![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: Philip Lengacher, A. Tschentscher | |||
![]() | ![]() |
![]() |
vom 23. Januar 1913 in Sachen "Freiwilligen-Mission" und Wilken gegen Obergericht des Kantons Bern. | |
Regeste |
Angebliche Willkür bezw. Verletzung der Rechtsgleichheit und der Glaubens- und Gewissensfreiheit durch Anwendung kantonaler Gesetzesvorschriften über das Hausieren (Feilbieten von Waren im Umhertragen) auf die Verbreitung einer religiösen Zeitschrift durch Angehörige der betr. Sekte unter Entgegennahme "freiwilliger" Gaben. Zulässigkeit der daraus hergeleiteten Patentpflicht vom Standpunkte des Art. 49 BV, sofern die Patenttaxe nach ihrer Höhe nicht prohibitiv wirkt.![]() | |
![]() | |
Das Bundesgericht hat,
| 1 |
da sich ergeben:
| 2 |
A. | |
Der Rekurrent Wilken, Evangelist der christlichreligiösen Sekte "Freiwilligen-Mission" vertrug am 30. und 31. August 1911 in Langnau und Signau das von dieser herausgegebene Blatt "Der Überwinder" und nahm dafür freiwillige Geldspenden entgegen. Wegen dieser Tätigkeit wurde er vom Landjäger dem Regierungsstatthalter verzeigt und von letzterem unter der Anschuldigung der Übertretung des kantonalen Gesetzes über den Marktverkehr und den Gewerbebetrieb im Umherziehen, sogen. Hausiergesetz vom 24. März 1878 dem Richter überwiesen.
| 3 |
Dieses Gesetz bestimmt u.a.:
| 4 |
§ 3
| 5 |
Unter den Begriff des Gewerbebetriebes im Umherziehen fällt: 1. das Feilbieten von Waren a) durch Umhertragen und Umherführen in den Straßen oder in den Häusern (Hausieren im engern Sinne). | 6 |
§ 4
| 7 |
Zur Ausübung des Gewerbebetriebes im Umherziehen ist der Besitz eines Patents erforderlich.
| 8 |
§ 5
| 9 |
Die Patentgebühr zu Handen des Staates beträgt 1 bis 200 Fr. per Monat.
| 10 |
§ 6
| 11 |
Der Patentträger hat in jeder Gemeinde, in der er sein Gewerbe ausüben will, zuvor das Visum der Ortspolizeibehörde einzuholen.
| 12 |
Die Gemeinden sind berechtigt, von dem unter § 3 Ziff. 1, 2, 4 und 5 bezeichneten Hausierern pro rata der Zeit eine Taxe im gleichen Betrage zu erheben, wie die staatliche Patentgebühr, im Minimum von 20 Rappen.
| 13 |
§ 9
| 14 |
Widerhandlungen gegen die Bestimmungen dieses Gesetzes sollen mit Geldbußen von 1--200 Fr. bestraft werden.
