BGE 64 I 1 - Unentgeltliche Rechtspflege | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Jana Schmid, A. Tschentscher | |||
1. Urteil |
vom 21. Januar 1938 i.S. B gegen St. Gallen. | |
Regeste: |
Art. 4 BV gewährleistet einer armen Partei in einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess das Armenrecht für die Gerichtskosten unmittelbar nur in dem Sinn, dass der Richter für sie ohne Kostenvorschuss tätig werden muss. Die Garantie der Rechtsgleichheit gibt unmittelbar keinen Anspruch auf Befreiung von Prozesskostenauflagen überhaupt. Ein solcher Anspruch kann dagegen auf Grund des kantonalen Rechtes bestehen. Willkürliche Ablehnung eines derartigen Anspruches (Erw. 1). |
Eine arme Partei kann in einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess einen unentgeltlichen Rechtsbeistand unmittelbar aus Art. 4 BV nur dann beanspruchen, wenn sie eines solchen zur gehörigen Wahrung ihrer Rechte bedarf. Auch das st. gallische Recht kann in diesem Sinne ausgelegt werden. Verweigerung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes für einen Ehescheidungsprozess (Erw. 2). | |
Sachverhalt: | |
(Tatbestand gekürzt)
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A. | |
Der Rekurrent B. ist verheiratet und wohnt in Vevey. Im März 1937 verliess ihn seine Frau und begab sich nach St. Gallen zu ihren Eltern. Hier erhob sie eine Ehescheidungsklage, die zurzeit beim Bezirksgericht von St. Gallen hängig ist. Das Justizdepartement von St. Gallen gewährte ihr dafür das Armenrecht, jedoch ohne unentgeltlichen Rechtsbeistand. Auch der Rekurrent ersuchte das Justizdepartement um das Armenrecht; diese Behörde schrieb aber seinem Anwalt am 29. Oktober 1937, dass sie es ihm aus folgenden Gründen nicht gewähren könne:
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"Der Verbeiständung bedarf der Beklagte nicht, da der Prozess im Instruktionsverfahren durchgeführt wird und der Beklagte sich darauf beschränken kann, die Einrede der Unzuständigkeit des Bezirksgerichts St. Gallen geltend zu machen. Diese Einrede ist übrigens durch Sie bereits erhoben worden. Die Eltern des Beklagten [...] sind [...] in der Lage, dem Sohne die nötigen Mittel zur Prozessführung zur Verfügung zu stellen."
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Eine Beschwerde wegen willkürlicher Ablehnung des Armenrechtsgesuches wies der Regierungsrat des Kantons St. Gallen am 3. Dezember 1937 ab. Aus der Begründung dieses Entscheides ist folgendes hervorzuheben:
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"Kostenvorschuss hat der Beklagte nicht zu leisten. [...] Sodann ist aber auch die Bedürftigkeit des Beklagten nicht genügend ausgewiesen. [...] Für seine Frau und für sein Kind leistete er seit deren Wegzug (1. März 1937) nichts mehr [...]"
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B. | |
Gegen die Entscheide des Justizdepartementes und des Regierungsrates hat Advokat Dr. A. namens des B. die staatsrechtliche Beschwerde ergriffen mit dem Antrag:
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"Es sei unter Aufhebung des [...] regierungsrätlichen Rekursentscheides und [...] der ablehnenden Entscheidung des st. gallischen Justizdepartementes dem Rekurrenten [...] die unentgeltliche Rechtspflege unter Einschluss der unentgeltlichen Anwaltsvertretung bezw. Verbeiständung durch den Unterzeichneten zu gewähren und in diesem Sinne dem st. gallischen Regierungsrate und Justizdepartemente entsprechende Anweisung zu geben".
