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Beschluß | |
des Ersten Senats vom 10. März 1958
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-- 1 BvL 42/56 -- | |
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 21 Abs. 2 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vom 9. Juni 1953 -- BGBl. I S. 377 -- auf Antrag des Oberlandesgerichts Hamm vom 12. Juli 1956 -- 2 Ss 488/56 --.
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Entscheidungsformel:
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§ 21 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vom 9. Juni 1953 -- BGBl. I S. 377 -- (GjS) ist mit Art. 6 Abs. 2 GG insoweit unvereinbar, als er für den Tatbestand des § 6 Abs. 2 GjS den aus Art. 6 Abs. 2 GG zu entnehmenden Rechtfertigungsgrund für erziehungsberechtigte Eltern zu einem Strafausschließungsgrund abschwächt.
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Gründe: | |
I.
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Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (GjS) grenzt den Kreis der Schriften ab, die geeignet sind, Jugendliche sittlich zu gefährden, und ihnen deshalb nicht feilgeboten oder zugänglich gemacht werden dürfen (§ 3 GjS). Jugendgefährdende Schriften sind in eine Liste aufzunehmen. Die Aufnahme ist bekanntzumachen (§ 1 GjS). Schriften, die Jugendliche offensichtlich sittlich schwer gefährden, unterliegen den Beschränkungen des Gesetzes, ohne daß es einer Aufnahme in die Liste und einer Bekanntmachung bedarf (§ 6 Abs. 1 GjS).
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Nach § 21 Abs. 1 GjS werden Zuwiderhandlungen gegen die §§ 3 bis 6 GjS bestraft. § 21 Abs. 2 Satz 1 GjS lautet: "Macht der Erziehungsberechtigte, der gesetzliche Vertreter oder ein Jugendlicher eine Schrift, die den Beschränkungen der §§ 3 bis 6 unterliegt, einem Jugendlichen zugänglich, so bleibt die Tat straflos."
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II.
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Beim Oberlandesgericht Hamm schwebt ein Strafverfahren gegen die Eheleute B., weil sie der 15 jährigen Tochter ihrer Nachbarsleute, Elisabeth L., Zeitschriften überließen, die für Nacktkultur durch Bild werben. Das Amtsgericht Essen-Borbeck hat die Angeklagten, die Mitglieder der sogenannten "Freikörperkultur-Bewegung" sind, mit Urteil vom 18. Mai 1955 wegen Verstoßes gegen § 6 Abs. 2, § 21 GjS zu je 70 DM Geldstrafe, ersatzweise zu je einer Woche Gefängnis, verurteilt. Es folgte dabei der Einlassung der Angeklagten, die Mutter der Elisabeth L. sei mit der Überlassung der Schriften einverstanden gewesen, hielt dieses Einverständnis aber für rechtlich unerheblich, weil auch die Eltern nicht berechtigt seien, ihren jugendlichen Kindern Schriften zugänglich zu machen, die durch Bild für Nacktkultur werben. Die Eltern würden zwar nach § 21 Abs. 2 GjS nicht bestraft, ihr Verhalten aber bleibe rechtswidrig. Daher könne ihre Einwilligung kein Rechtfertigungsgrund sein für Dritte, die Jugendlichen solche Schriften zugänglich machten.
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Im Berufungsverfahren wurden die Angeklagten zu je 20 DM Geldstrafe, ersatzweise 5 Tage Gefängnis, verurteilt.
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Mit der Revision griffen sie erneut das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften als verfassungswidrig an.
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Das Oberlandesgericht hält einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 GG für gegeben und hat die Sache mit Beschluß vom 12. Juli 1956 dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur Entscheidung über die Vereinbarkeit von § 21 Abs. 2 GjS mit Art. 6 Abs. 2 GG vorgelegt.
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Die Bundesregierung hält die zur Prüfung gestellte Vorschrift des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften für verfassungsmäßig. Der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Hamm ist als Beteiligter des Ausgangsverfahrens derselben Auffassung. Die Angeklagten haben angeregt, die Verfassungsmäßigkeit des ganzen Gesetzes, insbesondere des § 6 Abs. 2 GjS, auch im Hinblick auf Art. 3 und 5 GG zu prüfen.
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Die Vorlage, über die ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (BVerfGE 2, 213 [217]), ist zulässig. Der Auffassung des Oberlandesgerichts ist im Ergebnis zuzustimmen.
