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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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8. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung |
vom 23. April 1997 |
i.S. X. gegen Gemeinde Sils im Domleschg und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden |
(staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Eine Ungleichbehandlung von Mann und Frau hinsichtlich der Bezahlung von Feuerwehrpflichtersatz verstösst gegen Art. 4 Abs. 2 BV (E. 2). |
Eine Frist von nahezu 14 Jahren zur Anpassung eines verfassungswidrigen Gemeindereglements ist zu lange (E. 3). | |
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X., wohnhaft in der Gemeinde Sils im Domleschg, liess eine am 25. März 1995 versandte Rechnung über Fr. 350.-- für Feuerwehrpflichtersatz für das Jahr 1995 unbezahlt. Am 21. Juli 1995 erliess die Feuerkommission der Gemeinde eine Veranlagungsverfügung, wogegen X. Einsprache mit der Begründung erhob, es widerspreche der Gleichstellung von Frau und Mann, wenn lediglich die Männer feuerwehr- sowie feuerwehrersatzpflichtig seien, die Frauen aber nicht. Die Feuerkommission wies die Einsprache mit Entscheid vom 5. Oktober 1995 ab. Gleich entschied auf Einsprache von X. hin der Gemeindevorstand Sils i.D. am 1. November 1995.
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Gegen den Entscheid des Gemeindevorstandes erhob X. Rekurs an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Dieses wies den Rekurs im Sinne der Erwägungen ab. Es gelangte zum Schluss, die auf Männer beschränkte Feuerwehr- und Ersatzabgabepflicht sei mit Art. 4 Abs. 2 BV (Gleichstellung von Frau und Mann) unvereinbar. Die Verfassungswidrigkeit habe aber nicht zwingend zur Konsequenz, dass der angefochtene Entscheid aufgehoben werden müsste. Das verfassungswidrige Feuerwehrreglement sei noch vor Inkrafttreten des Gleichstellungsartikels in der Bundesverfassung erlassen worden. In einem solchen Falle gelte es, das Interesse des Rekurrenten an der Aufhebung der verfassungswidrigen Verfügung ![]() ![]() | 2 |
X. erhebt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Auszug aus den Erwägungen: | |
Aus den Erwägungen:
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Erwägung 2 | |
2.- a) Das Verwaltungsgericht erachtete im angefochtenen Urteil die Ungleichbehandlung von Frau und Mann bei der Feuerwehr- und Ersatzabgabepflicht als verfassungswidrig. Die Gemeinde Sils i.D. beharrt demgegenüber in ihrer Vernehmlassung auf dem Standpunkt, dass die auf Männer beschränkte Feuerwehr- und Ersatzabgabepflicht verfassungsgemäss sei. Da die Beschwerdegegnerin im kantonalen Verfahren obsiegt hat und der Entscheid des Verwaltungsgerichtes sie nicht in ihrer Autonomie verletzt, könnte sie selber nicht staatsrechtliche Beschwerde führen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist es indessen zulässig, dass die Beschwerdegegnerin in einem von der anderen Seite eingeleiteten Beschwerdeverfahren den angefochtenen Hoheitsakt in den ihr nachteiligen Punkten kritisiert (BGE 115 Ia 27 E. 4a S. 30, mit Hinweisen). Bevor auf die Frage einzugehen ist, welche Konsequenzen eine allfällige Verfassungswidrigkeit der auf Männer beschränkten Feuerwehr- und Ersatzabgabepflicht hat, ist demnach zu prüfen, ob die fragliche Regelung der Gemeinde Sils i.D. überhaupt, wie das Verwaltungsgericht angenommen hat, mit Art. 4 Abs. 2 BV unvereinbar ist.
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b) Nach Art. 4 Abs. 2 BV sind Mann und Frau gleichberechtigt (Satz 1). Sie haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige ![]() ![]() | 6 |
c) Das Bundesgericht hat bereits im Jahre 1986 entschieden, dass eine Ungleichbehandlung von Mann und Frau hinsichtlich der Feuerwehrpflicht grundsätzlich verfassungswidrig ist und sich nur insoweit mit Art. 4 Abs. 2 BV vereinbaren lässt, als der Feuerwehrdienst körperliche Anstrengungen erfordere, denen nur die kräftigsten Männer des besten Alters gewachsen seien, oder soweit die gesundheitlichen Auswirkungen des Feuerwehrdienstes die Frauen im Interesse allfälliger Nachkommen anders treffen als die Männer (ZBl 88/1987 S. 306 E. 4c/aa). In einem Urteil aus dem Jahre 1991 schützte das Bundesgericht eine auf Männer beschränkte Feuerwehrpflicht in einer kleinen Berggemeinde, weil die Milizwehrdienste auch für Einsätze ausrücken müssten, die von Frauen im Hinblick auf deren biologische und funktionale Ungleichheiten nicht verlangt werden dürften, wie grosse nächtliche Wanderungen allein oder zu zweit als Föhn- oder Windwache (ZBl 92/1991 S. 418 = BVR 1991 S. 439, E. 3). Wo aber ein differenzierter Einsatz möglich ist, lässt sich eine geschlechtsspezifische Ausgestaltung der Feuerwehr- und Ersatzabgabepflicht nicht rechtfertigen (ZBl 88/1987 S. 418, E. 2). Dabei kann die bisherige tatsächliche Organisation des Feuerwehrwesens in einer Gemeinde, ![]() ![]() | 7 |
