BGHSt 5, 396 - Rücklieferung eines Deutschen I | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: Rainer M. Christmann, A. Tschentscher | |||
GrundG Art. 16 Abs. 2 Satz 1; DAG § 1 |
4. Strafsenat |
Beschluß |
vom 3. März 1954 |
- 4 ARs 64/53 - |
(Fall Walter) |
Gründe: | |
Der Verfolgte ist deutscher Staatsangehöriger. Er ist mehrerer schwerer Verbrechen, begangen 1949, in Berlin, dringend verdächtigt, aber nach Italien geflohen. Dort ist er wegen 45 Straftaten, die er inzwischen in Italien begangen hat, durch Urteil eines italienischen Gerichts zu neun Jahren sechs Monaten Gefängnis und 90.000 Lire Geldstrafe verurteilt worden. Die Rechtskraft dieses Urteils steht nicht fest. Die italienische Regierung hat auf Ersuchen der Bundesregierung die endgültige Auslieferung des Verfolgten mit dem Vorbehalt zugesagt, daß sie ihn nach Art. 670 der italienischen Strafprozeßordnung erst nach Verbüßung der von den italienischen Gerichten erkannten Strafe übergeben werde. Da dieser Vorbehalt die Durchführung des in Berlin eingeleiteten Strafverfahrens wegen der Gefahr des Verlustes der Beweismittel in Frage stellt und da es auch nicht erträglich ist, die Verwirklichung des Strafanspruches auf Jahre zurückzustellen, erwägt die Bundesregierung, die italienische Regierung um die vorläufige Auslieferung des Verfolgten zu ersuchen. Diesem Antrage würde die italienische Regierung entsprechen, falls ihr die Bundesregierung - wie in Art. 8 des wieder in Kraft befindlichen deutsch-italienischen Auslieferungsvertrages vom 12. Juni 1942 (RGBl. 1943 II S. 73; Bekanntmachung vom 5. Juni 1953, BGBl. 1953 II S. 149) vorgesehen ist - den Verfolgten nach seiner Aburteilung in Berlin zurückliefert. Zu einer solchen Verpflichtung könnte sich die Bundesregierung jedoch nur bekennen, wenn die Rücklieferung eines deutschen Staatsangehörigen an einen ausländischen Staat, der die vorläufige Auslieferung bewilligt hat, mit Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GrundG und § 1 des Deutschen Auslieferungsgesetzes (DAG) vereinbar ist, also nicht als verbotene Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen ist. Der Oberbundesanwalt hat daher, die Voraussetzungen des § 27 Abs. 2 DAG bejahend, beantragt, der Bundesgerichtshof- möge über folgende Rechtsfrage entscheiden:
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"Ist die Rücklieferung eine Auslieferung im Sinne von § 1 DAG und Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GrundG?"
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I. | |
Die Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs ist gemäß Art. 8 III Nr. 88 Abs. 1 des Gesetzes zur Wiederherstellung der Rechtseinheit vom 12. September 1950 (BGBl. 1950 S. 455) gegeben. Auch die Voraussetzungen für eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs sind erfüllt.
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1. Eine Entscheidung gemäß § 27 Abs. 2 DAG kann nur in einem anhängigen Auslieferungsverfahren ergehen (RGSt 65, 374; BGHSt 2, 292).
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Ein Auslieferungsverfahren im Sinne des DAG, d.h. ein Verfahren, in dem nach den Bestimmungen des DAG die Zulässigkeit der Auslieferung eines Verfolgten aus Deutschland an einen fremden Staat geprüft wird, liegt nicht nur dann vor, wenn über ein ausländisches Ersuchen um Auslieferung zu entscheiden ist, sondern auch dann, wenn in Verbindung mit einem ausgehenden Ersuchen über die Zulässigkeit einer von der Bundesrepublik zu gewährenden Rechtshilfe, und zwar über ihre Vereinbarkeit mit den Bestimmungen des DAG zu entscheiden ist, wenn also neben das "Einlieferungsverfahren" ein Auslieferungsverfahren tritt. In diesem Sinne handelt es sich hier um ein Auslieferungsverfahren; denn die Bundesregierung, die nach § 44 Abs. 1 DAG zuständige Stelle, steht in dieser Sache vor der Frage, ob die Rechtshilfe, die sie einem ausländischen Staate im Zusammenhang mit dem Ersuchen um vorläufige Einlieferung des Verfolgten zusagen und später gewähren will, nämlich die Rücklieferung des Verfolgten, mit den Bestimmungen des DAG und mit Art. 16 Abs.2 Satz 1 GrundG zu vereinigen ist.
