BGE 49 I 318 - Luzerner Stimmcouvert | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 11.02.2022, durch: Julian Marbach, A. Tschentscher | |||
42. Urteil vom 22. Juni 1923 i. S. Gut und Genossen gegen Luzern, Grosser Rat und Regierungsrat. | |
Regeste |
Vorschrift eines kantonalen Gesetzes über Wahlen und Abstimmungen, wonach jeder Stimmberechtigte vom Bureau ein Stimmcouvert erhält und die Stimmkarte in diesem in die Urne zu legen ist. Ordnungs- oder wesentliche Verfahrensvorschrift? Kriterien für die Entscheidung dieser Frage. Lösung im letzteren Sinne. Verwirkung des Rechts, das Abstimmungsergebnis wegen Nichtbeachtung der Vorschrift anzufechten, wenn der Rekurrent eine in Verordnungsform publizierte, ihm bekannte Anordnung des Regierungsrats, dass "bei der dermaligen Abstimmung keine Stimmcouverts verabfolgt werden", widerspruchslos hingenommen hat. | |
Sachverhalt | |
A. | |
Am 22. September 1922 erliess der Grosse Rat des Kantons Luzern ein neues Steuergesetz. Nachdem gegen dieses Gesetz das Referendum ergriffen und zustandegekommen war (KV Art. 39), ordnete der Regierungsrat durch Beschluss vom 6. Dezember, veröffentlicht im kantonalen Amtsblatt vom 8. Dezember, die Volksabstimmung auf den 28. Januar 1923 an, wobei er u.a., abweichend vom Gesetz über Wahlen und Abstimmungen vom 31. Dezember 1918, bestimmte, dass bei der "dermaligen" Abstimmung keine Stimmcouverts verabfolgt werden. § 47 des genannten Gesetzes schreibt in Art. 1 vor: "Am Bureau erhält jeder Stimmberechtigte ein verschliessbares Couvert, worauf der Gegenstand und der Tag der Verhandlung vorgemerkt sind, sowie eine Stimmkarte mit entsprechendem Aufdruck." Nach § 48 darf, wer Stimmkarte und Stimmcouvert bezogen hat, das Urnenlokal nicht verlassen, bis er dieselben eingelegt hat. Die Stimmkarte wird vom Stimmberechtigten in das Couvert gelegt: letzteres ist unter Kontrolle des Bureaus in die Urne zu legen (§ 49 Abs. 4). Stimmkarten, welche nicht im Stimmcouvert in die Urne gelegt werden, haben keine Gültigkeit (§ 49 Abs. 5). Mehrere verschieden lautende Stimmkarten in einem Couvert sind ungültig, mehrere gleichlautende zählen als eine Stimme (§ 54).
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Die Volksabstimmung vom 28. Januar 1923 ergab für das Steuergesetz 13,651 Ja und 13,688 Nein; 142 Stimmkarten waren leer und 51 ungültig. Einschliesslich der leeren und ungültigen Karten war das absolute Mehr 13,767. Durch Beschluss vom 2. Februar stellte der Regierungsrat fest, dass nicht die absolute Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Aktivbürger (KV Art. 40) sich für Verwerfung des Gesetzes ausgesprochen habe; dieses trete daher auf den in seinem Schlussparagraphen vorgesehenen Zeitpunkt, den 1. Januar 1924, in Kraft und sei in die amtliche Sammlung der Gesetze und Dekrete aufzunehmen.