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Der Vertreter des Rekurrenten führt aus: [...] Nach der st. gallischen ZPO, Art. 101, sei einem armen Kläger oder Beklagten die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen, wenn die Klage oder die Einreden des Gesuchstellers nicht zum voraus als unbegründet erscheinen. Das Justizdepartement und der Regierungsrat sagten aber nicht, dass die Unzuständigkeitseinrede des Rekurrenten derart unbegründet sei, sondern bezeichneten deren Erfolg nur als sehr zweifelhaft. Die Abweisung des Armenrechtsgesuches bilde daher eine Verletzung des Art. 4 BV und Willkür. Sodann liege eine solche Verfassungsverletzung darin, dass der Regierungsrat nicht auf das Armutszeugnis des Gemeindevorstandes des Wohnortes abstelle und dass das Armenrecht wegen mangelnden Bedürfnisses verweigert werde. Der Rekurrent habe nicht die Mittel, um in St. Gallen zur Verhandlung erscheinen zu können, so dass er auch aus diesem Grunde einen Rechtsbeistand haben müsse. Die st. gallische Zivilprozessordnung mache die Erteilung des Armenrechts nicht davon abhängig, ob ein besonderes Bedürfnis nach unentgeltlicher Rechtspflege und Vertretung vorhanden sei.
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Mit einer nachträglichen Eingabe hat der Vertreter des Rekurrenten noch ein Schreiben des Präsidenten der 2. Abteilung des Bezirksgerichts von St. Gallen vom 17. Dezember 1937 vorgelegt, wonach der Rekurrent persönlich vor Gericht erscheinen muss, und geltend gemacht, dass er das nicht tun könne, wenn ihm nicht das Armenrecht gewährt werde.
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C. | |
Der Regierungsrat hat die Abweisung der Beschwerde beantragt und u.a. bemerkt:
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"Gemäss Art. 99 ff. unseres Gesetzes über die Zivilrechtspflege ist die Gewährung des Armenrechts an zwei Voraussetzungen geknüpft, einmal an den Nachweis der Bedürftigkeit und sodann an die Glaubhaftmachung, dass wenn der Petent die beklagte Partei ist, die Einreden des Gesuchstellers nicht zum voraus als unbegründet erscheinen. Diese beiden Voraussetzungen lagen hier nicht vor."
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Erwägungen: | |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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Erwägung 1 | |
1. Art. 4 BV gewährleistet einer armen Partei in einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess das Armenrecht für die Gerichtskosten unmittelbar nur in dem Sinne, dass der Richter für sie ohne Kostenvorschuss tätig werden muss. Dagegen gibt die Garantie der Rechtsgleichheit unmittelbar keinen Anspruch auf Befreiung von Prozesskostenauflagen überhaupt (Entscheide des Bundesgerichtes i. S. Masserey gegen Bonvin vom 15. Dezember 1934 Erw. 2, i.S. Kuhn gegen St. Gallen vom 4. April 1935 Erw. 1). Nach der unbestrittenen Feststellung des Regierungsrates muss nun der Rekurrent im Verfahren vor dem Bezirksgericht keinen Kostenvorschuss leisten. Die Verweigerung des Armenrechts für die Gerichtskosten verletzt daher, wenigstens zur Zeit, den unmittelbar aus Art. 4 BV, der Garantie des staatlichen Rechtsschutzes, fliessenden Anspruch auf Gewährung des Armenrechts nicht.
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Dagegen gewährt die st. gallische Zivilprozessordnung der armen Partei nach Art. 104 das Armenrecht für die Gerichtskosten in einem weitern Sinn, indem jene danach, abgesehen vom Fall, dass sie später zu Vermögen kommen sollte, überhaupt von allen amtlichen Kosten, von den Zeugen- und Expertengebühren befreit wird. Es ist daher zu prüfen, ob das Justizdepartement und der Regierungsrat dem Rekurrenten willkürlich dieses Armenrecht verweigert haben.
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Das Justizdepartement, das nach der Feststellung des Regierungsrates endgültig über die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege zu entscheiden hat, hat sich bei seinem Entscheid gar nicht auf den Standpunkt gestellt, dass der Rekurrent imstande sei, aus seinen Mitteln neben dem notwendigen Lebensunterhalt die Prozesskosten zu bestreiten. Erst der Regierungsrat hat erklärt, die Bedürftigkeit des Rekurrenten sei nicht genügend nachgewiesen. Doch ist diese Feststellung willkürlich. Selbst wenn der Rekurrent nicht nur 120 bis 150 Fr. monatlich, wie der Gemeindevorstand von Vevey bezeugt hat, sondern 6-8 Fr. täglich verdiente, wie ein Polizeibeamter berichtet hat, so genügte das doch ganz offensichtlich nicht zur Bezahlung eines grössern Prozesskostenbetrages neben der Bestreitung des notwendigen Lebensunterhaltes, zumal wenn der Rekurrent trotz des Wegzuges der Ehefrau für diese und das Kind sorgen muss. Der Regierungsrat nimmt aber nicht an, dass diese Voraussetzung nicht zutreffe. Darauf, ob der Rekurrent tatsächlich für Frau und Kind nichts mehr leistet, kann nichts ankommen [...] Sodann ist es ganz offensichtlich ohne Bedeutung, ob die Eltern des Rekurrenten zur Bezahlung der Prozesskosten imstande sind; denn sie können hiezu nicht verpflichtet werden (Entscheid des Bundesgerichtes i.S. Kuhn gegen St. Gallen vom 4. April 1935).