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Das Reichsgericht hat es zwar, offenbar wegen der Fassung des § 44 Abs. 1 DAG ("zur Entscheidung über die Ersuchen der ausländischen Regierungen..."), als Voraussetzung für eine nach § 27 Abs. 2 DAG zu treffende Entscheidung bezeichnet, daß ein wirksames (ausländisches) Ersuchen vorliegt, weil nur dann ein bestimmter Fall anhängig sei, der für eine Entscheidung des Reichsgerichts Raum biete. Diese Voraussetzung ist indessen zu eng. In der Regel wird allerdings der Eingang eines ausländischen Ersuchens um Rechtshilfe im weiteren Sinne (d.h. um Auslieferung, Herausgabe von Sachen oder sonstige Rechtshilfe) das entscheidende Anzeichen für die Anhängigkeit eines Auslieferungsverfahrens sein, zumal da die §§ 1, 33, 34, 41 DAG solche Ersuchen als Voraussetzung für Rechtshilfe bezeichnen. Seit dem Erlaß des DAG hat sich jedoch das internationale Auslieferungsvertragsrecht weiterentwickelt, nicht zuletzt durch den Abschluß zahlreicher Vereinbarungen, die den Bedürfnissen der Praxis durch besondere Rechtsgestaltung entsprochen haben. Einige dieser Verträge sehen beispielsweise die vorläufige Auslieferung gegen die Verpflichtung der Rücklieferung vor, die das DAG nicht erwähnt. Trotzdem ist nicht zweifelhaft, daß die Zulässigkeit einer von der Bundesregierung zu gewährenden vorläufigen Auslieferung an Hand der Bestimmungen dieses Gesetzes geprüft werden muß. Aber auch im umgekehrten Fall besteht aus rechtsstaatlichen Gründen ein dringendes Bedürfnis, die Frage der Zulässigkeit einer Rücklieferung, zu der sich die Bundesregierung durch ein Ersuchen um vorläufige Auslieferung gemäß dem Vertragsinhalt gleichzeitig bekennt, zuvor gerichtlich überprüfen zu lassen. Die Bundesregierung liefe sonst Gefahr, sich dem Vorwurf eines Verfassungsbruchs oder einer Verletzung völkerrechtlicher Abmachungen auszusetzen, wenn sie die vorläufige Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen unter Zusage der vertraglich vorgesehenen Rücklieferung beantragen würde; ein deutsches Strafverfahren würde deshalb regelmäßig bis zur endgültigen Auslieferung zurückgestellt werden müssen. An dem Satz, ein Auslieferungsverfahren sei erst anhängig, wenn ein ausländisches Ersuchen vorliege, kann daher nur dort festgehalten werden, wo das DAG einen solchen Schritt voraussetzt. Hat aber eine Erklärung der Bundesregierung - hier die Stellung eines vorläufigen Einlieferungsersuchens - wegen vertraglicher Bindungen ohne ihr weiteres Zutun einen Anspruch der ausländischen Regierung auf Rechtshilfe, nämlich auf Rücklieferung, zur Folge, der nicht einmal im Wege eines Ersuchens erst geltend gemacht werden muß, sondern spätestens nach Durchführung der Strafverfolgung zu erfüllen ist, so steht inhaltlich die Entscheidung der Bundesregierung darüber, ob sie eine solche Handlung mit dieser Rechtsfolge vornehmen will, einer Entscheidung über ein ausländisches Ersuchen gleich. Das rechtfertigt, sie so zu behandeln, als läge dieses bereits vor.
