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Informationen zum Dokument  BGer 9C_57/2021  Materielle Begründung
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BGer 9C_57/2021 vom 08.07.2021
 
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9C_57/2021
 
 
Urteil vom 8. Juli 2021
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Stadelmann,
 
nebenamtlicher Bundesrichter Kradolfer,
 
Gerichtsschreiberin Stanger.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Kaspar Gehring,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 12. November 2020 (IV.2020.00119).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. Der 1976 geborene A.________ stürzte im Mai 2001 von einer Lieferwagenrampe und zog sich einen inkompletten Berstungsbruch und eine Schädelkontusion frontal rechts zu. Er meldete sich daraufhin zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich führte Abklärungen durch und wies ein erstes Gesuch mit Verfügung vom 20. Juni 2008 ab (Invaliditätsgrad: 9 %).
1
A.b. Auf die Neuanmeldung vom 8. September 2008 trat die IV-Stelle nicht ein. Im Rahmen einer weiteren Neuanmeldung (vom 30. Oktober 2009) holte die Verwaltung ein bidisziplinäres Gutachten bei der Swiss Medical Assessment- and Business-Center AG (SMAB AG) ein. Mit Verfügung vom 27. November 2013 errechnete die IV-Stelle - gestützt auf das Gutachten der SMAB AG vom 17. Juli 2013 - einen Invaliditätsgrad von 10 % und verneinte entsprechend einen Rentenanspruch. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und letztinstanzlich das Bundesgericht (Urteil 8C_818/2014 vom 11. Februar 2015) wiesen die dagegen erhobenen Beschwerden ab.
2
A.c. Mit Verfügung vom 23. Februar 2018 trat die IV-Stelle auf ein weiteres Leistungsersuchen nicht ein. Im November 2019 meldete sich der Beschwerdeführer erneut bei der Invalidenversicherung an. Auch auf dieses Ersuchen trat die IV-Stelle - mit Verfügung vom 15. Januar 2020 - nicht ein.
3
B.
4
Eine gegen die Verfügung vom 15. Januar 2020 gerichtete Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 12. November 2020 ab.
5
C.
6
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des Urteils vom 12. November 2020 sei die IV-Stelle zu verpflichten, auf die Neuanmeldung vom November 2019 einzutreten, ein ordentliches Abklärungsverfahren durchzuführen und alsdann gegebenenfalls die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen.
7
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
8
 
Erwägungen:
 
1.
9
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht wendet zwar das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), überprüft jedoch nur die geltend gemachten Mängel, es sei denn, andere rechtliche Mängel seien geradezu offensichtlich (BGE 141 V 234 E. 1). Grundlage des bundesgerichtlichen Verfahrens bildet der von der Vorinstanz festgestellte Sachverhalt (Art. 105 Abs. 1 BGG).
10
 
2.
 
2.1. Strittig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die Nichteintretensverfügung vom 15. Januar 2020 schützte.
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2.2. Die Vorinstanz hat die Rechtsgrundlagen der Neuanmeldung (Art. 87 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 IVV) und die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 133 V 108; 130 V 64) korrekt dargelegt. Darauf kann vorab verwiesen werden.
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2.3. Ob das kantonale Gericht den Beweisgrad des Glaubhaftmachens richtig angewendet, insbesondere nicht überspannte Anforderungen daran gestellt hat, ist eine frei überprüfbare Rechtsfrage. Ob der erforderliche Beweisgrad erreicht ist, stellt dagegen eine Tatfrage dar. Diesbezügliche Feststellungen des kantonalen Versicherungsgerichts sind für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich (Urteile 9C_92/2020 vom 17. März 2020 E. 2; 9C_841/2019 vom 30. März 2020 E. 2.2).
13
 
3.
 
