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Informationen zum Dokument  BGer 9C_772/2020  Materielle Begründung
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BGer 9C_772/2020 vom 15.03.2021
 
 
9C_772/2020
 
 
Urteil vom 15. März 2021
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Stadelmann, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
handelnd durch seine Eltern, und diese
 
vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Hardy Landolt,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle Glarus,
 
Burgstrasse 6, 8750 Glarus,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus
 
vom 19. November 2020 (VG.2002.00066).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. Der 2002 geborene A.________ leidet an einer Muskeldystrophie Duchenne (Geburtsgebrechen Nr. 184). Von der Invalidenversicherung bezieht er eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit schweren Grades, einen Intensivpflegezuschlag von acht Stunden pro Tag sowie seit 1. Oktober 2019 einen Assistenzbeitrag.
1
A.b. A.________ wird zu Hause durch seine Eltern betreut, welche sich zu diesem Zweck bei der X.________ GmbH anstellen liessen. Für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 2018 übernahm die IV-Stelle Glarus die Rechnungen der X.________ GmbH für Kinderspitexleistungen im Umfang von Fr. 109'477.95 ohne Anerkennung einer Rechtspflicht und ohne Präjudiz für künftige Fälle (Mitteilung vom 25. März 2019).
2
A.c. Am 10. Mai und am 6. Juli 2019 reichte die X.________ GmbH bei der IV-Stelle Rechnungen ein für die im ersten Quartal sowie in den Monaten April und Mai 2019 erbrachten Pflegeleistungen. Mit Vorbescheid vom 29. Januar 2020 kündigte die IV-Stelle an, dass sie für die in der Zeit ab 1. Januar 2019 erbrachten Kinderspitexleistungen keine Kostengutsprache mehr erteile. Daran hielt sie auf Einwand des Versicherten hin fest (Verfügung vom 18. Juni 2020).
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B. Beschwerdeweise liess A.________ die Aufhebung der Verfügung vom 18. Juni 2020 beantragen. Es sei festzustellen, dass die IV-Stelle verpflichtet sei, die von der X.________ GmbH ab 1. Januar 2019 in Rechnung gestellten Pflegeleistungen zu vergüten. Eventualiter sei die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen. Mit Entscheid vom 19. November 2020 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
4
C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Angelegenheit im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.
5
 
Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Streitig ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat, indem es eine Pflicht der Beschwerdegegnerin, die von der X.________ GmbH bzw. den Eltern des Beschwerdeführers ab 1. Januar 2019 erbrachten Pflegeleistungen zu vergüten, verneint hat. Unangefochten und deshalb nicht zu prüfen ist sein teilweises Nichteintreten, welches sich auf das im vorinstanzlichen Verfahren gestellte Feststellungsbegehren bezog.
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Gleichzeitig steht fest, dass mit der Beschwerde reformatorisch die Zusprache einer Entschädigung resp. Kostenübernahme beantragt wird und die Rückweisung zur Bestimmung des Quantitatives erfolgen soll. Auf das in diesem Sinne verstandene Beschwerdebegehren (vgl. Sachverhalt lit. C) ist einzutreten (vgl. Urteil 9C_560/2020 vom 27. Januar 2021 E. 1.2 mit weiteren Hinweisen).
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3.
 
3.1. Gemäss Art. 13 Abs. 1 IVG haben Versicherte bis zum 20. Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen. Als medizinische Massnahmen, die für die Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten nach Art. 2 Abs. 3 GgV sämtliche Vorkehren, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben. Die medizinischen Massnahmen umfassen gemäss Art. 14 Abs. 1 IVG die Behandlung, die vom Arzt selbst oder auf seine Anordnung durch medizinische Hilfspersonen in Anstalts- oder Hauspflege vorgenommen wird, mit Ausnahme von logopädischen und psychomotorischen Therapien (lit. a) sowie die Abgabe der vom Arzt verordneten Arzneien (lit. b).
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3.2. Bei Geburtsgebrechen sieht die Invalidenversicherung Leistungen sowohl für die eigentliche therapeutische Behandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 3 GgV als auch für die nichttherapeutische Pflege und Betreuung vor. Die therapeutische Behandlung wird durch medizinische Massnahmen nach Art. 13 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 lit. a IVG abgedeckt. Darunter fallen nur Vorkehren, welche notwendigerweise durch den Arzt oder - auf seine Anordnung - durch medizinische Hilfspersonen vorzunehmen sind, nicht aber solche, welche (mit oder ohne Anleitung) durch Personen ohne medizinische Spezialausbildung durchgeführt werden können. Die nichttherapeutische Pflege und Betreuung kann nicht unter dem Titel der medizinischen Massnahmen übernommen werden, aber unter Umständen einen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung und einen Intensivpflegezuschlag begründen (BGE 136 V 209 E. 7-10 S. 211 ff., unlängst bestätigt in den Urteilen 9C_310/2020 vom 13. Oktober 2020 E. 3.1.2, 9C_88/2020 vom 8. Juli 2020 E. 5.2 und 9C_95/2020 vom 16. April 2020 E. 4.2; Meyer/Reichmuth, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 3. Aufl. 2014, N. 10 zu Art. 14-14 bis IVG).
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4.
 
