BGE 68 I 129 - Niederlassungsfreiheit und Wohnungsnot | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: Jana Schmid, A. Tschentscher | |||
20. Urteil |
vom 5. Oktober 1942 i.S. Weber gegen Zürich. | |
Regeste: |
Beschwerde wegen Verletzung der Niederlassungsfreiheit über eine Niederlassungsverweigerung oder -entziehung, die sich auf Art. 19 und 20 des Bundesratsbeschlusses betr. Massnahmen gegen die Wohnungsnot vom 15. Oktober 1941 stützt. |
Zulässigkeit der Beschwerde; Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichtes. |
Die Niederlassung darf nicht aus anderen Gründen als solchen der Wohnungsnot verweigert werden. Unzulässigkeit ungleicher Behandlung. Zulässigkeit eines Entzuges der Niederlassung? |
Die Garantie der Niederlassungsfreiheit gilt auch im Heimatkanton. | |
Sachverhalt: | |
A. | |
Durch eine Verordnung vom 8. Januar 1942 hat der Regierungsrat des Kantons Zürich bestimmt, dass die Vorschriften des Bundesratsbeschlusses betr. Massnahmen gegen die Wohnungsnot vom 15. Oktober 1941 in den zürcherischen Gemeinden anwendbar seien, soweit er es besonders beschliesst. So sind die Bestimmungen über die Beschränkung der Freizügigkeit (Art. 19-21 des Bundesratsbeschlusses, §§ 46-48 der kantonalen Verordnung) durch Regierungsratsbeschluss vom 12. Februar 1942 für die Gemeinde Langnau a. A. als anwendbar erklärt worden.
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Der Rekurrent, der Bürger von Grüningen, Kanton Zürich ist, ist Schneider und betätigt sich seit Jahren als Heimarbeiter für die Firma Herm. Müssig in Zürich. Auf den 1. April 1942 mietete und bezog er eine Wohnung in Langnau. Am 20. Mai wurde seinem Zuzugs- und Niederlassungsgesuch vom 4. April vom Gemienderat entsprochen. Am 4. Juni beschloss dagegen der Gemeinderat, diese Bewillligung gestützt auf den erwähnten Bundesratsbeschluss zu verweigern, indem er verfügte: "Die unter falschen Angaben erwirkte Aufenthaltsbewilligung vom 20. Mai wird aufgehoben". Den hiegegen ergriffenen Rekurs wies der Regierungsrat Zürich am 9. Juli mit folgender Begründung ab: "Gemäss Art. 19 ff. des Bundesratsbeschlusses vom 15. Oktober 1941 betreffend Massnahmen gegen die Wohnungsnot darf Personen, welche in der Gemeinde nicht ihren Lebensunterhalt fristen müssen, die Niederlassung oder der Aufenthalt verweigert werden. Diese Voraussetzung ist vorhanden. Der Rekurrent ist als Heimarbeiter für Hermann Müssig, Knabenkleiderfabrik, in Zürich 4, tätig. Da er seinen Verdienst nicht in Langnau a.A. hat und auch kein anderer Grund für die Erteilung der Niederlassung vorliegt, ist ihm diese zu verweigern [...]".
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Der Rekurrent wurde am 18. Februar 1941 geschieden, wobei die aus der Ehe hervorgegangenen 8 Kinder der elterlichen Gewalt der Parteien entzogen wurden. Der Rekurrent hat sich seither wieder verheiratet und zwar mit seiner ersten Frau. Die 8 Kinder 2. Ehe leben nicht mit ihm, und ihre Rückkehr zum Vater scheint, wie der Regierungsrat in der Antwort sagt, ausgeschlossen zu sein.
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B. | |
Weber hat sich über den Entscheid des Regierungsrates beim Bundesrat wegen willkürlicher Entziehung oder Verweigerung der Niederlassung beschwert. Das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement hat die Beschwerde dem Bundesgericht überwiesen.