3.1. Tatsächliche Grundlage der strittigen Neuanmeldung bildet der Austrittsbericht der psychiatrischen Tagesklinik B.________ vom 3. Juli 2019. Darin wird eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (ICD-10: F33.1), eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) diagnostiziert. Die Fachpersonen wendeten ein standardisiertes Testverfahren (Beck-Depressions-Inventar) an und ermittelten auf diesem Weg eine schwere depressive Symptomatik. Der Austrittsbericht hält fest, der Beschwerdeführer demonstriere stark das Leiden und die Schmerzen. Der affektive Kontakt sei gut herstellbar, sofern man im Leid des Beschwerdeführers mitschwinge. Es liege eine depressive, niedergeschlagene, traurige, oft hoffnungslose Stimmungslage vor. Es bestünden Schuldgefühle und starkes Schamempfinden, begleitet von starkem sozialen Rückzug. Der Beschwerdeführer habe Angst, das Haus alleine zu verlassen, Angst vor dem Einschlafen, grüble und wiederhole ständig das eigene Leid. Die Schmerzen seien ubiquitär, wobei genaueres Nachfragen nicht zu spezifischeren Angaben geführt hätte.
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3.2. Die Vorinstanz verglich den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der Nichteintretensverfügung vom 15. Januar 2020 mit jenem im Zeitpunkt der letzten materiellen Anspruchsprüfung im November 2013. Sie würdigte in erster Linie das bidisziplinäre Gutachten der SMAB AG vom 17. Juli 2013 und stellte dessen Ergebnisse dem Austrittsbericht der psychiatrischen Tagesklinik B.________ vom 3. Juli 2019 gegenüber. Letzterer, so die Vorinstanz, enthalte keine neuen Befunde: Die geltend gemachte posttraumatische Belastungsstörung sei früher bereits diskutiert, therapiert und gewürdigt worden, wenn auch nicht immer mit gleicher Diagnosebezeichnung. In Bezug auf die depressive Symptomatik sei auffallend, dass der Bericht der psychiatrischen Tagesklinik B.________ in weiten Teilen auf den Angaben des Beschwerdeführers beruhe. Überdies sei die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung (ICD-10: F33) bereits im bidisziplinären Gutachten gestellt worden. Die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung übernehme der Austrittsbericht der psychiatrischen Tagesklinik B.________ ausdrücklich aus den Vorakten, obschon das Gutachten der SMAB AG vom 17. Juli 2013 sie zutreffend verworfen habe. Die Vorinstanz folgerte, dem Beschwerdeführer sei es nicht gelungen, eine Verschlechterung des Gesundheitszustands glaubhaft zu machen.
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4.
 
