründung" habe sich über sieben und das Dispositiv über neun Seiten erstreckt. Die in der "Kurzbegründung" enthaltenen Verweise auf Gesetzesartikel, Präjudizien sowie Lehrbücher hätten einer Urteilsbegründung entsprochen. Dem Umfang und der Form der "Kurzbegründung" habe sie als juristische Laiin ohne anwaltliche Vertretung entnehmen können, dass es sich um ein begründetes Urteil handle, gegen welches sie gemäss der Rechtsmittelbelehrung innert 20 Tagen Berufung einlegen müsse.
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1.5. Die Vorinstanz hat zutreffend festgehalten, dass das Urteilsdispositiv eine korrekte Rechtsmittelbelehrung enthielt und diese die Zustellung eines begründeten Urteils nach der Berufungsanmeldung erwähnte. Massgebend ist jedoch, dass das Institut der "Kurzbegründung" in der StPO nicht vorgesehen ist. Wie die Beschwerdeführerin zurecht vorbringt, ist die im Urteilsdispositiv enthaltene Rechtsmittelbelehrung nicht auf die Zustellung eines Dispositivs zusammen mit einer "Kurzbegründung" zugeschnitten. Das zugestellte Dispositiv sowie die "Kurzbegründung" machten zusammen 16 Seiten aus und die "Kurzbegründung" wich hinsichtlich Sprachgebrauch und Begründungsdichte kaum von einer Urteilsbegründung ab. Auch unter Berücksichtigung der fehlenden Unterschrift auf der Kurzbegründung ist nicht davon auszugehen, dass es für die Beschwerdeführerin als juristische Laiin ohne anwaltliche Vertretung ersichtlich war, dass ein Urteilsdispositiv mit einer "Kurzbegründung" von einem begründeten Urteil zu unterscheiden ist. Das zugestellte Urteilsdispositiv und die "Kurzbegründung" waren geeignet, bei der Beschwerdeführerin den Anschein zu erwecken, dass es sich bereits um die schriftliche Begründung des Urteils handelte und sie damit innert Rechtsmittelfrist von 20 Tagen Berufung bei der Vorinstanz einzureichen hatte.
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Gemäss Art. 2 Abs. 2 StPO können Strafverfahren nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden. Die Erstinstanz hat mit der Zustellung des Dispositivs zusammen mit einer "Kurzbegründung" die in Art. 399 Abs. 1 und 3 StPO vorgenommene Abgrenzung zwischen der Zustellung des Dispositivs und der Zustellung des begründeten Urteils nicht beachtet. Der bei der Beschwerdeführerin dadurch erweckte Anschein ist nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gemäss Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO nicht der Beschwerdeführerin anzulasten. Die Vorinstanz verletzt demnach Bundesrecht, wenn sie auf die Berufung der Beschwerdeführerin wegen Fristversäumnis zur Einreichung der Berufungsanmeldung bei der Erstinstanz nicht eintritt.
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2. | |
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Es erübrigt sich, auf die weiteren Vorbringen der Beschwerdeführerin einzugehen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Bei diesem Verfahrensausgang hat der Kanton Aargau die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts Aargau vom 25. Februar 2020 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an das Obergericht zurückgewiesen.
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2. Es werden keine Kosten erhoben.
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3. Der Kanton Aargau hat der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten.
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4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 10. März 2021
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Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari
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Die Gerichtsschreiberin: Bianchi
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