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Mit Eingabe vom 8. Februar 1923 stellten Louis Gut in Sursee und 6 weitere stimmberechtigte Bürger des Kantons Luzern beim Grossen Rat das Gesuch: "Es sei die Volksabstimmung über das Steuergesetz vom 22. September 1922, die am 28. Januar 1923 abhin stattgefunden hat, infolge Nichtbeachtung gesetzlicher Vorschriften als ungültig zu erklären." In der Begründung stützten sie sich darauf, dass bei der fraglichen Abstimmung ein wesentliches gesetzliches Gültigkeitserfordernis, nämlich die Verwendung von Stimmcouverts nicht beobachtet worden sei. Der Regierungsrat beantragte in seinem Bericht vom 26. Februar, es sei dem Kassationsgesuch, bezw. der Beschwerde keine Folge zu geben. Der Grosse Rat beschloss in diesem Sinne am 7. März. Der Entscheid wurde den Rekurrenten am 24. März mit schriftlicher Begründung zugestellt, aus der hier folgendes hervorzuheben ist: Der Grosse Rat sei nicht kompetent, die Eingabe der Rekurrenten als Kassationsbegehren zu behandeln. Aus § 85 Abs. 1 Wahlgesetz, wonach bei Einsprüchen gegen die Wahl der Verfassungs- und Grossräte, sowie gegen die ordentliche Neuwahl der Regierungsräte, der Grosse Rat entscheidet, lasse sich diese Kompetenz nicht durch ausdehnende Auslegung ableiten, nachdem andererseits Abs. 2 desselben Paragraphen für die Wahlen der Ständeräte, die Ersatzwahlen in den Regierungsrat usw. den Regierungsrat als Rekursbehörde bezeichne und die §§ 38 und 39 WahlG ihm die Erledigung von Abstimmungsrekursen zuwiesen. Auch könne die Rekurskompetenz des Grossen Rates nicht auf das ihm in Art. 51 Abs. 2 KV eingeräumte Oberaufsichtsrecht über den Regierungsrat und das Obergericht gestützt werden. Abgesehen hievon seien auch keine gesetzlichen Kassationsgründe geltend gemacht. Es werde nicht behauptet, dass in den einzelnen Gemeinden oder bei Erwahrung des Abstimmungsresultates durch den Regierungsrat Unregelmässigkeiten vorgekommen seien und dass solche Unregelmässigkeiten das Abstimmungsresultat beeinflusst hätten, was festgestellt sein müsste, damit nach der bundesgerichtlichen Praxis Ungültigkeitsgründe angenommen werden könnten. Die Eingabe der Rekurrenten könne nur als Beschwerde im Sinne des kantonalen Verantwortlichkeitsgesetzes behandelt werden. Wiewohl die Rekurrenten in dieser Beziehung schon die regierungsrätliche Abstimmungsanordnung vom 6. Dezember 1922 hätten anfechten können und nicht erst die Abstimmungsverhandlung vom 28. Januar 1923 -- nur auf die erstere finde das Verantwortlichkeitsgesetz Anwendung -- so sei gleichwohl zu der aufgeworfenen Frage materiell Stellung zu nehmen. Ob der Grosse Rat der Beschwerde Folge zu geben habe, hänge auch hier davon ab, ob die Nichtabgabe von Couverts auf das Ergebnis der Verhandlung von Einfluss gewesen sei. Je mehr eine Vorschrift über das Wahl- und Abstimmungsverfahren geeignet sei, ein von unerlaubten Beeinflussungen oder störenden Vorkommnissen freies Ergebnis zu sichern, um so mehr werde sie als solche zwingender Natur aufzufassen sein. Die Bestimmung betreffend Abgabe von Couverts habe zweifellos grosse Bedeutung bei Wahlen, bei denen gedruckte Kandidatenlisten verwendet werden könnten; hier solle die Verwendung des Couverts verhindern, dass ein Wähler mehr als eine Liste einlege und hier habe daher das Stimmcouvert entscheidende Bedeutung, um Missbräuche auszuschliessen. Anders liege die Sache bei Abstimmungen, bei denen nur die amtliche Stimmkarte zulässig sei, welche der Teilnehmer vom Bureau mit dem Stimmcouvert erhalte. Es sei darum ausgeschlossen, dass ein Stimmender mit der Stimmkarte Missbrauch treiben könne. Somit komme dem Couvert bei Abstimmungen keine praktische Bedeutung zu und der Regierungsrat sei berechtigt gewesen, auf die Anwendung der bedeutungslosen Vorschrift zu verzichten. Es sei dies aus Sparsamkeitsgründen geschehen und zwar bei der Abstimmung über das Steuergesetz nicht zum ersten Mal, sondern bei allen Abstimmungen seit Herbst 1918. Irgendwelche Störungen seien deshalb nicht vorgekommen; auch die Rekurrenten könnten keine solchen anführen. Es sei auch auf § 39 WahlG zu verweisen, welche Vorschrift selbst eigentliche Rechtsverletzungen bei Wahl- und Abstimmungsverhandlungen nur dann als Voraussetzung der Kassation behandle, wenn sie das Ergebnis der Verhandlungen beeinflusst hätten, auf welchem Standpunkt auch die Praxis der Bundesbehörden stehe.