| 15 |
Ferner schreibt die regierungsrätliche Vollziehungsverordnung zum Gesetze vom 26. Juni 1878 vor:
| 16 |
Art. 15
| 17 |
Die monatlichen Patentgebühren betragen 1. für das Feilbieten von Waren a) durch Umhertragen oder Umherführen in den Straßen oder in den Häusern (§ 3 Ziff. 1 litt. a des Gesetzes), 1 bis 50 Fr. | 18 |
Art. 17
| 19 |
20 | |
In der Einvernahme vor dem Polizeirichter von Signau sagte Wilken u.a. aus: "Ich offerierte den Leuten den "Überwinder" in der Weise, daß ich sie fragte, ob sie vielleicht etwas Gutes zum Lesen wollten, vom Wort Gottes, und wenn sie sich dafür interessierten und mich fragten, was es koste, so antwortete ich, es sei eine freiwillige Sache, es sei Missionssache, wenn sie freiwillig dafür etwas geben wollten, so sei ich für die geringste Gabe dankbar. Verlangt habe ich eine Gegenleistung nirgends. Dagegen ist richtig, daß ich in vielen Fällen für das Blatt 10 oder 20 Cts. erhielt, auch in einigen Fällen nichts. Meine Tätigkeit besteht im Leiten von Versammlungen und im Verbreiten des "Überwinder". Ich bin ungefähr die Hälfte des Jahres auf Reisen und mit dem Vertrieb des "Überwinder" beschäftigt ..... Ich füge bei, daß die von den Leuten entrichteten Beträge eigentlich nicht für das Blatt sein sollen, d.h. eine Gegenleistung dafür, sondern für die Mission. Ich sage dies auch den Leuten. Wenn ich auch von den Leuten keine Bezahlung verlange, so wünsche ich doch oder ist es mir recht, daß und wenn sie für die Mission etwas leisten. Ich habe unserem Leiter Ferdinand Windmüller wöchentlich Abrechnung zu leisten und die eingegangenen Beträge abzuliefern, letzteres monatlich ..... Das Geld, das ich auf meinen Reisen brauche, zirka 6 -- 8 Fr. per Woche, verschaffe ich mir vorerst aus dem Erlös des "Überwinder", unter Vorbehalt der Abrechnung." In ähnlichem Sinne äußerten sich die Zeugen, denen Wilken den "Überwinder" angetragen hatte.
| 21 |
Durch Urteil vom 15. November 1911 erklärte der Polizeirichter von Signau Wilken der Widerhandlung gegen das Hausiergesetz schuldig und verurteilte ihn zu einer Buße von 15 Fr., zur Nachzahlung einer Patentgebühr von 3 Fr. und je 50 Cts. Visagebühren an die Gemeinden Langnau und Signau, sowie zu den Kosten. Wilken ergriff hiegegen die Appellation an das Obergericht. Dieses bestätigte jedoch am 20. Juli 1912 das erstinstanzliche Urteil, im Wesentlichen mit folgender Begründung: Der ![]() ![]() | 22 |
In dem in den vorstehenden Motiven angeführten früheren Falle Guttermann und Konsorten handelte es sich um die Verbreitung des Blattes "Kriegsruf" durch Angehörige der Heilsarmee, in dem Falle Waldvogel und Meier ebenfalls um die Verbreitung des "Überwinder" durch zwei andere Angehörige der "Freiwilligen-Mission". In beiden Fällen sind die Angeschuldigten, weil sie bei der Verbreitung der genannten Blätter Gaben entgegengenommen hatten, ohne im Besitze eines Hausierpatents zu sein, vom Obergericht der Übertretung des Hausiergesetzes schuldig erklärt worden.
| 23 |
B. | |
Gegen das Urteil des Obergerichts haben die "Freiwilligen-Mission", vertreten durch ihren Leiter Ferdinand Windmüller, und Johann Hermann Wilken den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen mit dem Antrage, es sei dasselbe sowie das vorangehende Erkenntnis des Polizeirichters von Signau ![]() ![]() ![]() ![]() | 24 |
C. | |
Die I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern hat beantragt, es sei auf den Rekurs der "Freiwilligen-Mission" mangels Legitimation nicht einzutreten und der Rekurs des Wilken aus den im angefochtenen Entscheide angeführten Gründen abzuweisen.
| 25 |
in Erwägung: | |
Erwägung 1 | |
1. Auf den Rekurs der "Freiwilligen-Mission" kann schon deshalb nicht eingetreten werden, weil jeder Ausweis darüber fehlt, daß derselben das Recht der Persönlichkeit zustehe. Weder sind Statuten vorgelegt noch sind irgendwelche andere Beweise dafür angeboten worden, daß die "Freiwilligen-Mission" in der Schweiz eine körperschaftliche Organisation im Sinne des Art. 52 und 60 ZGB besitze. Daß sie in Deutschland, wo sich nach den Akten hauptsächlich ihre Anhänger befinden, nach dem dort maßgebenden Rechte die juristische Persönlichkeit erlangt habe, ist nicht einmal behauptet worden. Unter diesen Umständen braucht nicht geprüft zu werden, ob ihr die Legitimation zum Rekurse nicht auch noch aus anderen Gründen, insbesondere mangels eines unmittelbaren eigenen Interesses an der Anfechtung des Entscheides abgesprochen werden müßte. Dagegen ist Johann Hermann Wilken zum Rekurse unzweifelhaft legitimiert, da sich die Verurteilung gegen ihn persönlich richtet und die Beschwerde die Verletzung nicht speziell staatsbürgerlicher, sondern allgemeiner verfassungsmäßiger Rechte behauptet, die auch dem Nichtschweizerbürger zustehen.