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Dass die Einrede der Unzuständigkeit der St. Galler Gerichte zum voraus als unbegründet erscheine, nehmen das Justizdepartement und der Regierungsrat selbst nicht an. Dieser hat seinem Entscheid nur gesagt, dass es sehr zweifelhaft sei, ob die Einrede geschützt werde, und in der Vernehmlassung noch hinzugefügt, dass er die Einrede für unbegründet halte. Dabei stützt er sich zudem auf die Angaben der Ehefrau, die vom Rekurrenten bestritten werden und nicht bewiesen worden sind.
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Unter diesen Umständen erscheint die Verweigerung des Armenrechts für die Gerichtskosten als willkürliche Verletzung des kantonalen Prozessrechts.
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Erwägung 2 | |
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Wie das Justizdepartement und der Regierungsrat hervorgehoben haben, gelten nach Art. 19 und 60 des st. gallischen EG z. ZGB für den Ehescheidungsprozess die Regeln des Untersuchungs- oder Instruktionsverfahrens, wobei der Tatbestand den Art. 158 ZGB und 20 EG z. ZGB gemäss von Amtes wegen zu erforschen ist. Der Rekurrent bedarf daher zur gehörigen Feststellung des Tatbestandes in diesem Verfahren, wo die Parteien nicht durch strenge Formvorschriften eingeengt sind, keines Rechtsbeistandes. Aber auch für die Behandlung der Rechtsfrage, ob die Ehefrau nach den festgestellten Tatsachen berechtigt war, getrennt zu leben, hat er keinen Rechtsbeistand nötig, da das Gericht auch diese Frage von Amtes wegen lösen muss und sie ziemlich leicht zu lösen ist. Anders wäre es, wenn der Rekurrent zu den Verhandlungen nicht persönlich erscheinen könnte. Dem ist aber nicht so. Die Mittel für die Reise nach St. Gallen kann er jedenfalls aufbringen. Wenn sie ihm aber auch fehlen sollten, so wäre das kein Grund für die Gewährung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes, sondern berechtigte ihn nur, zu verlangen, dass ihm die Reise ermöglicht werde (bei der öffentlichen Armenpflege oder beim Bezirksgericht, wobei das Reglement betr. den Transport inländischer Armen auf den schweizerischen Transportanstalten vom 14. Juli 1899 oder dasjenige betr. Polizeitransporte vom 21. Juni 1909 anwendbar wäre).
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Nach dem Wortlaut des Art. 101 der st. gallischen ZPO ist freilich ein unentgeltlicher Rechtsbeistand stets zu bewilligen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung des Armenrechts vorliegen. Für einen im Untersuchungsverfahren durchzuführenden Zivilprozess, wie den Ehescheidungsprozess, wird aber im allgemeinen nach den glaubwürdigen Angaben des Regierungsrates ein unentgeltlicher Rechtsbeistand nicht gewährt. Darin liegt keine offensichtliche Verletzung des Art. 101 ZPO; denn die Art. 19 und 60 EG z. ZGB wurden erst am 16. Mai 1911, nach der Zivilprozessordnung vom 31. Mai 1900, erlassen und rechtfertigen daher den Schluss, dass für das von ihnen vorgeschriebene Verfahren vom Grundsatz der Gewährung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes in Art. 101 im allgemeinen eine Ausnahme zu machen sei. Dass im vorliegenden Fall eine solche Ausnahme ganz offensichtlich nicht am Platze sei, hat der Rekurrent nicht dargetan.
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Dispositiv | |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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