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B. | |
Am 29. März haben Louis Gut und Genossen den staatsrechtlichen Rekurs gegen den Entscheid des Grossen Rates ergriffen, indem sie den Antrag stellen:
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"Es sei in Gutheissung des Rekurses die Volksabstimmung vom 28. Januar 1923 als ungültig zu erklären und der Regierungsrat einzuladen, über das Steuergesetz vom 22. September 1922 eine neue Volksabstimmung anzuordnen und dabei die §§ 47 und 49 des Gesetzes über Wahlen und Abstimmungen vom 31. Dezember 1918 zu beobachten."
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Es wird ausgeführt: Der Standpunkt, dass die in der Nichtverwendung der Stimmcouverts bei der Abstimmung vom 28. Januar liegende Gesetzesverletzung belanglos sei und keinen Einfluss auf das Wahlresultat ausgeübt habe, sei willkürlich. Nach der bundesgerichtlichen Praxis (BGE 42 I 57; Salis III Nr. 1179) spiele die Frage eines solchen Einflusses eine Rolle nur bei Beeinträchtigung des individuellen Stimm- und Wahlrechts. Hier aber habe man es mit einer Verfahrensvorschrift zu tun, deren Beachtung grundsätzlich als wesentliche Voraussetzung für das Zustandekommen einer gültigen Wahl oder Abstimmung betrachtet werden müsse, wie sich schon aus dem Wortlaut des WahlG und insbesondere aus der Bestimmung in § 49 Abs. 5 ergebe. Ein Unterschied zwischen Wahlen und Abstimmungen dürfe dabei nicht gemacht werden, weil auch das Gesetz ihn nicht mache. Er wäre auch nach der ratio der Vorschrift nicht berechtigt. Die Verwendung von Couverts solle vor allem die Geheimheit der Stimmabgabe sichern. Dieser Schutz sei aber bei Abstimmungen ebenso wichtig wie bei Wahlen. Dass bei den letzteren, wo der Stimmende sich einer gedruckten Kandidatenliste bedienen könne, dem Couvert noch eine andere Funktion zukomme, sei demgegenüber unerheblich. Als heilbar könnte der Verstoss unter diesen Umständen nur angesehen werden, wenn die Möglichkeit der Beeinflussung des Abstimmungsergebnisses durch ihn schlechterdings ausgeschlossen wäre, was man hier, angesichts des Ausgangs der Abstimmung, doch gewiss nicht sagen könne. Dass auch schon bei früheren Abstimmungen aus Sparsamkeitsgründen Stimmcouverts nicht verabfolgt worden seien, spiele keine Rolle. In einem Bericht an den Grossen Rat vom Jahre 1922 über die Sanierung des Staatshaushalts empfehle der Regierungsrat als eine der Sparmassnahmen die Revision des Wahlgesetzes in dem Sinne, dass bei blossen Abstimmungen keine Couverts mehr verabfolgt würden. Auch er halte also hierfür eine Änderung des Gesetzes für notwendig. Und für die Abstimmung vom 15. April 1923 über das Armengesetz habe er die Verwendung von Stimmcouverts wiederum angeordnet. Es wird sodann noch darzutun versucht, dass der Grosse Rat seine Kompetenz als Rekursinstanz in willkürlicher Weise verneint habe.