| 26 |
Erwägung 2 | |
2. Als Ware im Sinne des § 3 Ziff. 1 litt. a des bernischen Hausiergesetzes kann unzweifelhaft jede bewegliche Sache ![]() ![]() ![]() ![]() | 27 |
Erwägung 3 | |
3. Ebensowenig hat dargetan werden können, daß die Bestrafung des Rekurrenten gegen die in anderen gleichartigen Fällen beobachtete Praxis, also gegen die formelle Rechtsgleichheit verstoße. Aus dem früheren Urteile der Polizeikammer i.S. Guttermann und Mitbeteiligte ergibt sich, daß das Sammeln von Gaben bei Verteilung des "Kriegsruf" durch die Salutisten ohne Patent vom Obergerichte ebenfalls als Übertretung des Hausiergesetzes erklärt worden ist. Der Vorwurf ungleicher Behandlung im Vergleich zu den Salutisten ist also unbegründet. Daß andere Religionsgenossenschaften in der gleichen Weise hätten Beiträge sammeln dürfen, ohne ein Hausierpatent zu besitzen, ist nicht be ![]() ![]() | 28 |
Erwägung 4 | |
4. Gegenüber der Berufung des Rekurrenten auf Art. 49 BV ist zu bemerken, daß nach der ausdrücklichen Vorschrift des genannten Artikels die Glaubensansichten von der Erfüllung bürgerlicher Pflichten, also auch von der Pflicht zur Beobachtung allgemeingültiger Polizeivorschriften nicht entbinden. So gut die Kantone auf das Sammeln von Beiträgen für religiöse Zwecke die allgemeinen Vorschriften über Kollekten anwenden und es von einer polizeilichen Bewilligung abhängig machen können (vergl. AS 36 I Nr. 43 Erw. 2 [= BGE 36 I 236 (237)]), so gut können sie es, wo es sich in die Form der Kolportage religiöser Schriften kleidet, der Hausiergesetzgebung unterstellen, also dem Patentzwang unterwerfen (vergl. in diesem Sinne schon AS 12 Nr. 12 auf S. 108 [= BGE 12 I 93 (108)]). Unzulässig wäre dies nur dann, wenn die für das Patent zu entrichtende Abgabe, die Patenttaxe so hoch bemessen wäre, daß damit dem Betroffenen die Propaganda für seine religiösen Ansichten in der fraglichen Form faktisch verunmöglicht würde, wenn also die mit dem Patentzwang verbundene Besteuerung einen prohibitiven Charakter trüge. Daß dies die notwendige Folge der Unterstellung der Tätigkeit des Rekurrenten unter das Hausiergesetz wäre, läßt sich aber offenbar nicht sagen. Die (oben Fakt. A wiedergegebenen) Bestimmungen des Gesetzes und der Verordnung über die Taxen lassen dem Ermessen einen weiten Spielraum und ![]() ![]() | 29 |
Erwägung 5 | |
5. Was schließlich den im Eingang der Rekursschrift ebenfalls angerufenen Art. 55 BV anbetrifft, so hat der Rekurrent unterlassen, irgendwelche Ausführung darüber zu machen, wieso der angefochtene Entscheid gegen diese Vorschrift verstoßen soll. Insbesondere ist, wie bereits bemerkt, auch nicht einmal angedeutet worden, daß der Vertrieb anderer Zeitungen durch Umhertragen nach anderen Grundsätzen behandelt werde. Es kann daher auf diesen Rekursgrund schon wegen mangelnder Substantiierung nicht eingetreten werden (Art. 178 Ziff. 3 OG);
| 30 |
erkannt: | |
1. Auf den Rekurs der Freiwilligen Mission wird nicht eingetreten.
| 31 |
32 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |