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Bearbeitung, zuletzt am 25.03.2022, durch: Julian Marbach, A. Tschentscher | |||
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Regeste |
Es widerspricht dem Grundsatze der Rechtsgleichheit, die Fähigkeit zur Ausübung des Stimm- und Wahlrechtes von einer Steuerleistung abhängig zu machen. | |
Sachverhalt | |
A. | |
Das bernische Gesetz vom 26. August 1861 betreffend die Erweiterung des Stimmrechtes an den Einwohner- und Bürgergemeinden schreibt vor:
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"§ 1. Stimmberechtigt in der Einwohnergemeinde ist jeder Kantons- sowie jeder Schweizerbürger, welcher: a)... b) eine direkte Staats- (Grund-, Kapital- oder Einkommens-) Steuer oder eine Telle zu den allgemeinen Verwaltungskosten der Gemeinde bezahlt. § 2. Ueberdies können, sofern sie Kantons- oder Schweizerbürger sind, das Stimmrecht in der Einwohnergemeinde ausüben: a) Unabgeteilte Söhne, deren Eltern eine direkte Staatssteuer oder eine Telle zu den allgemeinen Verwaltungkosten bezahlen." ![]() | 2 |
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B. | |
Diesen Entscheid haben Zbinden und Genossen an den Regierungsstatthalter und sodann an den Regierungsrat von Bern erfolglos weitergezogen. Die Rekurrenten sind vom Regierungsrat durch Entscheid vom 14. September 1914 abgewiesen worden, wesentlich aus folgenden Gründen: Die vorwiegend wirtschaftlichen Aufgaben der Gemeinde rechtfertigten eine verschiedene Behandlung der Gemeindemitglieder auf Grund der Unterscheidung, ob sie zu den gemeinen Lasten der Gemeinde beitragen oder nicht. Die Bundesbehörden hätten zwar nie Anlass gehabt, sich über die Verfassungsmässigkeit des § 1 des genannten kantonalen Gesetzes auszusprechen, sie hätten jedoch zu wiederholten Malen in Kenntnis desselben gehandelt und so diese Vorschrift genehmigt. So habe der Nationalrat in der Sitzung vom 19. November 1873 einen Antrag (Zangger) zu Art. 42 des bundesrätlichen Entwurfes der Verfassungsrevision vom 4. Juli 1873 dahingehend: "Die Ausübung des Stimmrechtes in den Gemeindeangelegenheiten darf an keine anderen Bedingungen geknüpft werden als an die Ausübung der politischen Rechte überhaupt" verworfen. Ferner habe der Bundesrat in der Botschaft vom 2. Oktober 1874 erklärt: "Wir bemerken übrigens, dass es nicht in unserer Absicht liegt, diejenigen Bestimmungen der kantonalen Gesetzgebungen, welche überhaupt Gemeindestimmrecht und Steuerpflicht in gewissen Beziehungen von einander ab ![]() ![]() | 4 |
C. | |
Mit Eingaben vom 23. November 1914 haben Zbinden und Genossen gegen diesen Entscheid beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben mit folgenden Anträgen:
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"1. Das Bundesgericht wolle erklären, § 1 litt. b des bernischen Gesetzes vom 26. August 1861 stehe im Widerspruch mit dem Bundesrecht und sei deshalb ungültig. 2. Der Entscheid des bernischen Regierungsrates vom 14. September 1914 sei aufzuheben. Der Gemeinderat von Bolligen sei anzuweisen, die Beschwerdeführer Fritz Zbinden, Alfred Seiler, Fritz Widmer und Ernst Bühlmann von Amtes wegen in das Stimmregister der Einwohnergemeinde Bolligen einzutragen. 3. Die Kosten des früheren und des gegenwärtigen Verfahrens seien nicht den Beschwerdeführern zu überbinden." | 6 |
Die Rekurrenten führen im Wesentlichen an: § 1 litt. b leg. cit. widerspreche dem Art. 43 Abs. 5 BV, nach welchem das Stimmrecht in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten nach einer Niederlassung von drei Monaten erworben werde. Jene Vorschrift verletze aber auch Art. 4 BV, indem sie ein Vorrecht zu Gunsten der wirtschaftlich besser situierten Bürger aufstelle. Ein Widerspruch mit Art. 4 BV liege auch insofern im genannten Gesetze (§ 2), als die "unabgeteilten" Söhne zum Stimmrecht zugelassen werden, auch wenn sie keine Steuern bezahlen.