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C. | |
Mit Ermächtigung des Grossen Rates hat dessen Bureau den Antrag gestellt, es sei auf den Rekurs nicht einzutreten, eventuell sei er als unbegründet abzuweisen. Die Anfechtung, so wird in der Begründung ausgeführt, richte sich materiell allein gegen die Abstimmungsanordnung des Regierungsrates vom 6. Dezember 1922. Der Regierungsrat sei in kantonalen Abstimmungssachen einzige kantonale Rekursinstanz (WahlG § 39). Diese Instanz hätten die Rekurrenten nicht angegangen. Gegen den genannten Beschluss des Regierungsrates habe den Rekurrenten auch die Beschwerde nach dem Verantwortlichkeitsgesetz offen gestanden. Dabei sei (§ 27) der Regierungsrat selber wiederum erste Beschwerdeinstanz, und der Grosse Rat könne erst angerufen werden, nachdem der Regierungsrat gesprochen habe. In dieser Beziehung seien somit die Rekurrenten unter Umgehung des Regierungsrates an den Grossen Rat gelangt. Daher sei der kantonale Instanzenzug nicht erschöpft worden; der Regierungsrat als allein zuständige kantonale Rekursinstanz und als erstinstanzliche Beschwerdeinstanz sei nicht begrüsst worden. Gegenüber dem materiell angefochtenen Beschluss des Regierungsrates vom 6. (8.) Dezember wäre der staatsrechtliche Rekurs auch verspätet. Die Anrufung einer unzuständigen Behörde habe die Frist nicht unterbrechen können. Nachdem der Grosse Rat sich als Rekursinstanz unzuständig erklärt habe, könnte zudem, falls diese Auffassung sich als anfechtbar erwiese, höchstens die Aufhebung seines Entscheides und die Rückweisung der Sache an ihn zur materiellen Erledigung in Betracht kommen. welcher Antrag im staatsrechtlichen Rekurse gar nicht gestellt werde. Die materiellen Ausführungen der Antwort decken sich im wesentlichen mit denjenigen des grossrätlichen Entscheides.
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Der Regierungsrat hat in seiner Vernehmlassung auf die Antwort für den Grossen Rat verwiesen und die dort gestellten Anträge aufgenommen.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
Erwägung 1 | |
1. Da die Rekursschrift am 29. März zur Post gegeben wurde, ist die sechzigtägige Rekursfrist des Art. 178 Ziff. 3 OG gegenüber dem Abstimmungsakte vom 28. Januar 1923, dessen Aufhebung beantragt wird, auch dann gewahrt, wenn man sie vom Abstimmungstage und nicht erst vom Entscheide des Grossen Rates über die Eingabe der Rekurrenten vom 8. Februar berechnet. Zu den Einwendungen, welche die Rekursantwort des Grossen Rates im übrigen gegen die formelle Zulässigkeit des Rekurses erhebt, braucht deshalb nicht Stellung genommen zu werden, weil dieser auf alle Fälle aus einem anderen Grunde verworfen werden muss.
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Erwägung 2 | |
2. Zwar glauben der grossrätliche Beschluss und die Rekursantwort zu Unrecht aus der angeblichen praktischen Bedeutungslosigkeit der in Betracht kommenden Vorschrift des Wahlgesetzes für Abstimmungen herleiten zu können, dass der Regierungsrat berechtigt gewesen sei, auf deren Durchführung zu verzichten. Die Verwendung von Stimmcouverts wird in Art. 47 ff. des Wahlgesetzes unbestrittenermassen allgemein, sowohl für Wahlen als für Abstimmungen vorgeschrieben, ohne dass Ausnahmen vorgesehen oder die Behörden ermächtigt würden in einzelnen Fällen davon abzusehen. Ob die Bestimmung eine blosse Ordnungsvorschrift oder aber eine wesentliche Verfahrensvorschrift sei, spielt in diesem Zusammenhange keine Rolle. Auch als blosse Ordnungsvorschrift ist sie für die vollziehenden Behörden als Befehl einer übergeordneten, der gesetzgebenden Gewalt schlechthin verbindlich und von ihnen ohne Rücksicht auf die materielle Berechtigung und Zweckmässigkeit der damit getroffenen Anordnung zu beachten. Die Überzeugung, die Vorschrift habe bei Abstimmungen keinen Wert, mag zu einer Revision des Gesetzes führen (die der Regierungsrat denn bereits auch angeregt hat), kann aber die Behörden, solange die Vorschrift besteht, nicht von ihrer Beobachtung entbinden.
