BGer 9C_201/2021 | |||
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BGer 9C_201/2021 vom 15.06.2021 | |
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9C_201/2021 |
Urteil vom 15. Juni 2021 |
II. sozialrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichter Parrino, Präsident,
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Bundesrichter Stadelmann, Bundesrichterinnen Moser-Szeless, Viscione, Bundesrichter Abrecht,
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Gerichtsschreiberin Oswald.
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Verfahrensbeteiligte | |
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern 3,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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A.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Volker Pribnow,
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Beschwerdegegnerin,
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IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung (Hilfsmittel),
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Beschwerde gegen das Urteil des
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Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 10. Februar 2021 (VBE.2020.507).
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Sachverhalt: | |
A.
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Die 1958 geborene A.________ bezieht aufgrund einer Hemiplegie (Halbseitenlähmung) links zufolge Hirnblutung eine ganze Rente der Invalidenversicherung, eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades sowie einen Assistenzbeitrag (Verfügungen vom 3. Juni bzw. vom 6. August 2020). Weiter leistete die IV-Stelle des Kantons Aargau (fortan: IV-Stelle) Kostengutsprache für verschiedene Hilfsmittel und bauliche Änderungen. Im Dezember 2019 beantragte A.________ die Übernahme der Kosten eines Treppenlifts. Die IV-Stelle nahm ein Protokoll der individuellen Abklärung der Wohnsituation vom 29. August 2019 durch das Zentrum B.________ zu den Akten. Weiter holte sie bei der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft Hilfsmittelberatung für Behinderte und Betagte (SAHB, Oensingen) eine fachtechnische Beurteilung ein, die am 7. Mai 2020 erstattet wurde. Mit Verfügung vom 7. September 2020 sprach sie der Versicherten einen Kostenbeitrag von Fr. 8000.- an die Anschaffung eines Treppenlifts zu.
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B.
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Die hiergegen gerichtete Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 10. Februar 2021 teilweise gut. Es hob die Verfügung der IV-Stelle vom 7. September 2020 auf und wies ihr die Sache zur weiteren Abklärung und Neuverfügung zurück.
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C.
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Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Es beantragt die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils vom 10. Februar 2021 und verlangt, der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
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Erwägungen: |
1. | |
1.1. Die Vorinstanz hiess die Beschwerde der Versicherten insofern gut, als sie einen Anspruch auf Übernahme der Kosten eines Treppenlifts für die Verbindung zwischen Erdgeschoss und erstem Obergeschoss (als einfache und zweckmässige Lösung) bejahte. Da jedoch einzig die Kosten für einen Treppenlift über die Fahrstrecke vom Untergeschoss bis in das zweite Obergeschoss aktenkundig waren, wies sie die Sache an die Verwaltung zurück, damit diese Abklärungen treffe zu den für einen Treppenlift (nur) vom Erdgeschoss in das erste Obergeschoss anfallenden Kosten und alsdann neu verfüge.
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1.2. Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen Rückweisungsentscheid und damit formell um einen Zwischenentscheid. Indes dient die Rückweisung hier nur noch der betragsmässigen Umsetzung des oberinstanzlich Angeordneten (i.c.: Abfragen der Kosten für den Treppenlift vom Erdgeschoss in das erste Obergeschoss) und verbleibt der Verwaltung kein Entscheidungsspielraum. Damit handelt es sich materiell um einen anfechtbaren Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG (etwa: BGE 140 V 282 E. 4.2).
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2.
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Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; zum Ganzen vgl. BGE 145 V 57 E. 4).
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3.
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Das Versicherungsgericht hat die massgeblichen Rechtsgrundlagen bezüglich des Anspruchs versicherter Personen auf Hilfsmittel (Art. 8 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 14 IVV sowie Verordnung des Eidgenössischen Departement des Innern [EDI] über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung [HVI, SR 831.232.51]) ebenso wie die Rechtslage hinsichtlich des Anspruchs auf Abgabe von Treppenliften gemäss aktueller bzw. gemäss bis zum 30. Juni 2020 in Kraft stehender Fassung des HVI-Anhangs zutreffend dargestellt. Darauf wird verwiesen.
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Strittig ist, ob der Anspruch der Beschwerdegegnerin gestützt auf die bis zum 30. Juni 2020 in Kraft stehende Fassung des HVI-Anhangs (fortan: aHVI-Anhang) oder auf die ab 1. Juli 2020 geltende Version (fortan: HVI-Anhang) zu beurteilen ist.
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4. | |
4.1. Die Vorinstanz erwog zur Frage des anwendbaren Rechts im Wesentlichen, für dessen Bestimmung seien - vorbehältlich hier nicht vorhandener Übergangsbestimmungen - diejenigen Rechtssätze massgebend, die bei Erfüllung des rechtlich zu ordnenden oder zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung gehabt hätten (unter Verweis auf BGE 138 V 475 E. 3.1 mit Hinweisen). Hier hätten sich die entscheidenden Verhältnisse nicht abschliessend bis zum 30. Juni 2020 verwirklicht, sondern habe der invalidisierende Zustand, aufgrund dessen die Beschwerdegegnerin ohne Treppenlift nicht von einem in ein anderes Geschoss ihres Hauses gelangen könne, über den 1. Juli 2020 hinaus angedauert. Er habe insbesondere noch bestanden im Zeitpunkt der erstmaligen Beurteilung ihres Gesuchs am 7. September 2020. Dementsprechend sei - abweichend von der Verwaltungsanweisung gemäss IV-Rundschreiben Nr. 401 vom 13. Mai 2020 bzw. später Kreisschreiben des BSV über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (KHMI) Rz. 2153.1, das Ersteres übernimmt (Stand: 1. Januar 2021) - der Anspruch der Beschwerdeführerin nach Massgabe der seit 1. Juli 2020 in Kraft stehenden Ziff. 14.05 HVI-Anhang zu prüfen (mit Verweis auf BGE 111 V 215 E. 1b).
