BGer 8C_556/2021 | |||
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BGer 8C_556/2021 vom 02.12.2021 | |
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8C_556/2021 |
Urteil vom 2. Dezember 2021 |
I. sozialrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichter Maillard, Präsident,
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Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
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Gerichtsschreiberin Berger Götz.
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Verfahrensbeteiligte | |
IV-Stelle Solothurn,
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Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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A.________,
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vertreten durch Frau Priska Dubach, Sozialdienst,
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Beschwerdegegner.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung (Invalidenrente),
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Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 21. Juni 2021 (VSBES.2021.12).
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Sachverhalt: |
A. | |
A.a. Der 1963 geborene A.________ meldete sich im Juli 2009 unter Hinweis auf ein Rückenleiden, eine psychische Beeinträchtigung und eine langjährige Drogensucht erstmals bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 10. Juni 2010 verneinte die IV-Stelle Solothurn einen Leistungsanspruch und hielt fest, die Arbeitsunfähigkeit sei vor allem durch das Abhängigkeitsverhalten begründet, weshalb keine Invalidität im Sinne des Gesetzes vorliege. A.________ zog die dagegen beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn erhobene Beschwerde in der Folge wieder zurück.
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A.b. Am 5. März 2020 meldete sich A.________ erneut zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an und machte geltend, er leide unter Hepatitis C, Schlafstörungen, Magenproblemen und einem Leberschaden. Vorbescheidweise kündigte die IV-Stelle am 17. März 2020 an, sie werde auf das Gesuch nicht eintreten, falls keine neuen Beweismittel eingereicht und der Eintretenstatbestand nicht glaubhaft gemacht würden. Daraufhin holte sie die medizinischen Berichte des Dr. med. B.________, Facharzt FMH Allgemeinmedizin, vom 15. Juni 2020 und der Klinik C.________ vom 26. August 2020 ein. In der Folge trat sie auf die Neuanmeldung nicht ein (Verfügung vom 11. Dezember 2020).
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B.
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In Gutheissung der dagegen von A.________ eingereichten Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn die Verfügung vom 11. Dezember 2020 auf und wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit diese auf das Leistungsgesuch eintrete und den Leistungsanspruch materiell prüfe (Urteil vom 21. Juni 2021).
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C.
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Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, das Urteil des kantonalen Gerichts vom 21. Juni 2021 sei in Bestätigung der Verfügung vom 11. Dezember 2020 vollumfänglich aufzuheben. Ferner sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
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A.________ lässt sich nicht vernehmen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.
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Erwägungen: | |
1.
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Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; zum Ganzen: BGE 145 V 57 E. 4).
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2.
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Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die mit BGE 145 V 215 erfolgte Rechtsprechungsänderung als Neuanmeldungsgrund anerkannte.
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3. | |
3.1. Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 IVG) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der Wiedergabe der bei einer Neuanmeldung analog zur Revision anwendbaren Regeln (Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV; BGE 134 V 131 E. 3; 133 V 108 E. 5; 130 V 71; 117 V 198 E. 3a). Darauf wird verwiesen.
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3.2. Zu wiederholen ist, dass das Bundesgericht mit BGE 145 V 215 vor dem Hintergrund der Rechtsprechung zur Ausdehnung des strukturierten Beweisverfahrens gemäss BGE 141 V 281 auf sämtliche psychischen Störungen (BGE 143 V 409 und 418) und nach vertiefter Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Medizin die bisherige Rechtsprechung, wonach primäre Abhängigkeitssyndrome bzw. Substanzkonsumstörungen zum vornherein keine invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschäden darstellen können und ihre funktionellen Auswirkungen deshalb keiner näheren Abklärung bedürfen (BGE 124 V 265 E. 3c; 99 V 28 E. 2; Urteile 8C_608/2018 vom 11. Februar 2019 E. 3.2.1 und 9C_620/2017 vom 10. April 2018 E. 2.2), fallen gelassen hat (E. 5.3.3). Es hat entschieden, dass fortan - gleich wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen - nach dem strukturierten Beweisverfahren zu ermitteln sei, ob und gegebenenfalls inwieweit sich ein fachärztlich diagnostiziertes Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person auswirke (E. 6.2).
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Diese neue Rechtsprechung ist auf alle im Zeitpunkt der Praxisänderung noch nicht erledigten Fälle anzuwenden (BGE 147 V 234 E. 2.2 mit Hinweis).
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4.
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Das kantonale Gericht schloss die Glaubhaftmachung einer wesentlichen Verschlechterung respektive einer erheblichen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse innerhalb des massgebenden Vergleichszeitraums (vgl. dazu BGE 133 V 108) implizit aus mit der Begründung, weder die im Rahmen der Neuanmeldung eingereichten noch die von der IV-Stelle zusätzlich eingeholten Unterlagen würden eine veränderte medizinische Situation aufzeigen. Es bestehe nach wie vor ein Suchtleiden. Insoweit blieb der verfügungsweise festgestellte rechtserhebliche Sachverhalt gemäss angefochtenem Urteil unbestritten.