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War somit das Verfahren bei der Abstimmung vom 28. Januar 1923 insofern offenbar gesetzwidrig, so folgt daraus freilich noch nicht ohne weiteres die Ungültigkeit der Abstimmung selbst. Nicht jeder Verstoss gegen das gesetzliche Verfahren macht den aus diesem Verfahren hervorgegangenen staatlichen Akt rechtsunwirksam. Hier wird vielmehr zu unterscheiden sein, ob man es mit einer blossen Ordnungsvorschrift zu tun hat oder aber mit einer wesentlichen Verfahrensvorschrift, die eine Voraussetzung für das Zustandekommen des Aktes selbst bilden soll, und insofern wird daher diese Frage auch im vorliegenden Falle von Bedeutung. Massgebend muss dabei in erster Linie das kantonale Recht, die Tragweite sein, welche es der Bestimmung beimisst, wobei wenn eine ausdrückliche gesetzliche Anordnung hierüber fehlt, auf die ratio der Bestimmung, den mit ihr verfolgten Zweck zurückzugehen sein wird. Die Vorschrift, wonach dem Stimmberechtigten neben der Stimmkarte ein Stimmcouvert zu verabfolgen, die Karte von ihm in das Couvert und letzteres in die Urne zu legen ist, kann verschiedenen Zwecken dienen. Sie richtet sich zunächst gegen den Wahlbetrug, indem sie verhindern will, dass jemand mehr als eine Stimmkarte einlege. Insofern ist sie in der Tat bei Abstimmungen weniger wichtig als bei Wahlen. Da bei jenen nur die eine, amtliche Stimmkarte verwendet werden darf, die der Stimmberechtigte vom Bureau erhält, und der Empfänger einer solchen das Stimmlokal erst verlassen darf, nachdem er die Karte eingelegt hat (§ 48), ist die Möglichkeit mehrfacher Stimmabgabe hier in der Tat sehr gering: die Stimmberechtigten müssten sich die anderen Karten schon zuvor in rechtswidriger Weise verschaffen und wer dies tut, kann sich gerade so gut auch in den Besitz mehrerer Couverts setzen und diese einlegen. Hieraus allein zu schliessen, dass der Bestimmung bei Abstimmungen lediglich die Bedeutung einer Ordnungsvorschrift zukomme, geht indessen nicht an. Denn einmal ist ihr Zweck offenbar nicht nur der eben erörterte, vielmehr darf angenommen werden, dass sie daneben, wenn nicht vielleicht sogar in erster Linie auch dem Schutze des Wahl- und Abstimmungsgeheimnisses dienen, dem Stimmberechtigten eine Gewähr dafür, dass die Art, wie er von seinem Stimmrecht Gebrauch gemacht hat, unbekannt bleibe, bieten und damit der Gefahr von Willensbeeinflussungen entgegentreten soll, wie denn schon der Bundesrat die Vorschrift des früheren luzernischen Wahlgesetzes, wonach die Couverts verschlossen in die Urne gelegt werden mussten, so aufgefasst und deshalb als wesentliche Verfahrensvorschrift erklärt hat (Salis, 2. AufI. III Nr. 1179). Es spricht dafür, dass das Gesetz auch sonst auf die Verwirklichung jenes Postulates Gewicht legt, indem es in § 50 für jedes Abstimmungslokal "geeignete Vorrichtungen" verlangt durch die dafür "gesorgt" wird, "dass der Stimmende