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D. | |
Der Regierungsrat von Bern hat mit Vernehmlassung vom 24. Dezember 1914 Abweisung der Beschwerde beantragt. Er macht unter Berufung auf die im angefochtenen Entscheide enthaltene Begründung ![]() ![]() | 8 |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
Erwägung 1 | |
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Auf das erste Beschwerdebegehren, mit welchem die Rekurrenten die Ungültigerklärung des § 1 litt. b des Gesetzes vom 26. August 1861 verlangen, kann indessen wegen Verspätung nicht eingetreten werden. Die Verfassungsmässigkeit einer kantonalen Rechtsnorm kann zwar auf dem Wege der staatsrechtlichen Beschwerde angefochten werden (AS 20 S. 750 [BGE 20, 744 E. 2 S. 750]; 22 S. 1001 [BGE 22, 997 E. 1 S. 1001 f.]; 25 I S. 84 [BGE 25 I 81 E. 1 S. 84 f.], usw.), aber auch dann muss der Rekurs binnen der 60tägigen Frist des Art. 178 Ziff. 3 OG eingereicht werden. Diese Frist ist nun, soweit die vorliegende Be ![]() ![]() | 10 |
Erwägung 2 | |
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Erwägung 3 | |
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Erwägung 4 | |
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Abgesehen davon ist der Grundsatz der Wechselwirkung von Gemeindestimmrecht und Beitrag an die Lasten der Gemeinde, worauf der Regierungsrat wesentlich abstellt, in der bernischen Gesetzgebung selbst nicht allgemein und nicht konsequent durchgeführt. Nach dem bernischen Steuersystem ist nämlich das Einkommen in der Gemeinde zu versteuern, wo es erworben wird, anderseits aber hat der Bürger das Stimmrecht da auszuüben, wo er niedergelassen ist (AS 38 I S. 466 ff. [=BGE 38 I 466 E. 4 f. S. 472 ff.]). Daraus folgt, dass in den Fällen, wo der Wohnort mit dem Steuerort nicht zusammenfällt, der Bürger in einer Gemeinde stimmen wird, zu deren finanziellen Lasten er nichts beiträgt. Nach § 2 des fraglichen kantonalen Gesetzes steht überdies das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten auch den "abgeteilten Söhnen, deren Eltern eine direkte Staatssteuer oder eine Telle der allgemeinen Verwaltungskosten der Gemeinde zahlen", zu; also auch in diesem Falle sind Bürger stimmberechtigt, welche selbst der Oeffentlichkeit keinen Beitrag leisten. Und endlich muss hervorgehoben werden, dass nach § 1 litt. b die Zahlung der blossen Staatssteuer zur Ausübung des Stimmrechts auch in Gemeindeangelegenheiten berechtigt. Und wenn auch, wie der Rekursbeklagte bemerkt, ein Teil der Staatssteuer den Gemeinden zu gut kommt (kantonales Gesetz vom 2. September 1887), so ist dadurch doch die Beziehung zwischen Stimmrecht und Gemeindesteuer wesentlich gelockert. Sobald aber das Stimmrecht in Gemeindesachen nicht von der Bezahlung einer Gemeindesteuer sondern von einer Leistung an den Staat abhängig gemacht wird, so trifft ![]() ![]() | 16 |
Erwägung 5 | |
5. Nicht durchschlagend zur Begründung des regierungsrätlichen Standpunktes ist der Hinweis auf die Praxis der Bundesbehörden, die den Entzug der politischen Rechte wegen Zahlungsunfähigkeit und wegen öffentlicher Unterstützung als zulässig erklärt (Burckhardt, S. 73). Für den Entzug der politischen Rechte wegen Zahlungsunfähigkeit ist Art. 26 SchKG massgebend, welcher die Befugnis zum Ausschluss der Zahlungsunfähigen vom Stimmrechte ausdrücklich den Kantonen einräumt und bei Almosengenössigkeit ist nicht die ökonomische Lage der Unterstützten, sondern vielmehr die Erwägung ausschlaggebend, dass diese Bürger, die nicht für sich selbst sorgen können, kaum in der Lage sein dürften, die öffentlichen Angelegenheiten zu beurteilen und mit Sachkenntnis ihr Stimmrecht auszuüben. Ebensowenig sind die Argumente entscheidend, die die Regierung aus der Verwerfung des Antrages Zangger im Nationalrate ableitet. Den Protokollen über die betreffenden Verhandlungen (s. Protokolle der eidgenössischen Räte über die Revision der BV 1873-74 S. 95) ist nicht zu entnehmen, aus welchen Gründen der Antrag Zangger unterlegen ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er einfach als überflüssig abgelehnt wurde, weil das Verbot eines Zensus in Gemeindeangelegenheiten sich bereits aus Art. 4 des Verfassungsentwurfes (gleichlautend mit dem heutigen Art. 4 BV) ergebe. Endlich ist die im angefochtenen Entscheide wiedergegebene Stelle aus der Botschaft des Bundesrates vom 2. Oktober 1874 zum ersten Entwurfe eines Bundesgesetzes über das Stimmrecht umsoweniger schlüssig, als sie mit andern Äusserungen der Bundesbehörden über Stimmrecht und Zensus in direktem Widerspruche steht. So mit dem Beschlusse der eidgenössischen Räte vom 25. Juli 1863 (BBI 1863 III S. 363), wodurch das Erfordernis eines bestimmten Vermögensbesitzes zur Ausübung der politi ![]() ![]() | 17 |
Erwägung 6 | |
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Demnach hat das Bundesgericht erkannt: | |
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