4.1. Es steht fest und ist unbestritten, dass es sich bei der von der X.________ GmbH für das Jahr 2019 in Rechnung gestellten, von den Eltern des Versicherten erbrachten Pflegeleistungen um Vorkehren handelt, die von Personen ohne medizinische Fachqualifikation vorgenommen werden können. Die Vorinstanz verneinte eine entsprechende Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin unter dem Titel der medizinischen Massnahmen gestützt auf die in E. 3.2 dargelegte Rechtsprechung.
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4.2. Der Versicherte stellt nicht in Abrede, dass der kantonale Entscheid im Einklang mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung steht, kritisiert diese aber als bundesrechts- und staatsvertragswidrig.
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4.2.1. In der Beschwerde wird vorab geltend gemacht, die Invalidenversicherung sei nach der gesetzlichen Konzeption für alle zur Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendigen Massnahmen leistungspflichtig, und es sei nicht nachvollziehbar, weshalb Pflegeleistungen als Teil der medizinischen Behandlung nicht zu den versicherten Massnahmen zählen sollen. Diesem Vorbringen ist entgegenzuhalten, dass das Gesetz (Art. 13 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 lit. a IVG) ausdrücklich vorsieht, dass unter dem Titel der medizinischen Massnahmen lediglich Anspruch auf die Behandlung besteht, die vom Arzt selbst oder auf seine Anordnung hin durch medizinische Hilfspersonen in Anstalts- oder Hauspflege vorgenommen wird. Damit gehören die Vorkehren, welchen kein therapeutischer Charakter zukommt, wie dies bei der hier streitigen täglichen Krankenpflege der Fall ist, nicht zu den zu Lasten der Invalidenversicherung gehenden medizinischen Massnahmen (sondern begründen allenfalls einen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung und einen Intensivpflegezuschlag; vgl. vorstehende E. 3.2 in fine). Dieser im Gesetz vorgenommenen Differenzierung trägt die vom Beschwerdeführer kritisierte Praxis Rechnung. Im Übrigen hat das Bundesgericht wiederholt bestätigt, dass die nach Massgabe der medizinischen Berufsqualifikation vorgenommene Differenzierung rechtmässig ist und es eine sachlich begründete und zulässige Anspruchsvoraussetzung darstellt, für bestimmte Leistungen berufliche Anforderungen zu verlangen (vgl. insbesondere Urteile 9C_310/2020 vom 19. Oktober 2020 E. 3.1.2, 8C_541/2018 vom 10. April 2019 E. 4.2 und 8C_517/2011 vom 2. April 2012 E. 2.3.2).
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4.2.2. An der Sache vorbei geht sodann das in der Beschwerde vorgebrachte Argument, es sei nicht die Aufgabe der Juristerei, sondern der medizinischen und der Pflegewissenschaft, zu entscheiden, welche Massnahmen für die Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendig seien. Denn streitig ist hier nicht die vom Beschwerdeführer diskutierte und vom Arzt zu beantwortende Frage, welche Behandlungsmassnahmen im Einzelfall medizinisch angezeigt sind. Der Anspruch des Versicherten auf Übernahme der von der X.________ GmbH bzw. seinen Eltern erbrachten Leistungen als medizinische Massnahme scheitert denn auch nicht am Erfordernis der Notwendigkeit entsprechender Vorkehren.
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4.2.3. Weiter wird in der Beschwerde vorgebracht, die gemäss Art. 64 Abs. 2 lit. c ATSG prioritär leistungspflichtige Invalidenversicherung müsse mindestens die Pflegeleistungen übernehmen, welche auch in der subsidiär leistungspflichtigen Krankenversicherung gemäss Art. 7 KLV versichert seien. Andernfalls gingen die geburtsgebrechensbehinderten Kinder eines Teils der gemäss KVG versicherten Leistungen verlustig, was Art. 8 BV verletzen würde. Dieses Vorbringen geht schon deshalb ins Leere, weil es auf der unzutreffenden Annahme beruht, dass eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung bei Geburtsgebrechen diejenige der Krankenversicherung ausschliesse. Denn anders als der Beschwerdeführer anzunehmen scheint, können Krankenpflegeleistungen nach Art. 7 KLV gerade auch an Personen erbracht werden, die Leistungen der Invalidenversicherung nach Art. 13 und 14 IVG beziehen, da die auf diese Bestimmungen gestützten Leistungen den Pflegeaufwand nicht abdecken (wobei diese Leistungskumulation unter dem Vorbehalt einer durch die Hilflosenentschädigung bzw. den Intensivpflegezuschlag bewirkten Überentschädigung steht, vgl. Art. 122 KVV; Urteil 9C_886/2010 vom 10. Juni 2011 E. 4.5; Eugster, Krankenversicherung, in: SBVR Bd. XIV, Soziale Sicherheit, 3. Aufl. 2016, S. 504 Rz. 321 und S. 522 Rz. 380).