das Beschreiben der Stimmkarte ganz unkontrolliert vornehmen kann". Die Verwendung von Couverts würde dann als weitere Garantie hinzutreten, um zu verhüten, dass die Stimmabgabe beim Einlegen der offenen Karte den Mitgliedern des Bureaus irgendwie bekannt wird. Von diesem Gesichtspunkte aus ist aber die Bedeutung der Vorschrift bei Abstimmungen kaum geringer als bei Wahlen. Sodann kann auch eine Betrachtung, wie die im grossrätlichen Beschluss angestellte offenbar nicht dazu führen, den Verstoss als materiell unerheblich zu behandeln, wenn der Gesetzgeber selbst die Frage nach den Wirkungen desselben positiv in einem anderen, die Auffassung der Bestimmung als blosse Ordnungsvorschrift ausschliessenden Sinne geregelt hat. Dies trifft aber eben hier zu, indem § 49 letzter Absatz des Wahlgesetzes ausdrücklich bestimmt, dass "Stimmkarten, welche nicht im Stimmcouvert in die Urne gelegt werden, keine Gültigkeit haben" und damit der Einlegung der Karte ohne Couvert die Bedeutung einer rechtswirksamen Stimmabgabe abspricht. Da die vorangehenden Vorschriften, welche die Verwendung eines Stimmcouverts neben der Stimmkarte und die Einlegung der letzteren im Couvert fordern, sich unbestrittenermassen nach der Fassung des Gesetzes auf alle Abstimmungsakte, Wahlen wie Abstimmungen im engeren Sinne beziehen, wie sie denn auch in dem vom "Verfahren bei Wahlen und Abstimmungen" handelnden IV. Abschnitte des Gesetzes stehen, muss auch die Sanktion des § 49 Abs. 5 mangels einer Einschränkung im Gesetze selbst notwendigerweise auf beide bezogen werden. Der darin unzweideutig zum Ausdruck kommende Wille aber, für beide Operationen nicht nur hinsichtlich des Verfahrens selbst, sondern auch hinsichtlich der Wirkungen seiner Nichtbeachtung in dieser Beziehung einheitliche Vorschriften aufzustellen, muss auch dann massgebend sein, wenn man die Sanktion in ihrer Anwendung auf die Abstimmungen im engeren Sinne als zu rigoros und weitgehend ansehen wollte, was übrigens, sobald man der Verwendung der Stimmcouverts ausser der vom Grossen Rat vorausgesetzten noch die andere oben erörterte Funktion zuschreibt, keineswegs ohne weiteres gesagt werden kann. Aus diesem weiteren Zweckgedanken der Vorschrift und dem nahen Zusammengehen der Stimmen bei der vorliegenden Abstimmung (das Gesetz konnte nur so als nicht verworfen erklärt werden, dass zur Berechnung des "absoluten Mehrs" die ungültigen und leeren Stimmkarten den Ja und Nein hinzugezählt wurden) folgt auch, dass die Beschwerde nicht etwa deshalb abgewiesen werden kann, weil eine Beeinflussung des Abstimmungsergebnisses durch den gerügten Verfahrensmangel nach den Umständen schlechterdings als ausgeschlossen erscheine (nur unter dieser Voraussetzung und nicht schon wegen mangelnden Beweises für einen solchen Einfluss hat die bundesrechtliche Praxis bisher die Anfechtung des Abstimmungsergebnisses wegen Verfahrensmängel als unzulässig erklärt).