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Läßt man in einem solchen Fall eine höchstgerichtliche Entscheidung zu, so wird dem, den die Bundesregierung einem ausländischen Staat überantworten will, in gesteigertem Maße verbürgt, daß ihm kein Unrecht widerfahre. Dieser Gedanke der Rechtsstaatlichkeit war schon für den Erlaß des Gesetzes maßgebend. Daher kann die hier dem § 27 Abs. 2 DAG gegebene Auslegung mit dem Gesetz nicht in Widerspruch stehen.
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Allerdings kann nur die zur Entscheidung drängende Sachlage eines bestimmten Falles Anlaß für eine Anrufung nach § 27 Abs. 2 DAG geben (a.A. Metgenberg-Doerner, Auslieferungsgesetz, 2. Aufl. S. 402 f.). Dem Erfordernis der Bestimmtheit ist hier jedoch genügt; denn zu entscheiden ist die Rechtsfrage, ob die in der Sache Walter aus einem vorläufigen Einlieferungsersuchen vertragsgemäß fließende, einem ausländischen Staat zu gewährende Rechtshilfe, nämlich die Rücklieferung, mit den Bestimmungen des DAG und mit Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GrundG zu vereinigen ist.
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2. Bedenken gegen die Zulässigkeit einer Entscheidung nach § 27 Abs. 2 DAG ergeben sich auch nicht daraus, daß mit der vorliegenden Sache kein Oberlandesgericht befaßt ist. Weder der Wortlaut noch die Stellung dieser Vorschrift zwischen den Absätzen 1 und 3 des § 27 zwingen zu der Annahme, eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs dürfe nur dann eingeholt werden, wenn ein OLG mit der Sache befaßt ist. Der unbestimmte Wortlaut läßt es offen, von wem die Entscheidung herbeigeführt wird. Er besagt ganz allgemein, das Reichsgericht (der Bundesgerichtshof) entscheide auch dann, wenn der Oberreichsanwalt (Oberbundesanwalt) oder der Staatsanwalt es zur Klärung einer Rechtsfrage beantragen. Der beschließende Senat hat zwar im Falle Polak (Beschluß vom 29. Dezember 1953 - 4 ARs 47/53) die Entscheidung über einige ihm vom Oberbundesanwalt nach § 27 Abs. 2 DAG unterbreitete Fragen abgelehnt. Dieser Beschluß beruhte aber auf dem Gedanken, daß die gestellten Fragen nach Beantwortung der in jenem Falle vom Oberlandesgericht nach § 27 Abs. 1 DAG dem Bundesgerichtshof unterbreiteten Frage für den bestimmten Fall ohne Bedeutung seien, es also an einem Zusammenhang dieser Fragen mit einer bestimmten Sache fehle.
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Auch im Schrifttum wird die Ansicht vertreten, eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs nach § 27 Abs. 2 DAG setze nicht voraus, daß ein Oberlandesgericht mit der Sache befaßt ist (Mettgenberg-Doerner a.a.O. S. 402; Reisner, Die Voraussetzungen der Auslieferung, 1932, 122).
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II. | |
In der Sache teilt der Senat im Ergebnis die vom Oberbundesanwalt vertretene Auffassung. Die Rücklieferung eines vorläufig ausgelieferten deutschen Staatsangehörigen kann nicht als Auslieferung im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GrundG angesehen werden; sie wird daher auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß § 1 DAG nur die Auslieferung von ausländischen Staatsangehörigen zuläßt.
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Nach Art. 7 des deutsch-italienischen Auslieferungsvertrags vom 12. Juni 1942 (RGBl. 1943 II S. 73) ist die Durchführung einer bewilligten endgültigen Auslieferung bis zum Abschluß eines Strafverfahrens, das im ersuchten Staat wegen einer anderen Tat anhängig ist, bis zur Verbüßung oder sonstigen Erledigung der in ihm erkannten Strafe oder bis zur Beendigung der Haft zurückzustellen.