d) Es erscheint fraglich, ob an der bisherigen Rechtsprechung in allen Teilen festgehalten werden kann. Der blosse Umstand, dass eine Feuerwehrtätigkeit bestimmte Risiken birgt, kann jedenfalls nicht zur generellen Dispensation aller Frauen führen, würde das doch bedeuten, dass das Leben von Frauen schutzwürdiger und wertvoller wäre als dasjenige von Männern, was Art. 4 Abs. 2 BV widerspräche. Auch ist körperliche Kraft nicht unbedingt geschlechtsspezifisch. Der Umstand, dass im Durchschnitt mehr Männer als Frauen die für den Feuerwehrdienst erforderlichen Eigenschaften besitzen, vermag im Lichte von Art. 4 Abs. 2 BV keine entscheidende Rolle zu spielen (ZBl 88/1987 S. 306 E. 4c/aa in fine). Hinzu kommt, dass notorisch in den meisten Gemeinden, in denen eine Wehrdienstpflicht besteht, der grösste Teil der an sich Dienstpflichtigen ihren Dienst nicht persönlich versehen, sondern durch eine Ersatzabgabe abgelten. Da in aller Regel genügend Freiwillige zur Verfügung stehen, wird kaum jemand zum effektiven Wehrdienst zwangsweise herangezogen; Dienstpflichtige männlichen oder weiblichen Geschlechts, welche die für den Feuerwehrdienst erforderlichen Eigenschaften nicht besitzen, können sich in aller Regel ohne weiteres vom aktiven Dienst dispensieren lassen und stattdessen die Ersatzabgabe bezahlen, was den Frauen gleichermassen zumutbar ist wie den Männern. Mit dieser Überlegung hat denn auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine auf Männer beschränkte baden-württembergische Feuerwehrersatzabgabepflicht als konventionswidrig beurteilt (Art. 14 EMRK [Gewährleistung der Konventionsrechte ohne Unterschied des Geschlechts] in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 lit. d EMRK [Pflichtarbeit]). Der Gerichtshof liess zwar offen, ob eine auf Männer beschränkte Feuerwehrpflicht mit der Konvention vereinbar wäre. Da Männer, wiewohl rechtlich verpflichtet, faktisch nicht zum Dienst gezwungen würden, weil sich genügend Freiwillige melden, habe die Ersatzabgabe ihre kompensatorische Bedeutung verloren und sei zur alleinigen realen Verpflichtung geworden. Für die Bezahlung einer solchen Abgabe lasse sich eine Ungleichbehandlung nach dem Geschlecht aber nicht rechtfertigen (Urteil Schmidt vom 18. Juli 1994, Série A Nr. 291-B, § 28). ![]() ![]() | 8 |
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Erwägung 3 | |
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b) Grundsätzlich werden kantonale - und damit auch kommunale - Gesetze, die zu Bestimmungen der Bundesverfassung in Widerspruch stehen, mit deren Annahme ausser Kraft gesetzt (Art. 2 ÜbBest. BV). Im Bereich von Art. 4 Abs. 2 BV hat indessen das Bundesgericht mit Hinweis auf die Entstehungsgeschichte angenommen, dass den Kantonen für vor dem 14. Juni 1981 erlassene Normen eine gewisse Anpassungsfrist zuzubilligen sei (ZBl 87/1986 S. 485 E. 2c); es hat daher in seinem ersten Urteil, in dem es die auf Männer begrenzte Feuerwehrpflicht als verfassungswidrig erklärte, erwogen, dass dem Gesetzgeber eine gewisse Zeitspanne belassen werden müsse, um Regelungen, die mit Art. 4 Abs. 2 BV unvereinbar seien, der neuen Verfassungsbestimmung anzupassen, dies jedenfalls dann, wenn nicht fundamentale schutzwürdige Interessen ![]() ![]() | 11 |
c) Es ist allerdings auch möglich, dass der Richter aus anderen Gründen von der Aufhebung eines auf verfassungswidriger rechtlicher Grundlage beruhenden Entscheides absehen kann. Die Rechtsprechung hat dies unabhängig von der für die Anpassung der Gesetzgebung an den Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter einzuräumenden Übergangsfrist angenommen, wenn dadurch nicht bloss ein verhältnismässig unbedeutendes Regelungsdefizit entstünde, sondern ein eigentlich rechtsfreier Raum geschaffen würde, der eine komplexe Regelungsmaterie insgesamt aus den Angeln heben (ZBl 88/1987 S. 306 E. 3b) und eine Regelungslücke hinterlassen würde, welche der Richter aufgrund seiner beschränkten funktionellen Eignung nicht im Rahmen fallbezogener richterlicher Beurteilung auszufüllen vermöchte (BGE 117 V 318 E. 6 S. 325 ff.: Notwendigkeit einer tiefgreifenden Änderung des Finanzierungssystems bei Änderung des Rentenalters). Wo aber keine derart weitgehende Konsequenzen mit der Nichtanwendung einer als verfassungswidrig erkannten Norm verbunden sind und die Durchsetzung ![]() ![]() | 12 |
d) Zu beachten ist schliesslich auch, dass aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (vorne E. 2d) der Beschwerdeführer in seinen durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierten Rechten verletzt bliebe (Art. 25 EMRK), wenn das Bundesgericht die ihm auferlegte Abgabe bestätigte. Im genannten Urteil hat denn auch der Gerichtshof die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, den erhobenen Abgabebetrag zurückzuerstatten. Auch diese Überlegung zeigt, dass es mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der vom Beschwerdeführer erhobenen Feuerwehrersatzabgabe nicht sein Bewenden haben kann, sondern dass diese aufzuheben ist. ![]() | 13 |
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