BVerfGE 85, 94 - Kreuz im Klassenzimmer | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Johannes Rux, A. Tschentscher | |||
Beschluß |
des Ersten Senats vom 5. November 1991 |
- 1 BvR 1087/91 - |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1) des Herrn S..., 2) der Frau S..., 3) der Minderjährigen S..., 4) des Minderjährigen S..., 5) des Minderjährigen S... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Gottfried Niemitz, Schwimmbadstraße 18, Freiburg i.Br. - gegen a) den Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Juni 1991 - 7 CE 91.1014 -, b) den Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 1. März 1991 - RO 1 E 91.167 - und Antrag auf Prozeßkostenhilfe, hier: Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung |
Entscheidungsformel: |
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. |
Der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe und Beiordnung des Prozeßbevollmächtigten für den Antrag auf Erlaß der einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. |
Gründe | |
I. | |
1. Nach § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern (VSO) ist in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen. Die Beschwerdeführer begehren unter Berufung auf ihre negative Glaubensfreiheit die Entfernung von Kreuzen und von Kruzifixen aus Schulräumen, in denen sich die Beschwerdeführer zu 3) bis 5) - die Kinder der Beschwerdeführer zu 1) und 2) - während des Unterrichts aufzuhalten haben. Derzeit sind in ihren Klassenzimmern die früher vorhandenen großen Kruzifixe gegen kleinere Kreuze an weniger auffälliger Stelle ausgewechselt.
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Der Antrag der Beschwerdeführer auf vorläufigen Rechtsschutz blieb vor den Verwaltungsgerichten unter anderem deshalb ohne Erfolg, weil sie keinen Anspruch darauf hätten, daß die Schule in Erfüllung ihres Bildungsauftrags aus Art. 7 Abs. 1 GG von vornherein auf religiöse Symbole verzichte. Denn damit wären diejenigen Schüler und Eltern in ihrer Glaubensfreiheit benachteiligt, die religiös-weltanschauliche Bezüge im Unterricht wünschten. Das Kreuz sei nicht Ausdruck eines Bekenntnisses zu einem konfessionell gebundenen Glauben, sondern wesentlicher Gegenstand der allgemein christlich-abendländischen Tradition und Gemeingut des christlich-abendländischen Kulturkreises. Einem Nichtchristen oder einem weltanschaulich anders Gesinnten sei nach dem Toleranzgebot zumutbar, seine Anbringung unter dem Gesichtspunkt der gebotenen Achtung vor der Weltanschauung anderer hinzunehmen.
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2. Mit ihrem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung machen die Beschwerdeführer geltend, daß der Staat mit der Anbringung von Kreuzen seine Verbundenheit mit christlichen Glaubensinhalten bekunde und leicht beeinflußbare Schulkinder in deren Sinne zu prägen versuche. Das sei weder durch das staatliche Schulorganisationsrecht noch durch die positive Religionsfreiheit der Mehrheit gedeckt; Art. 4 GG diene gerade dem Minderheitenschutz. Die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verletze daneben Art. 19 Abs. 4 GG; die langfristigen Folgen einer ständigen Beeinflussung der Kinder seien kaum korrigierbar.
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3. Das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz verteidigt die angegriffenen Entscheidungen.
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II. | |
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, aber unbegründet.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, welche der Beschwerdeführer für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muß das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (BVerfGE 76, 253 [255]; st. Rspr.).
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Über sie kann vor Durchführung des verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens jedenfalls deshalb entschieden werden, weil sie Fragen von allgemeiner Bedeutung im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG aufwirft. Zu klären ist insbesondere, ob und unter welchen Umständen die Verwendung religiöser Symbole in einer Schule die negative Religionsfreiheit berührt und inwieweit sie von der Minderheit hinzunehmen ist, weil sie der positiven Religionsfreiheit der Mehrheit Rechnung tragen soll.
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Die danach gebotene Abwägung der eintretenden Folgen fällt zu Lasten der Beschwerdeführer aus.
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Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweist sich die Verfassungsbeschwerde später jedoch als begründet, dann sind die Beschwerdeführer zu 3) bis 5) bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde weiterhin mit dem Anblick von Kreuzen in ihren Klassenzimmern und größeren Kruzifixen in anderen Schulräumen konfrontiert und die Beschwerdeführer dadurch - wie im summarischen Verfahren der einstweiligen Anordnung zu unterstellen ist - in ihrer negativen Religionsfreiheit verletzt. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die tatsächliche Beeinträchtigung durch die derzeitige Handhabung - Ersetzung der Kruzifixe in den Klassenräumen durch Kreuze an weniger auffälliger Stelle - erheblich abgemildert ist.
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Ergeht die einstweilige Anordnung, bleibt die Verfassungsbeschwerde aber erfolglos, so kann der Gesetzesbefehl aus § 13 VSO, der der positiven Religionsfreiheit anderer Schüler Rechnung tragen soll, für die Dauer der einstweiligen Anordnung nicht befolgt werden.
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