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Art. 8 des angeführten Vertrages besagt aber:
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"Die vertragschließenden Teile werden in den Fällen des Art. 7 Personen, zu deren Auslieferung sie nach diesem Vertrage verpflichtet sind, einander zur Strafverfolgung vorläufig ausliefern, sofern die Interessen der Rechtspflege des ersuchten Teils nicht entgegenstehen. Der ersuchende Teil wird den Verfolgten auf Ersuchen des anderen Teils, jedenfalls aber nach Durchführung der Strafverfolgung unverzüglich zurückliefern."
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1. Dem Art. 8 ist für die Beantwortung der Frage, ob die Rücklieferung eine Auslieferung ist, nichts zu entnehmen; denn die Tatsache, daß eine solche Bestimmung vereinbart worden ist, besagt nichts darüber, ob diese Vereinbarung nach deutschem Recht getroffen werden durfte. Mag auch zur Zeit des Abschlusses des Vertrags (1942/43) wegen der damaligen staatsrechtlichen Verhältnisse der Gesetzgeber das Recht für sich in Anspruch genommen haben, völkerrechtliche Verträge ohne Rücksicht auf die Bestimmungen der Weimarer Verfassung abzuschließen, zur Durchbrechung des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GrundG wäre die Bundesregierung jedoch zur Zeit, als der Vertrag wieder in Kraft trat (1953), zweifellos nicht befugt gewesen; aus dem Vertrage selbst läßt sich also nichts herleiten für seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und rückschließend für die Frage, ob die Rücklieferung eine Auslieferung ist.
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Das Reichsgericht meint zwar in der Entscheidung im Falle Utschig (RGSt 65, 374 [382]), die Bestimmung des § 4 Abs. 2 des deutsch-niederländischen Auslieferungsvertrags vom 31. Dezember 1896 (RGBl. 1897 S. 731 ff.), die dem Art. 8 des deutsch-italienischen Vertrags sehr ähnlich ist, lasse keinen Zweifel darüber, daß die Rücklieferung eines von den Niederlanden nach Deutschland vorläufig ausgelieferten Reichsdeutschen zulässig wäre. Aus dieser Ansicht des Reichsgerichts läßt sich jedoch für die zu entscheidende Frage nichts herleiten, weil es sich jetzt um die Prüfung der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz handelt (vgl. dazu Mettgenberg, Ein Deutscher darf nicht ausgeliefert werden, 1925, 41 ff.). Außerdem erklärt das Reichsgericht nur die Rücklieferung eines schon vorläufig ausgelieferten Deutschen für zulässig; es kann allerdings kein Zweifel darüber bestehen, daß die Bundesrepublik wegen des Vorrangs internationaler Verträge vor dem innerstaatlichen Recht - einer allgemeinen Regel des Völkerrechts, die nach Art. 25 GrundG Bestandteil des Bundesrechts ist - verpflichtet wäre, einen deutschen Staatsangehörigen an Italien zurückzuliefern, falls sie Italien mit Erfolg um seine vorläufige Auslieferung ersucht hat. Zweifelhaft ist aber, ob die Bundesregierung im Hinblick auf Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GrundG und § 1 DAG ein solches Ersuchen stellen und sich damit zur Rücklieferung eines deutschen Staatsangehörigen verpflichten darf.
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2. Ergebnislos muß auch der Versuch bleiben, mit der Verschiedenheit des sprachlichen Ausdrucks die Wesensverschiedenheit zwischen Rücklieferung und Auslieferung zu begründen. Sprachlich läßt sich das Wesen eines Vorgangs nicht immer ganz erfassen. So weist der Oberbundesanwalt mit Recht darauf hin, daß der Ausdruck "vorläufige Auslieferung" nicht völlig zutreffe, weil eine Auslieferung voraussetze, daß die gesamte Gewalt aufgegeben werde, woran es bei der vorläufigen Auslieferung wegen des Vorbehalts der Rücklieferung fehle.