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Läge daher die Sache so, dass bei der Abstimmung vom 28. Januar 1923 einfach Stimmcouverts von den Wahlbureaux mangels Zurverfügungsstellung durch das Justizdepartement (§ 65 des Wahlgesetzes) nicht ausgeteilt worden waren, so müsste der staatsrechtliche Rekurs, beim Vorliegen der formellen Voraussetzungen für die Ergreifung des Rechtsmittels, gutgeheissen werden. Der vorliegende Fall bietet nun aber die Besonderheit, dass die Abweichung vom vorgeschriebenen Abstimmungsverfahren vom Regierungsrat in der Abstimmungsordnung, d.h. bei Anlass der Vollziehungsmassnahmen, die er für jede Abstimmung zu treffen hat, von vorneherein ausdrücklich angekündigt und für den ganzen Kanton angeordnet und mit dem übrigen Inhalt jenes Beschlusses im kantonalen Amtsblatt am 8. Dezember 1922, 7 Wochen vor dem Abstimmungstage, bekannt gemacht worden ist. Wenn auch eine solche Anordnung nach dem Gesagten unzulässig und materiell gesetzwidrig war, so würde es doch zu weitgehen, ihr deshalb jede Rechtswirkung abzusprechen, auch da, wo sich die verfügte Abweichung vom gesetzlichen Verfahren, wie hier, nicht auf Formalitäten bezieht, die als unerlässliche Voraussetzungen betrachtet werden müssen, um der Abstimmung überhaupt die Bedeutung einer Feststellung des Volkswillens beimessen zu können, sondern bloss auf eine Vorschrift, die obschon sie dazu beitragen mag, diesen Willen noch sicherer hervortreten zu lassen, doch nicht als schlechtweg notwendige Garantie dafür betrachtet werden kann (wie schon die Umgangnahme davon in zahlreichen anderen Kantonen beweist). Vom Bürger, der von einer solchen Weisung erfährt -- und die Rekurrenten behaupten nicht, dass sie um die fragliche Bekanntmachung nicht gewusst hätten, weshalb ununtersucht bleiben kann, ob nicht auch in diesem Falle die durch die amtliche Veröffentlichung gebotene Möglichkeit der Kenntnisnahme die wirkliche Kenntnis ersetzen müsste -- muss vielmehr verlangt werden, dass er im Falle seines Nichteinverständnisses mit der betreffenden Anordnung zum mindesten bei der Behörde, von der sie ausgeht, dagegen Einsprache erhebt und ihr so Gelegenheit gibt, darauf zurückzukommen. Unterlässt er dies, so gibt er damit zu erkennen, dass er auf die Beachtung der betreffenden Formvorschriften selbst kein Gewicht legt, ihnen keine Bedeutung zumisst und kann es ihm, nachdem er so in der Behörde die Überzeugung allgemeinen Einverständnisses mit ihrem Vorgehen hervorgerufen hat, nicht mehr zustehen, hinterher die Abstimmung wegen Formmangels anzufechten, weil ihm deren Ergebnis nicht passt. Es handelt sich dabei nicht sowohl um den Verzicht auf einen öffentlichrechtlichen Anspruch als um eine prozessuale Bedingung für die Geltendmachung desselben, deren Nichterfüllung die Verwirkung des Anspruchs im einzelnen Falle nach sich zieht. Gleich wie die Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften nicht die absolute Nichtigkeit der betreffenden kantonalen Verfügung zur Folge hat, sondern diese vom Standpunkte des Bundesrechts aus unanfechtbar wird, wenn sie nicht innert der Frist des Art. 178 OG durch staatsrechtlichen Rekurs angefochten wird, so kann eine solche Verwirkung des Anfechtungsrechtes aber auch schon aus vorhergehenden Unterlassungen folgen, falls ein Handeln zur Geltendmachung des Rechtes vom Berechtigten zu erwarten war und nach der Natur der Sache gefordert werden muss. Im übrigen ist in der Verwaltungsrechtswissenschaft anerkannt, dass wenn ein allgemeiner Verzicht des Bürgers auf ein öffentliches Recht, die Beobachtung einer öffentlich-rechtlichen Vorschrift ihm gegenüber nicht möglich ist, der Berechtigte doch die Möglichkeit hat, von der Ausübung dieses Rechts im einzelnen Falle abzusehen und dadurch auf den einzelnen aktuellen Anspruch zu verzichten (s. das Urteil in Sachen Elektrizitätswerk Lonza gegen Kanton Wallis vom 10. März 1923 [BGE 49, 160] insbes. Erw. 3 mit Zitaten).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
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