4.1. Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz mehrfache Willkür in der Sachverhaltsfeststellung un d ein überspanntes Verständnis des im Neuanmeldeverfahren geltenden Beweismasses vor.
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4.2. Für das Beweismass des Glaubhaftmachens genügt es, dass für das Vorhandensein des behaupteten rechtserheblichen Sachumstands wenigstens gewisse Anhaltspunkte bestehen, auch wenn durchaus noch mit der Möglichkeit zu rechnen ist, bei eingehender Abklärung werde sich die behauptete Änderung nicht erstellen lassen (Urteil 8C_647/2019 vom 31. Januar 2020 E. 2.1). Weder eine im Vergleich zu früheren ärztlichen Einschätzungen ungleich attestierte Arbeitsunfähigkeit noch eine unterschiedliche diagnostische Einordnung des geltend gemachten Leidens genügt per se, um auf einen veränderten Gesundheitszustand zu schliessen; notwendig ist vielmehr eine veränderte Befundlage (Urteile 9C_154/2020 vom 16. Juni 2020 E. 4.3.2; 9C_346/2019 vom 6. September 2019 E. 2.1.1). Je länger die letzte materielle Prüfung zurückliegt, umso weniger strenge Anforderungen sind an die Glaubhaftmachung zu stellen (vgl. BGE 109 V 108 E. 2b; Urteile 8C_531/2013 vom 10. Juni 2014 E. 4.1.2; 9C_895/2011 vom 16. Januar 2012 E. 3.1.4).
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4.3. Entgegen den Vorbringen in der Beschwerde kann der Vorinstanz keine Bundesrechtsverletzung vorgeworfen werden, wenn sie die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht als neu beurteilte. Wie die Vorinstanz zutreffend erkannte, hatte bereits der Bericht des Spitals C.________ vom 16. August 2006 den Verdacht einer residuellen posttraumatischen Belastungsstörung diskutiert. Das polydisziplinäre Gutachten des Medizinischen Zentrums Römerhof vom 5. Februar 2008 verwarf diesen Verdacht; die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung seien "keinesfalls" erfüllt. Das bidisziplinäre Gutachten der SMAB AG vom 17. Juli 2013 stellte keine entsprechende Diagnose, sondern ging von einer leichten depressiven Symptomatik aus. Das danach veranlasste Privatgutachten von Dr. med. D.________ vom 31. Mai 2014 erwähnte als möglichen Vorbefund eine posttraumatische Belastungsstörung, würdigte die Psychopathologie jedoch ausschliesslich unter dem Titel einer depressiven Störung von mittelgradiger bis schwerer Ausprägung (ICD-10: F32.21). Demnach war die mit einer allfälligen posttraumatischen Belastungsstörung einhergehende psychische Problematik bereits Thema im Zeitpunkt der letzten materiellen Beurteilung der Streitsache (mit Verfügung vom 27. November 2013) und wurde vorher sowie danach diagnostisch unterschiedlich beurteilt.
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Hinsichtlich der somatoformen Schmerzstörung hält der Austrittsbericht vom 3. Juli 2019 fest, diese Diagnose sei aus den Vorakten übernommen worden. Das bidisziplinäre Gutachten vom 17. Juli 2013 verwarf jedoch die Annahme einer somatoformen Schmerzstörung ausdrücklich. Dem Austrittsbericht ist nicht zu entnehmen, weshalb er sich diagnostisch in Widerspruch zum bidisziplinären Gutachten setzt und inwiefern das funktionelle Leistungsvermögen konkret durch die veränderte diagnostische Einschätzung beeinträchtigt wird. Die Vorinstanz verletzte kein Bundesrecht, wenn sie aufgrund der ihr vorliegenden medizinischen Aktenlage davon ausging, eine relevante Veränderung sei - auch in diesem Punkt - nicht glaubhaft gemacht worden.
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4.4. Das Beschwerdebild einer Depression ist zwar bereits im Jahr 2013 aktenkundig (vgl. Gutachten der SMAB AG vom 17. Juli 2013, S. 18 f. u. S. 23), jedoch ergibt sich aus dem Austrittsbericht der psychiatrischen Tagesklinik B.________ vom 3. Juli 2019 eine Verschlechterung der depressiven Symptomatik. So führten die Behandler aus, der Versicherte leide an einer depressiven Störung mit zahlreichen Symptomen im Bereich der Aktionshemmung, Energiemangel und Interesselosigkeit bei niederer Stimmungslage. Es bestehe eine depressive, niedergeschlagene, traurige, oft hoffnungslose Stimmungslage. Der Beschwerdeführer verbrachte die Zeit zwischen dem 22. Mai 2019 und dem 2. Juni 2019 in stationärer Behandlung. Er erzielte beim Eintritt einen Wert von 58 beim Beck-Depressions-Inventar, was einer schweren depressiven Symptomatik entspricht. Nach dem Austritt lag der Wert noch immer bei 55 Punkten. Auch wenn der testmässigen Erfassung der Psychopathologie im Rahmen der Sachverhaltsabklärung lediglich ergänzende Funktion zukommt, während die klinische Untersuchung mit Anamneseerhebung, Symptomerfassung und Verhaltensbeobachtung ausschlaggebend bleibt (Urteile 9C_190/2016 vom 20. Juni 2016 E. 4.1, 9C_353/2015 vom 24. November 2015 E. 4.1), dient diese dennoch der Verifizierung des klinischen Befundes (vgl. Urteil 8C_486/2010 vom 2. Dezember 2010 E. 3; vgl. auch URS MÜLLER, Das Verwaltungsverfahren in der Invalidenversicherung, Bern 2010, N. 1633).
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Wenn die Vorinstanz ungeachtet des oben Dargelegten annimmt, der Austrittsbericht enthalte keine hinreichenden Hinweise für eine massgebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes, wendet sie im Ergebnis das für die materielle Anspruchsprüfung massgebende Beweismass an. Der Austrittsbericht enthält zumindest gewisse Anhaltspunkte für eine Verschlechterung, was im Rahmen der Neuanmeldung genügt (vgl. E. 4.2). Es kommt hinzu, dass die letzte materielle Anspruchsprüfung im Jahr 2013 erfolgte. Wegen des Zeitablaufs sind weniger strenge Anforderungen an den Nachweis einer gesundheitlichen Veränderung zu stellen (vgl. E. 4.2). Indem die Vorinstanz dem Austrittsbericht der psychiatrischen Tagesklinik B.________ vom 9. Juli 2020 die Beweiseignung absprach, stellte sie überspannte Anforderungen an das Glaubhaftmachen einer gesundheitlichen Verschlechterung.
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4.5. Die Beschwerde ist gutzuheissen. Die Sache ist an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese auf das Neuanmeldegesuch eintrete. Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich, auf die weiteren Ausführungen des Beschwerdeführers einzugehen.
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5.
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Die unterliegende Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 BGG). Sie trägt überdies die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
24
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 12. November 2020 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 15. Januar 2020 werden aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle zurückgewiesen, damit diese auf das Neuanmeldegesuch eintrete.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
 
4.
 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 8. Juli 2021
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Stanger
 
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