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3. Für die Beantwortung der Frage, ob die Rücklieferung eigener Staatsangehöriger rechtlich zulässig ist, kann auch nicht entscheidend sein, daß ihre Bejahung einem dringenden Bedürfnis der Rechtspflege abhelfen würde. Daß ein solches Bedürfnis besteht, ist allerdings nicht zweifelhaft (Köhler JW 1932, 2341 ff.; Mettgenberg a.a.O. im Nachtrag zur 1. Aufl, S. 591; Doerner in der 2. Aufl, S. 136; Meyer a.a.O., S. 49, 148 Nr. 4; Grützner BAnz 1953 Nr. 230, S. 7 unter "F"; Delaquis, Schweiz. Zeitschrift für das Strafrecht, 40. Jg., 1927, S. 163; vgl. auch RGSt 65, 388).
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4. Das Reichsgericht hat sich schon im Fall Utschig (RGSt 65, 374) für die Vereinbarkeit der Rücklieferung eines deutschen Staatsangehörigen mit Art. 112 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung (WeimVerf) und § 1 DAG ausgesprochen.
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a) Es war mit Recht der Auffassung, für die Entscheidung lasse sich nichts aus der Entstehungsgeschichte des DAG, insbesondere aus den Verhandlungen des Rechtsausschusses des Reichstages über den von der Reichsregierung vorgelegten Entwurf zum DAG herleiten (RGSt 65, 374 ff., insbesondere S. 380f und 384 - 386; vgl. Mettgenberg, 2. Aufl S. 35, 125, 530 ff., 535 f.).
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b) Ferner war das Reichsgericht zutreffend der Meinung (RGSt 65, 386), § 54 DAG könne nicht für die Zulässigkeit der Rücklieferung deutscher Staatsangehöriger angeführt werden; denn diese Vorschrift verpflichte zwar zur Beachtung der Bedingungen, die ausländische Regierungen an die Gewährung von Rechtshilfe knüpften, habe aber vor Art. 112 Abs. 2 WeimVerf nicht den Vorrang, da das DAG nicht mit verfassungsändernder Mehrheit angenommen worden sei (Mettgenberg 2. Aufl. S. 535 f). Dasselbe muß auch für das Verhältnis des § 54 DAG zu Art. 16 GrundG gelten.
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c) Das Reichsgericht hat dann das entscheidende Gewicht darauf gelegt, daß Art. 112 Abs. 2 WeimVerf die Auslieferung "zur Verfolgung oder Bestrafung" verbiete, und hat ausgeführt, die Rücklieferung habe nicht den Zweck, eine Verfolgung oder, Bestrafung zu ermöglichen, sondern habe die Strafverfolgung oder Bestrafung durch den ausländischen Staat nur zur Folge. Diese an den Wortlaut anknüpfende Auslegung des Art. 112 Abs. 2 WeimVerf ist nicht unwidersprochen geblieben (Mettgenberg a.a.O., Nachtrag zur 1. Aufl. S. 591; Doerner a.a.O. 2. Aufl. 135 f.; Köhler in der Anm. zu RG JW 1932, 2341; Reisner a.a.O. S. 27; Meyer a.a.O. S. 49 f.; Pohl, "Grundrechte" I, 267); ob zu Recht oder zu Unrecht, kann hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls läßt sich seit der Geltung des Grundgesetzes die Zulässigkeit der Rücklieferung nicht mehr mit dem Unterschied zwischen Zweck und Folge einer Auslieferung begründen, weil Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GrundG, abweichend von Art. 112 Abs. 2 WeimVerf, nicht nur die Auslieferung "zur Verfolgung oder Bestrafung", sondern die Auslieferung an das Ausland schlechthin verbietet. Der Senat gelangt aber auf Grund anderer Erwägungen zu demselben Ergebnis wie das Reichsgericht.
