BGE 45 I 148 - Terminierung Gemeindeversammlung Melchnau | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 25.03.2022, durch: Julian Marbach, A. Tschentscher | |||
20. Urteil vom 15. Juli 1929 i. S. Maurer und Brand gegen Bern. | |
Regeste |
Inhalt des Stimmrechts -- Verfassungsmässiger Anspruch einer Minderheit darauf, dass ihrer Lage bei Bestimmung des Zeitpunkts von Gemeindeversammlungen möglichst Rechnung getragen werde. | |
Sachverhalt | |
A. | |
Am 23. März 1918 fand in Melchnau eine Einwohner- und Armengemeindeversammlung statt. Namens des Arbeitervereins Melchnau erhob dessen Vorstand, für den die Rekurrenten Maurer und Brand unterzeichneten, beim Regierungsstatthalteramt Aarwangen Beschwerde gegen die Versammlung, indem er geltend machte, dass sie nicht, wie es geschehen sei, an einem Samstag Nachmittag abgehalten werden dürfe, weil viele Lohnarbeiter deswegen einen halben Tagesverdienst verlören, andere ihre Arbeit überhaupt nicht verlassen könnten und auch die Landwirte zur erwähnten Zeit arbeiten müssten, so dass die Ansetzung der Gemeindeversammlung auf den erwähnten Zeitpunkt eine erhebliche Beeinträchtigung des grösseren Teils der Stimmberechtigten zur Folge habe. Eine gleiche Beschwerde wurde sodann von den Rekurrenten G. Maurer, Tierarzt, und H. Brand, Arzt, in Melchnau persönlich gegen die Einwohner- und Armengemeindeversammlung vom 21. Dezember 1918 erhoben. Die Rekurse stützten sich auf Art. 14 Abs. 2 des neuen bernischen Gemeindegesetzes vom 9. Dezember 1917, der lautet: "Es ist Pflicht der Gemeinde ihre Versammlungen so anzuordnen, dass ordentlicherweise der grössere Teil der Stimmberechtigten ohne erhebliche Beeinträchtigung daran teilnehmen kann." Zur Begründung dieser Bestimmung war bei der Beratung im Grossen Rat, namentlich vom Kommissionspräsidenten, ohne Widerspruch darauf hingewiesen worden, dass dem "grösseren Teil", der "grossen Mehrzahl", der "Mehrheit" der Bürger der Besuch der Gemeindeversammlungen ohne wesentliche Erwerbseinbusse ermöglicht werden müsse, dass aber die Mehrheit nach dem Gesetz auch ohne dies -- z.B. durch das Mittel der Initiative -- erreichen könne, dass Gemeindeversammlungen stets zu der ihr passenden Zeit abgehalten werden.
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Der Regierungsstatthalter wies die Beschwerden ab, worauf sich die Rekurrenten an den Regierungsrat, jedoch ebenfalls ohne Erfolg, wandten.
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Der den Rekurs abweisende Entscheid des Regierungsrates vom 26. März 1919, worin die Kosten des Verfahrens den Rekurrenten auferlegt werden, ist wie folgt begründet: Obwohl die erste Beschwerde von den Rekurrenten im Namen des Arbeitervereins erhoben worden sei, sei ihnen persönlich doch auch in Beziehung hierauf die Legitimation zum Rekurse zuzuerkennen, da sie die erwähnte Beschwerde materiell zu der ihrigen gemacht hätten. Wie sich unter anderem aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes ergebe, gewähre Art. 14 Abs. 2 des Gemeindegesetzes nicht irgend einer Minderheit einen Rechtsanspruch darauf, bei der Gemeindeversammlung auf alle Fälle und ohne Beeinträchtigung anwesend sein zu können; sondern diese Gesetzesbestimmung habe lediglich die Interessen der Mehrheit im Auge. Welches deren Wille sei, ergebe sich bei den Abstimmungen, und es sei Sache der Beteiligten, das Stimmenverhältnis in der Frage der Ansetzung der Gemeindeversammlungen feststellen zu lassen. Dass der grössere Teil der Stimmberechtigten von Melchnau im vorliegenden Falle durch den Zeitpunkt der Gemeindeversammlungen benachteiligt werden sei, hätten die Rekurrenten nicht bewiesen.
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B. | |
Gegen diesen ihnen am 12. April 1919 zugestellten Entscheid haben Maurer und Brand am 10. Juni 1919 die staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht ergriffen mit dem Antrag, "es seien die Beschwerden der Rekurrenten... in Abänderung des Entscheides des... Regierungsrates... gutzuheissen und die beiden Gemeindeversammlungen von Melchnau vom 23. März und 21. Dezember 1918 nebst den sämtlichen an denselben behandelten Traktanden zu kassieren und ungültig zu erklären."