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1. Die Auslegung, die das Oberlandesgericht dem § 21 Abs. 2 Satz 1 GjS gibt, ist zu billigen. Er enthält in der Tat nur einen ![]() ![]() | |
In der Regel wird sich nur im Einzelfalle feststellen lassen, ob ein solcher Mißbrauch vorliegt. Der Gesetzgeber wird sich daher weitgehend darauf beschränken müssen, die Voraussetzungen zu normieren, unter denen Gerichte und Verwaltungsbehörden in das elterliche Erziehungsrecht eingreifen dürfen. Für den schwersten Eingriff -- die Trennung des Kindes von der Familie -- folgt dies bereits aus Art. 6 Abs. 3 GG. Das schließt indessen nicht aus, gewisse Verhaltensweisen generell als Mißbrauch des elterlichen Erziehungsrechts zu werten und gesetzlich zu verbieten. Mit generellen Verboten darf der Gesetzgeber in das elterliche Erziehungsrecht im Hinblick auf die in Art. 6 Abs. 2 GG zum Aus ![]() ![]() | |
2. § 6 Abs. 2 GjS enthält eine generelle Maßnahme. Sie wäre nur zulässig, wenn entweder die Erziehung zur Freikörperkultur selbst bereits ein Mißbrauch des elterlichen Erziehungsrechts wäre oder Schriften, die durch Bild für Nacktkultur werben, Jugendliche in aller Regel sittlich gefährdeten oder wenn sozial bedeutsame Gefahren, die von solchen Schriften ausgehen, auf andere Weise nicht bekämpft werden könnten. Keine dieser Voraussetzungen ist erfüllt.
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a) Die Erziehung zur sogenannten Freikörperkultur -- jedenfalls in der Form, wie sie zur Zeit von der Freikörperkultur-Bewegung propagiert wird -- hält sich noch im Rahmen des erzieherischen Ermessens, das den Eltern zusteht. Sie können also nicht gehindert werden, ihre Kinder zur Freikörperkultur zu erziehen. Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften will dies auch nicht verhindern (vgl. Begründung zu § 6 des Regierungsentwurfs, BT I Drucks. Nr. 1101).
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b) Der Gesetzgeber will nur eine spezifische Form der Beeinflussung Jugendlicher im Sinne der "Freikörperkultur- Bewegung" verbieten. Er geht zutreffend davon aus, daß "zweifellos die Darstellung eines nackten menschlichen Körpers an sich weder unanständig noch obszön ist. Es ist aber zu berücksichtigen, daß die Anschauungen der überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes die Verneinung eines natürlichen Schamgefühls durch ungeniertes Zurschaustellen des nackten Körpers im täglichen Leben ablehnt" (Begründung zu § 6 des Regierungsentwurfs a.a.O.). Die durch Bild für Nacktkultur werbenden Schriften seien generell als jugendgefährdend anzusehen (vgl. den mündl. Bericht des Ausschusses für Jugendfürsorge, BT I 230. Sitzung Verh. S. 10534).
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c) Die in § 6 Abs. 2 GjS getroffene Regelung ist, soweit sie in das in Art. 6 Abs. 2 GG gewährleistete elterliche Erziehungsrecht eingreift, nicht das gebotene und adäquate Mittel zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks. Einzelne Nummern einer Zeitschrift im Sinne von § 6 Abs. 2 GjS können von der Bundesprüfstelle auf die Liste der jugendgefährdenden Schriften (§ 1 GjS) gesetzt werden; unter den Voraussetzungen des § 7 GjS kann gegen eine solche Zeitschrift vorbeugend eingeschritten werden. Soweit Nacktkulturschriften Jugendliche offensichtlich schwer gefährden, bedarf es nicht erst der Aufnahme in die Liste, um die ![]() ![]() | |
3. Zusammenfassend ergibt sich:
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Der Gesetzgeber war nicht befugt, den Rechtfertigungsgrund des Art. 6 Abs. 2 GG in § 21 Abs. 2 Satz 1 GjS in einen Strafausschließungsgrund abzuschwächen und dadurch einem wegen Verstoßes gegen §§ 3 und 6 Abs. 2 GjS Angeklagten von vornherein die Möglichkeit abzuschneiden, sich auf das elterliche Einverständnis zu berufen. Verfassungswidrig ist dieses Vorgehen des Gesetzgebers allerdings nur, soweit es sich gegen Eltern richtet, denen das elterliche Erziehungsrecht (Sorgerecht) zusteht.
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4. Da § 21 Abs. 2 Satz 1 GjS in dem zu prüfenden Umfang gegen Art. 6 Abs. 2 GG verstößt, erübrigt sich eine Prüfung, ob er insoweit andere Vorschriften des Grundgesetzes verletzt (BVerfGE 6, 55 [82]). Dem Bundesverfassungsgericht ist es in diesem Verfahren auch verwehrt, die Vereinbarkeit anderer Vorschriften des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften mit Art. 5 GG zu prüfen. Soweit das Vorbringen der Angeklagten des Ausgangsverfahrens etwa darauf abzielen sollte, kann ihm nicht entsprochen werden (BVerfGE 4, 387 [398]). Hier war nur zu entscheiden, inwieweit die zur Prüfung gestellten Vorschriften des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise in das elterliche Erziehungsrecht eingegriffen haben. ![]() |