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5. Die Rücklieferung unterscheidet sich in ihrem Wesen grundsätzlich von der Auslieferung. Auslieferung ist im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz, 1 GrundG (weitergehend als § 1 DAG) die auf das Ersuchen einer zuständigen ausländischen Stelle bewirkte amtliche Überantwortung einer Person aus dem Bereich der inländischen Gerichtsgewalt an eine ausländische Gerichtsbarkeit. Der ausliefernde Staat gibt seine Gewalt über den Verfolgten zugunsten des ausländischen Staates auf. Die Auslieferung setzt somit voraus, daß der ausliefernde Staat die uneingeschränkte Gewalt über den Verfolgten besitzt, aber diese aufzugeben bereit ist. Dies gilt auch für die vorläufige Auslieferung, die als ein Unterfall der Auslieferung angesehen werden kann. Während aber bei der endgültigen Auslieferung die Gewalt über den Verfolgten ohne jede Einschränkung, also auch ohne zeitliche Begrenzung, dem ersuchenden Staat übergeben wird, tritt bei der vorläufigen Auslieferung der ersuchte Staat nur einen Teil seiner Gewalt an den ersuchenden Staat ab und auch diesen Teil nur auf Zeit. Der ersuchte Staat vermag die endgültige Auslieferung noch zu verweigern, wenn nachträglich durchgreifende Bedenken gegen sie auftauchen, etwa weil der Grundsatz der sog. Spezialität in dem durchgeführten Strafverfahren nicht beachtet 'worden ist (vgl. § 6 DAG).
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Die Rücklieferung ähnelt nur äußerlich der (vorläufigen oder endgültigen) Auslieferung, nämlich insofern, als der rückliefernde Staat durch sie ebenfalls die von ihm ausgeübte Gewalt aufgibt Zwischen der Überantwortung eines Verfolgten durch Auslieferung und der im Wege der Rücklieferung bestehen aber wesentliche innere Unterschiede. Das ergibt ein Vergleich der Lage, in der sich die beiden Staaten vor und nach der Auslieferung sowie vor und nach der Rücklieferung befinden.
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Die Auslieferung ermöglicht dem ersuchenden Staat überhaupt erst eine Ausübung der Gerichtsbarkeit über den Verfolgten. Durch sie wird dem ersuchenden Staat eine Rechtshilfe gewährt, die er zur Ausübung seiner Gerichtsbarkeit braucht. Das Verbot der Auslieferung eigener Staatsangehöriger beruht aber auf dem Gedanken, der Heimatstaat solle nicht dazu beitragen, daß über seine Staatsangehörigen ein anderer Staat seine Gerichtsbarkeit ausüben kann, wenn dieser Staat aus eigener Macht nicht dazu in der Lage ist (vgl. dazu Martitz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 1888, Bd. I S. 298). Wo hingegen eine Rücklieferung eigener Staatsangehöriger in Betracht kommt, kann der fremde Gewahrsamsstaat seine Gerichtsbarkeit ausüben, ohne auf Rechtshilfe angewiesen zu sein und ohne von dem - um vorläufige Auslieferung ersuchenden - Heimatstaat gehindert zu werden.
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Gewährt die Auslieferung dem ersuchenden Staat eine Stellung, die er vorher nicht besessen hat, so stellt die Rücklieferung nur den Zustand wieder her, der schon vor der vorläufigen Auslieferung bestanden hat; sie versetzt den ausliefernden Staat wieder in die Lage, in der er sich schon vorher befunden und die er freiwillig zugunsten des ersuchenden Staates vorübergehend aufgegeben hat. Auch die Rechtslage des Verfolgten wird durch die Rücklieferung nicht gegenüber der Lage, in der er sich schon vorher befunden hatte, verschlechtert.