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4.2.4. Unberechtigt ist auch der Vorwurf des Beschwerdeführers, wonach das Bundesgericht widersprüchliche Auffassungen vertrete, wenn es in der Invalidenversicherung gemäss BGE 136 V 209 zulasse, dass Laien (wie insbesondere Angehörige der versicherten Person) Pflegeleistungen ausführen, und in der Krankenversicherung gemäss BGE 145 V 161 zwingend die Ausführung durch diplomiertes Pflegefachpersonal verlange. Aus BGE 145 V 161 E. 5 S. 165 ff., wonach die Grundpflege gemäss Art. 7 Abs. 2 lit. c Ziff. 1 KLV auch durch (bei Spitexorganisationen angestellte) Familienangehörige ohne pflegerische Fachausbildung zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung erbracht werden kann (dies im Unterschied zu Vorkehren der Untersuchungs- und Behandlungspflege gemäss Art. 7 Abs. 2 lit. b KLV, welche entsprechende berufliche Fähigkeiten erfordern), vermag der Beschwerdeführer hinsichtlich des hier streitigen invalidenversicherungsrechtlichen Anspruches nichts zu seinen Gunsten abzuleiten: Die Leistungsbereiche der Invaliden- und der Krankenversicherung unterscheiden sich und die zugrunde liegende unterschiedliche Zwecksetzung rechtfertigt Abweichungen hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen (BGE 136 V 209 E. 9 S. 213 f.; Urteile 9C_310/2020 vom 13. Oktober 2020 E. 3.2.1 und 9C_95/2020 vom 16. April 2020 E. 5.2.3).
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4.2.5. Der Versicherte beanstandet sodann, die Verneinung einer Leistungspflicht der Invalidenversicherung bei der Pflege des Kindes daheim durch Angehörige (anders als bei Unterbringung in einer Institution) führe zu einem faktischen Heimzwang, der das Grundrecht auf Familienleben (Art. 14 BV und 8 EMRK) und weitere verfassungsmässige Rechte verletze. Auch diese Rüge ist unbegründet. Die verfassungsmässigen Rechte geben keinen Anspruch darauf, dass die Invalidenversicherung sämtliche behinderungsbedingten Kosten übernimmt (BGE 146 V 233 E. 2.2 S. 235 f.; 138 I 225 E. 3.5). Die Verneinung einer Leistungspflicht bei der daheim erfolgenden Krankenpflege stellt keine unzulässige Diskriminierung dar, weil sie auf einer sachlich begründeten Unterscheidung beruht (vgl. auch Urteil 9C_886/2010 vom 10. Juni 2011 E. 3.1).
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4.2.6. Soweit der Beschwerdeführer schliesslich unter Hinweis auf koordinationsrechtliche Bestimmungen (wie Art. 69 ATSG) dafürhält, die IV-Stelle müsse in jedem Einzelfall die Pflegekosten sowie den Erwerbsausfall der Eltern feststellen und anschliessend prüfen, ob die dem Kind zustehenden Versicherungsleistungen (Hilflosenentschädigung, Intensivpflegezuschlag und gegebenenfalls Assistenzbeitrag) die behinderungsbedingten Auslagen übersteigen, schwebt ihm ein neuartiges System der Übernahme von Pflegeleistungen durch die Invalidenversicherung vor, für welches die geltende, in E. 3 dargelegte Rechtslage keine Handhabe bietet. Weiterungen dazu erübrigen sich.
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4.2.7. Zusammenfassend ergibt sich, dass die Kritik, welche der Versicherte am kantonalen Entscheid und an der ihm zugrunde liegenden Rechtsprechung übt, unbegründet ist. Dies führt zur Abweisung der Beschwerde.
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5. Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 15. März 2021
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann
 
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