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Der Rekurrent führt aus: Es bestehe kein Wohnungsmangel in Langnau. Durch Zeitungsinserate würden stets Wohnungen offeriert. Der Rekurrent habe keine unwahren Angaben gemacht, wenn er der Gemeindebehörde gegenüber gesagt habe, er habe keine Kinder, da ihm ja die elterliche Gewalt über die 8 Kinder entzogen sei. Von der Gemeindebehörde sei ihm gesagt worden, man könne ihn nicht brauchen, da die Gemeinde sich keine neuen Armenlasten auferlegen könne. Der Rekurrent verdiene Fr. 250.- im Monat. Damit komme er aus, wenn er nicht zu viel für die Wohnung ausgeben müsse. Das sei der Grund, weshalb er in einer Landgemeinde wohnen müsse, wo die Wohnungen billiger seien als in der Stadt Zürich. Als Heimarbeiter sei er nicht darauf angewiesen, in Zürich zu wohnen.
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Der Rekurrent erwähnt dann 4 Fälle, in denen Personen mit Arbeitsstelle in Zürich in Langnau zugelassen wurden, 3 auf den 1. April und die 4. auf den 1. Juli 1942.
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C. | |
[...]
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D. | |
Der Regierungsrat hat die Abweisung der Beschwerde beantragt.
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Erwägungen: | |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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Erwägung 1 | |
1. Der Bundesratsbeschluss vom 15. Oktober 1941 sieht in Art. 19 eine Beschränkung der Freizügigkeit vor, die darin besteht, dass Personen, deren Zuzug in eine Gemeinde nicht hinreichend begründet erscheint, die Niederlassung oder der Aufenthalt in der Gemeinde verweigert werden kann. Diese Beschränkung befindet sich in Widerspruch zum Recht, das nach Art. 45 BV jeder Schweizer hat, sich innerhalb des schweizerischen Gebietes an jedem Orte niederzulassen, welches verfassungsmässige Recht auch Kantonsbürgern innerhalb des Kantons zusteht (BGE 60 I S. 85).
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Gegen einen Entscheid im Sinne von Art. 19 des Bundesratsbeschlusses gibt es nach Art. 3 keine Weiterziehung an eine Bundesbehörde. Das bezieht sich aber nicht auf den staatsrechtlichen Rekurs ans Bundesgericht wegen Verfassungsverletzung, wie das Bundesgericht schon häufig festgestellt hat angesichts von Bestimmungen in Bundesratsbeschlüssen, welche die Beschwerde an eine Bundesbehörde als ausgeschlossen erklären.
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Der Rekurrent beschwert sich wegen Willkür. Der Sache nach handelt es sich auch und zwar in erster Linie um eine Beschwerde wegen Verletzung der Niederlassungsfreiheit. Soweit nicht die Beschränkung nach dem Bundesratsbeschluss Art. 19 zutrifft, besteht die Niederlassungsfreiheit im Rahmen des Art. 45 BV. Daraus ergibt sich eine freiere Stellung des wegen Verletzung von Art. 45 angerufenen Bundesgerichts in der Nachprüfung eines solchen Entscheides als nur auf die Frage hin, ob er willkürlich sei.
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Erwägung 2 | |
2. Nach Art. 20 des Bundesratsbeschlusses beurteilt die Behörde die Notwendigkeit der Anwesenheit der Person in der Gemeinde nach freiem Ermessen. Es kann nicht Sache des Bundesgerichts sein, an die Frage mit seinem eigenen Ermessen heranzutreten, aber es hat zu untersuchen, ob die Behörde im Bereiche ihres Ermessens verblieben ist; es hat gegen Ermessensüberschreitungen einzuschreiten (Entscheid des Bundesgerichtes i.S. Klauenbösch g. Rüttenen vom 18. September 1942). Dabei darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass man es beim Bundesratsbeschluss mit einer Massnahme zur Bekämpfung der Wohnungsnot zu tun hat. Art. 19 sagt zwar ganz allgemein, dass Personen, deren Zuzug in einer Gemeinde nicht hinreichend begründet erscheint, Niederlassung oder Aufenthalt verweigert werden kann. Aber aus Zusammenhang und Zweck der Bestimmung ergibt sich, dass diese Verweigerung nur zulässig sein soll, wenn Erwägungen der Wohnungsnot ihr zur Seite stehen. Das behördliche Ermessen ist überschritten, wenn das entscheidende Motiv einem andern Gebiet angehört, die Nichtzulassung erfolgt, weil die Person aus irgend einem sonstigen Grund unerwünscht ist.