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Zur Begründung wird ausgeführt: Es sei zuzugeben, dass die Auslegung, die der Regierungsrat dem Art. 14 Abs. 2 des Gemeindegesetzes gebe, dem rein grammatikalischen Sinn der Bestimmung entspreche. Die Entstehungsgeschichte zeige aber, dass diese Auslegung unrichtig sei. Die erwähnte Vorschrift verdanke ihre Entstehung der Tatsache, dass vielfach die Gemeindeversammlung auf einen Werktag Nachmittag angesetzt und dadurch insbesondere die arbeitende Bevölkerung am Erscheinen verhindert worden sei. Mit Art. 14 Abs. 2 des Gesetzes habe man die Gemeinden nun anhalten wollen, ihre Versammlungen so anzusetzen, dass nicht bloss die Mehrheit, sondern möglichst viele Stimmberechtigte daran teilnehmen können. Danach sei deren Abhaltung an einem Werktag Nachmittag ausgeschlossen, weil jeder arbeitende Bürger zu dieser Zeit seine Arbeit verrichten müsse, wenn er nicht eine Erwerbseinbusse erleiden wolle. Dies gelte, wenigstens in Melchnau, auch für den Samstag Nachmittag, wofür eine vom Gemeindeschreiber bestätigte Erklärung vorgelegt werde, die 71 von 325 Stimmberechtigten unterzeichnet hätten. Der weitaus grösste Teil der Bürger könne in Melchnau am ehesten an einem Sonntag Nachmittag oder an einem Werktag Abend bei einer Gemeindeversammlung erscheinen. Infolgedessen sei der Gemeinderat gesetzlich verpflichtet, diese Versammlungen auf einen solchen Zeitpunkt anzusetzen. Schon drei Mal seit 12 Jahren sei in Melchnau auf die Initiative stimmberechtigter Bürger hin über die Frage der Versammlungszeit verhandelt werden; diejenigen, die sich zur Ansicht der Rekurrenten bekannt hätten, seien aber jeweilen in Minderheit geblieben. Die besitzende Klasse habe damit eine unbequeme Minderheit (die Arbeiter) von der Teilnahme an den Gemeindeversammlungen ausschliessen wollen. Das Vorgehen des Einwohnergemeinderates von Melchnau und der Verwaltungsbehörden im vorliegenden Falle sei nichts anderes als Willkür und verfassungswidrige Verkürzung einer grossen Zahl stimmberechtigter Bürger in der Ausübung ihres Stimmrechte. Zudem handle es sich um eine wesentliche Ungleichheit der Bürger vordem Gesetz.
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C. | |
Der Regierungsrat hat Abweisung der Beschwerde beantragt
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
Erwägung 1 | |
1. Nachdem den Rekurrenten die persönliche Legitimation zur Beschwerdeführung vor dem Regierungsrat zuerkannt worden ist, ist sie ihnen auch für den staatsrechtlichen Rekurs in vollem Umfang zuzusprechen. Sie haben als Gemeindebürger das Recht zu verlangen, dass die Gemeindeversammlungen so einberufen werden, wie es rechtlich vorgeschrieben ist. Wie weit gerade sie persönlich durch die angefochtene Art der Ansetzung beeinträchtigt sind, braucht dabei nicht untersucht zu werden.
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Erwägung 2 | |
2. Die Rekurrenten behaupten in der staatsrechtlichen Beschwerde nicht mehr, dass die Mehrheit der Stimmberechtigten durch die Einberufung der Gemeindeversammlungen auf einen Samstag Nachmittag beeinträchtigt werde. Nach der von ihnen vorgelegten Erklärung haben sie nur eine Minderheit hinter sich, die nicht ganz 1/4 der Stimmberechtigten ausmacht. Dass nun diese oder die meisten unter ihnen mit Rücksicht auf ihre Berufstätigkeit an einer Gemeindeversammlung, wenn sie am Samstag Nachmittag abgehalten wird, nicht oder nur unter einem für sie erheblichen Nachteil teilnehmen können, ist nicht bestritten. Allein der Regierungsrat hat nicht willkürlich entschieden, indem er diesem Umstand keine Bedeutung beimass, sondern erklärte, Art. 14 Abs. 2 des Gemeindegesetzes verlange nur, dass die Versammlungen dem Willen der Mehrheit entsprechend angesetzt würden; denn seine enge Auslegung dieser Bestimmung entspricht ihrem Wortlaut und, wie die Rekurrenten im kantonalen Verfahren selbst anerkannt haben, auch der Entstehungsgeschichte.
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Erwägung 3 | |
3. Der Entscheid des Regierungsrates wird nun aber nicht nur wegen Willkür angefochten, sondern ausserdem noch wegen verfassungswidriger und rechtsungleicher Benachteiligung einer grossen Zahl von Stimmberechtigten in der Ausübung des Stimmrechts. Es fragt sich daher, ob der Anspruch der Rekurrenten nicht auch ohne Rücksicht auf Art. 14 Abs. 2 des Gemeindegesetzes aus der Kantons- oder der Bundesverfassung hervorgehe. Das politische Stimmrecht ist, zumal in einem demokratisch-republikanischen Gemeinwesen, ein grundlegendes Individualrecht; dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um eidgenössische, kantonale oder Gemeindeangelegenheiten handelt. Die bernische Staatsverfassung gewährleistet das Stimmrecht in den Art. 2 ff., allerdings zunächst und ausdrücklich nur in kantonalen Dingen. Nach Art. 7 des Gemeindegesetzes deckt sich aber die Stimmberechtigung für den Kanton mit derjenigen für die Gemeinde. Auch wenn eine Kantonsverfassung über das Stimmrecht schwiege, müsste es übrigens als verfassungsmässiges subjektives öffentliches Recht anerkannt werden.