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4.2. Das BSV macht geltend, die Vorinstanz habe die Übergangsregelung gemäss Verwaltungsweisung ohne sachlichen Grund nicht angewandt. Diese gelte bei allen HVI-Änderungen und sei bereits aus rechtsstaatlichen Gründen zu befolgen. Das Eingangsdatum des Gesuchs der versicherten Person sei das einzige Datum, das als Stichtag eine Gleichbehandlung aller Versicherten garantiere. Damit könne ausserdem vermieden werden, dass theoretisch jeder in der Vergangenheit gestellte Antrag, über den noch nicht definitiv verfügt worden sei, neues Recht nach sich ziehe. Schliesslich sei zu beachten, dass ein Abstellen auf das Datum der Anmeldung den Versicherten Rechtssicherheit biete und bei einer gesetzlichen Einschränkung des Anspruchs eine Schlechterstellung verhindere.
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5. | |
5.1. Bei der Beurteilung von Dauersachverhalten wird im Sozialversicherungsrecht auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der strittigen Verfügung eingetretenen Sachverhalt abgestellt (BGE 132 V 215 E. 3.1.1). Auf zeitlich offene Dauersachverhalte ist grundsätzlich bis zum Inkrafttreten einer Rechtsänderung das alte Recht, nachher das neue Recht anwendbar (vgl. mit Hinweisen etwa Urteil 2C_345/2015 vom 24. November 2015 E. 2.2). Für den hier zu beurteilenden Fall bedeutet das - mit der Vorinstanz -, dass der Hilfsmittelanspruch nach Massgabe der neuen, ab 1. Juli 2020 geltenden Verordnungsbestimmungen zu prüfen war, da der invalidisierende Zustand auch nach dem 1. Juli 2020 fortbestand und von der Verwaltung erstmals zu beurteilen war (BGE 111 V 215 E. 1b). Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem mit Urteil 9C_765/2020 vom 12. April 2021 entschiedenen, in dem die Verwaltung über den Hilfsmittelanspruch bereits im Oktober 2019, mithin noch unter der Geltung des aHVI-Anhangs, verfügt hatte. Soweit das IV-Rundschreiben Nr. 401 vom 13. Mai 2020 bzw. später das KHMI Rz. 2153.1 die Anwendung des geänderten HVI-Anhangs nicht ab dessen Inkrafttreten am 1. Juli 2020 vorsehen, sondern zeitlich nach hinten schieben, indem sie das neue Recht erst auf nach dem 1. Juli 2020 eingegangene Gesuche zur Anwendung bringen wollen, verletzen sie Bundesrecht und ist ihnen die Anwendung zu versagen. Hat nämlich das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) als Verordnungsgeber der HVI deren geänderten Anhang mit Wirkung ab 1. Juli 2020 in Kraft gesetzt (AS 2020 1773), kann eine solche Rechtsregel nicht einfach durch bundesamtliche Weisung abgeändert werden (so bereits - ebenfalls eine Änderung der damaligen Ziff. 13.05* HVI-Anhang betreffend - zit. BGE 111 V 215 a.a.O.). Dies gilt umso mehr, als entgegen der Beschwerdeführerin keine Praxis bekannt ist, derzufolge bei Änderungen des HVI-Anhangs für die Frage der Bestimmung des anwendbaren Rechts bisher in allgemeiner Weise auf das Datum des Gesuchseingangs abgestellt worden wäre. Eine solche wird denn auch vom BSV nicht näher dargelegt. Dagegen sprechen die Übergangsbestimmungen der HVI, aus denen erhellt, dass der Verordnungsgeber eine Weitergeltung bisherigen Rechts bei vor Inkrafttreten einer neuen Regelung eingereichten Gesuchen - d.h. eine Abweichung vom oben dargelegten Grundsatz - regelmässig explizit vorschreibt, sofern sie beabsichtigt ist, so wie er dies mit den Übergangsbestimmungen der Änderungen vom 25. Mai 2011 sowie vom 28. November 2012 getan hat.
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5.2. Inwiefern die Berücksichtigung des im Verfügungszeitpunkt geltenden neuen Rechts mit Blick auf die Rechtsgleichheit zu stossenden Ergebnissen führen oder die Verwaltung vor gravierende Schwierigkeiten stellen würde, vermag das BSV weder aufzuzeigen noch ist es ersichtlich. Es liegt in der Natur jeder Rechtsänderung, dass identische Anwendungsfälle allenfalls unterschiedlich zu behandeln sind, je nachdem, ob auf sie das neue oder das alte Recht zur Anwendung gelangt. Dies gilt indes unabhängig vom gewählten Stichtag, weshalb sich daraus nichts zugunsten des Rechtsstandpunktes des BSV ableiten lässt.
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6.
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Die Beschwerde ist nach dem Gesagten unbegründet.
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7.
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Mit dem Urteil in der Sache ist das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.
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8.
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Es sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1.
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Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2.
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Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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3.
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Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle des Kantons Aargau und dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 15. Juni 2021
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Parrino
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Die Gerichtsschreiberin: Oswald
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