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Die unterschiedliche Lage der beteiligten Staaten vor und nach der vorläufigen Auslieferung sowie vor und nach der Rücklieferung tritt auch zutage, wenn man den Umfang der bei der vorläufigen Auslieferung und bei der Rücklieferung dem fremden Staat übertragenen Gewalt vergleicht. Bei der Rücklieferung gibt der rückliefernde Staat ein viel geringeres Maß an Gewalt auf, als der ersuchte Staat bei der vorläufigen Auslieferung; denn der rückliefernde Staat hat durch die vorläufige Auslieferung nur einen Teil der vom ausliefernden Staat ausgeübten Gewalt erhalten. Eine gesetzliche Bestimmung des ersuchenden Staates, die die Auslieferung eines Verfolgten vor Verbüßung der im Inland erkannten Strafe verbietet (wie z.B. Art. 670 der italienischen StPO), kann die Rücklieferung nicht verzögern. Die Ausübung dieser Teilgewalt ist zeitlich begrenzt. Während der ersuchte Staat vielfach den von ihm vorläufig Ausgelieferten zurückfordern oder mindestens in absehbarer Zeit die Rücklieferung des Verfolgten erwarten und dann seine Gerichtsbarkeit wieder über ihn ausüben kann, verliert der rückliefernde Staat mit der Rücklieferung völlig die Gewalt über den Verfolgten und muß sich gedulden, bis der fremde Staat die endgültige Auslieferung durchführt. Seinen Anspruch auf diese kann er bei weitem nicht mit der Stärke verfolgen, wie der ersuchte Staat einen Rücklieferungsanspruch. Der ersuchende Staat erhält den ihm übertragenen Teil der Gewalt nur mit der Rücklieferungsverpflichtung belastet und muß den Verfolgten für den ersuchten Staat im Gewahrsam behalten, selbst wenn das Gericht des ersuchenden Staates ihn freispricht. Infolge dieser Verpflichtungen kann der ersuchende Staat, wenn er der Heimatstaat des Verfolgten ist, dem Verfolgten keinen größeren Schutz angedeihen lassen als vor dessen vorläufiger Auslieferung, also während seines Aufenthalts im Gebiet des fremden Staates. Die Bande zwischen dem Verfolgten und dem Staat, dem er vorläufig ausgeliefert ist, sind bedeutend schwächer als die zwischen dem Verfolgten und dem ausliefernden Staat. Deshalb steht der Schutzgedanke, der die Grundlage des Verbots der Auslieferung eigener Staatsangehöriger ist, zwar der vorläufigen Auslieferung, nicht aber der Rücklieferung entgegen. Es ist zudem zu bedenken, daß der an seinen Heimatstaat vorläufig Ausgelieferte den Vorteil genießt, sich vor einem Gericht des Heimatstaates in seiner Muttersprache und nach dessen Verfahrensvorschriften verantworten zu können, statt Gefahr zu laufen, daß der fremde Gewahrsamsstaat - wenn die rechtliche Möglichkeit dazu besteht - seine Aburteilung auch wegen dieser strafbaren Handlungen übernimmt (vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 3 StGB), falls eine vorläufige Auslieferung wegen des Verbots der Rücklieferung nicht in Betracht kommt.
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Im Schrifttum wird die hier vertretene Ansicht teils mit, teils ohne nähere Begründung geteilt (vgl. Jagusch LeipzKom, 7. Aufl., Anm. 3 zu § 9 StGB; von Ammon DStrR 1934, 49; Grützner, BAnz 1953 Nr. 203, S. 7 unter "F"; ausführlich und ähnlich wie hier: Schultz, Das Schweizerische Auslieferungsrecht, Basel, 1953, 507 f., der auf S. 508 Nr. 60 darauf hinweist, daß die Schweiz, Frankreich und Italien die Rücklieferung für zulässig halten). Die Verfechter der gegenteiligen Auffassung beachten nicht ausreichend die hier für entscheidend erachteten Gesichtspunkte (Meyer, Die Einlieferung, S. 49 f ; Doerner bei Mettgenberg, 2. Aufl., S. 135; Grützner, BAnz 1952 Nr. 130, S. 8, der seine Ansicht später geändert hat - vgl. oben -; Wernicke im Bonn Komm, Anm. II 3 e zu Art. 16 GrundG).
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