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Dieses Recht geht nun nicht bloss darauf, dass die Eigenschaft einer Person als Stimmberechtigter anerkannt, sondern auch darauf, dass die Ausübung des Stimmrechtes praktisch ermöglicht wird (vergl. BBl 1911, IV, S. 332). Es kann zwar nicht jeder einzelne verlangen, dass seine besondern Verhältnisse berücksichtigt werden; wohl aber muss der normalen Lage grösserer Bevölkerungskreise, wenn es auch Minderheiten sind, möglichst Rechnung getragen werden, indem darauf geachtet wird, dass der Ausübung ihres Stimmrechts infolge der besondern Art der Anordnung nicht ein wesentliches praktisches Hindernis entgegen steht. Bei der Frage, was als solches zu würdigen sei, ist auf die Anschauung des Lebens abzustellen und zu berücksichtigen, dass nach dieser z.B. ein Lohnausfall als ein gewisses ernstliches Hindernis gilt, wie denn auch unbestrittenermassen das kantonale Gesetz Art. 14 Abs. 2 mit der erheblichen Beeinträchtigung in erster Linie einen solchen im Auge hat. In Beziehung auf die Ansetzung von Versammlungen, die zum Zwecke von Wahlen und Abstimmungen einberufen werden, muss der erwähnte Anspruch auf ungehinderte Ausübung des Stimmrechts dazu führen, den Zeitpunkt so zu wählen, dass möglichst viele Stimmberechtigte praktisch in der Lage sind, daran teilzunehmen. Es genügt nicht, dass dies nur für eine Mehrheit zutrifft. Besteht also in einer Gemeinde eine gemischte Bevölkerung, Landwirte und Fabrikarbeiter, so darf nicht, was die Zeit der Abhaltung der Gemeindeversammlungen betrifft, die Mehrheit die Minderheit vergewaltigen; sondern der Zeitpunkt ist so zu bestimmen, dass nicht nur die Mehrheit, sondern auch die Minderheit ohne wesentliche Beeinträchtigung daran teilnehmen kann, sofern es überhaupt möglich ist. Eine Missachtung dieses Grundsatzes bildet zudem eine Verletzung des Art. 4 BV. Die Tatsache, dass eine Bevölkerungsgruppe, die eine Minderheit bildet, wegen des Zeitpunkts der Gemeindeversammlungen daran praktisch nicht gut teilnehmen kann, bedeutet eine Ungleichheit, die nicht gerechtfertigt ist, sofern sich ein Zeitpunkt finden lässt, der Mehrheit und Minderheit die Teilnahme praktisch gestattet.
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Wird somit durch die Kantons- und die Bundesverfassung der Minderheit ein solcher Schutz gewährt, so liegt dies offenbar auch -- wie nebenbei bemerkt werden mag -- trotz des Wortlautes und der Entstehungsgeschichte im Sinn und Geist des Art. 14 Abs. 2 des Gemeindegesetzes. Man kann unter dem "grössern Teil" sehr wohl einen "möglichst grossen Teil" verstehen. So erhält denn auch die Bestimmung eine wirklich praktische Bedeutung, während sie sonst etwas ausspricht, was im Gemeindegesetz schon ohnehin enthalten ist.
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Nach dem Gesagten ist der Entscheid des Regierungsrates aufzuheben. Damit ist aber nicht gesagt, dass der Regierungsrat nun gezwungen wäre, ohne weiteres die Beschwerden der Rekurrenten gutzuheissen und die Beschlüsse der beiden in Frage stehenden Gemeindeversammlungen zu kassieren. Er muss nun in der Sache auf Grundlage des bundesgerichtlichen Urteils neu entscheiden. Dabei hat er insbesondere zu prüfen, ob sich für die Gemeindeversammlungen in Melchnau ein Zeitpunkt finden lässt, der nicht nur der Mehrheit, sondern auch der Minderheit im angegebenen Sinne entspricht, der also dem Ideal, dass alle Stimmberechtigten daran ohne wesentliche Beeinträchtigung teilnehmen können, näher kommt, als der bisher gewählte Samstag Nachmittag. Sollte der Regierungsrat finden, es gebe einen solchen Zeitpunkt, z.B. der Sonntag Nachmittag, so wird es vielleicht nicht notwendig sein, dass die beiden, nun schon sehr weit zurückliegenden Gemeindeversammlungen kassiert werden; sondern es dürfte wohl genügen, dass er der Gemeinde eine Weisung für die Zukunft gibt.
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
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