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Allgemein und im Zweifel muss freilich davon ausgegangen werden, dass in einer Gemeinde, auf die der Bundesratsbeschluss anwendbar ist, die Berufung der Behörde auf Art. 19 im Hinblick auf die Lage des Wohnungsmarktes stattfindet; es kann sich aber aus den Akten ergeben, dass es sich dabei in Wahrheit nur um einen Vorwand handelt, um eine unliebsame Person von der Gemeinde fernzuhalten, der nach Art. 45 BV die Niederlassung bewilligt werden müsste. Art. 19 des Bundesratsbeschlusses darf nicht in einer Weise gehandhabt werden, welche die Niederlassungsfreiheit mehr einengt, als es Grund und Ziel des Bundesratsbeschlusses mit sich bringen.
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Bei der Würdigung des vorliegenden Falles kommt in tatsächlicher Hinsicht in Betracht, dass gewisse Angaben des Rekurrenten unbestritten geblieben und daher als zugegeben anzusehen sind.
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Der Rekurrent ist am 1. oder 2. April in Langnau zugezogen und hat am 4. April beim Gemeinderat ein Zuzugs- und Niederlassungsgesuch gestellt, dem am 20. Mai vorbehaltlos entsprochen worden ist, also nicht nur vorläufig bis zu einem endgültigen Entscheid, wie der Regierungsrat in der Antwort sagt. Damals standen somit der Zulassung des Rekurrenten keine Gründe im Sinne von Art. 19 des Bundesratsbeschlusses entgegen. Die Bewilligung wurde dann am 4. Juni widerrufen als unter falschen Angaben erwirkt. Diese falschen Angaben bezogen sich auf die Kinder. Der Rekurrent hatte gesagt, er habe keine Kinder, während er 8 Kinder hat, die aber seiner elterlichen Gewalt entzogen sind und nicht bei ihm wohnen, und deren Rückkehr zum Vater, wie der Regierungsrat feststellt und auch der Gemeinderat hätte feststellen können, ausgeschlossen zu sein scheint, sodass eine Beanspruchung von mehr Wohnraum wegen der Kinder nicht zu befürchten ist. Nach der Darstellung des Rekurrenten im staatsrechtlichen Rekurs und schon in der Beschwerde an den Regierungsrat wurde ihm vom Gemeindepräsidenten gesagt, die Gemeinde könne sich keine neuen ArmenIasten aufbürden. Diese Behauptung blieb wiederum unwidersprochen. Die Äusserung des Gemeindepräsidenten deutet darauf hin, dass für die Rücknahme der Niederlassungsbewilligung nicht Gründe der Wohnungsnot bestimmend waren, sondern armenrechtliche Erwägungen. Im gleichen Sinne spricht denn auch sehr entschieden der Umstand, das unbestrittenermassen um die gleiche Zeit und zum Teil nachher 4 Personen mit Arbeitsstellen in Zürich der Zuzug nach Langnau gestattet wurde, obgleich eine Notwendigkeit ihrer Anwesenheit in Langnau so wenig vorlag wie beim Rekurrenten. Die Wohnungsverhältnisse in der Gemeinde können also doch nicht so gespannt gewesen sein, dass sie die Abweisung des Rekurrenten zu begründen vermöchten. Auf dem Boden des Bundesratsbeschlusses kann das Ermessen der Behörde nicht soweit gehen, dass sie jemanden nicht zulässt, während sie unter analogen Umständen gleichzeitig andere Personen aufnimmt.
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Bedenken ergeben sich in der vorliegenden Sache auch daraus, dass es sich beim Rekurrenten um den Entzug einer bereits erteilten Niederlassung handelt, während nach dem Bundesratsbeschluss nur eine Verweigerung der Niederlassung (oder des Aufenthalts) in Frage kommt. Die Behörde wird freilich eine solche Bewilligung gestützt auf Art. 19 widerrufen dürfen, wenn über Punkte, die nach dem Bundesratsbeschluss als wesentlich erscheinen, unrichtige Angaben gemacht worden sind. Das dürfte aber beim Rekurrenten, wie ausgeführt, nicht der Fall sein.
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Nach dem Gesagten liegt beim Rekurrenten keine nach dem Bundesratsbeschluss gültige Verweigerung der Niederlassung vor. Die Beschwerde aus Art. 45 BV ist daher gutzuheissen. Dass der Rekurrent nicht im Besitze der verfassungsmässigen Niederlassungsfreiheit sei, ist nicht behauptet und nicht ersichtlich.
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Dispositiv | |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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