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5. | |
5.1. Entgegen der IV-Stelle vertrat die Vorinstanz jedoch den Standpunkt, die Rechtsprechungsänderung nach BGE 145 V 215 bilde gemäss der kantonalen Praxis einen Neuanmeldungsgrund unter dem Aspekt einer Veränderung der Rechtslage. Im Gegensatz zu den Praxisänderungen nach BGE 141 V 281 sowie BGE 143 V 409 und 418, welche in erster Linie eine neue Definition des Beweisverfahrens zum Gegenstand gehabt hätten, habe das Bundesgericht in Bezug auf diagnostizierte Abhängigkeitssyndrome beziehungsweise Substanzstörungen mit BGE 145 V 215 "eine vollständige Kehrtwende" vollzogen. Es würde zu einer nicht hinnehmbaren Diskriminierung führen, wenn den betroffenen Personen, deren Leistungsgesuche unter der früheren Praxis abgelehnt worden seien, jetzt und für alle Zukunft die Möglichkeit verwehrt bliebe, ihren Anspruch unter der neuen Rechtsprechung überprüfen zu lassen.
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5.2. Die Beschwerdeführerin verweist zur Begründung ihres abweichenden Standpunktes allerdings zu Recht auf BGE 147 V 234. In diesem Urteil hat das Bundesgericht entschieden, dass die Rechtsprechung gemäss BGE 145 V 215 (wie schon jene von BGE 141 V 281 sowie jene von BGE 143 V 409 und 418) keinen hinreichenden Anlass bildet, um vom Grundsatz der Nichtanpassung eines formell rechtskräftigen Verwaltungsentscheides an eine geänderte Rechtspraxis abzuweichen (E. 6). Zur Begründung führte es aus, grundsätzlich rechtfertige eine Praxisänderung keine Änderung formell rechtskräftiger Verfügungen über Dauerleistungen (E. 5.2). Nach eingehender Abwägung der betroffenen Interessen hielt das Bundesgericht fest, nicht jede - bei einer Praxisänderung in der Natur der Sache liegende - Ungleichbehandlung genüge, um vom Grundsatz der Nichtanpassung einer rechtskräftigen Verfügung abzuweichen (E. 5.4). Von der mit BGE 145 V 215 erst im Juli 2019 abgelösten Praxis sei nach wie vor eine Vielzahl von versicherten Personen auch in teilweise Jahrzehnte zurückliegenden Verfahren betroffen (E. 5.4.1). Fortan sei - gleich wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen - nach dem strukturierten Beweisverfahren zu ermitteln, ob und gegebenenfalls inwieweit sich ein fachärztlich diagnostiziertes Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person auswirke. Im Ergebnis verhalte es sich damit nicht anders als in SVR 2020 IV Nr. 33 S. 115, 8C_541/2019 E. 5.1, betreffend leichte bis mittelgradige depressive Störungen (E. 5.4.2). Auch die grundsätzlich geringe Zeitbeständigkeit des nach früherer Rechtspraxis formell rechtskräftig beurteilten Gesundheitszustands begründe keine Ausnahme vom Grundsatz der Nichtanpassung. Der Eintritt von Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse sei im Laufe der Zeit naturgemäss wahrscheinlich und im Rahmen eines weiteren Neuanmeldungsverfahrens vergleichsweise einfach glaubhaft zu machen (E. 5.5). In der Folge bestätigte das Bundesgericht, dass die IV-Stelle auf das einzig mit der Praxisänderung von BGE 145 V 215 begründete Neuanmeldungsgesuch zu Recht nicht eingetreten sei (E. 6).
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5.3. Dem angefochtenen Urteil sind keinerlei Gründe zu entnehmen, welche an der Anwendbarkeit der Rechtsprechung gemäss BGE 147 V 234 auf den hier zu beurteilenden Fall etwas zu ändern vermöchten. Demnach ist die Beschwerde begründet und folglich gutzuheissen. Das vorinstanzliche Urteil ist aufzuheben, sodass es bei der Nichteintretensverfügung der IV-Stelle vom 11. Dezember 2020 sein Bewenden hat.
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6.
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Das Gesuch der Beschwerdeführerin um aufschiebende Wirkung der Beschwerde wird mit diesem Urteil gegenstandslos.
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7. | |
7.1. Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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7.2. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen (Art. 67 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1.
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Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 21. Juni 2021 wird aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle Solothurn vom 11. Dezember 2020 bestätigt.
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2.
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Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
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3.
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Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn zurückgewiesen.
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4.
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Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 2. Dezember 2021
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Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Maillard
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Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz
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