BGE 124 I 1 - Scheidungsverfahren Luzern | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
1. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung |
vom 6. Februar 1998 |
i.S. B.S. gegen Obergericht des Kantons Luzern |
(staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste | |
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Ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege darf nicht allein mit der Begründung abgewiesen werden, dass der Gesuchsteller nicht bedürftig sei, weil er sich den Betrieb und den Unterhalt eines Autos leisten könne. Vielmehr hat der Gesuchsteller - unabhängig von der Verwendung seiner Mittel - als bedürftig zu gelten, wenn er aufgrund seiner finanziellen Verhältnisse das Existenzminimum nicht decken kann; bei dieser Berechnung sind die Aufwendungen für den nicht lebensnotwendigen Bedarf selbstverständlich nicht zu berücksichtigen. | |
Sachverhalt | |
Im Scheidungsverfahren der Eheleute A.S. und B.S. beantragte B.S. die unentgeltliche Rechtspflege. Mit Entscheid vom 27. August 1997 wies die Instruktionsrichterin des Amtsgerichtes das Gesuch ab. Ein dagegen erhobener Rekurs wurde von der Justizkommission des Obergerichtes des Kantons Luzern mit Entscheid vom 14. Oktober 1997 abgewiesen. Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
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Auszug aus den Erwägungen: | |
Aus den Erwägungen:
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Erwägung 2 | |
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a) Art. 4 BV verschafft einer bedürftigen Partei in einem für sie nicht aussichtslosen Verfahren Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und auf Ernennung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes, sofern sie eines solchen zur gehörigen Wahrung ihrer Interessen bedarf (BGE 122 I 8 E. 2a S. 9, 322 E. 2b S. 324, je mit Hinweisen). Als bedürftig gilt ein Gesuchsteller, der die erforderlichen Prozess- und Parteikosten nur bezahlen kann, wenn er die Mittel angreift, deren er zur Deckung des Grundbedarfs für sich und seine Familie bedarf, wobei nicht nur die Einkommenssituation, sondern auch die Vermögensverhältnisse zu beachten sind (BGE 120 Ia 179 E. 3a S. 181; 119 Ia 11 E. 3a S. 12). Dabei hat die Rechtsprechung immer wieder betont, dass nicht schematisch auf das betreibungsrechtliche Existenzminimum abgestellt werden darf, sondern die individuellen Umstände zu berücksichtigen sind (BGE 108 Ia 108 E. 5b S. 109; 106 Ia 82 f.); auch wenn das Einkommen wenig über dem Betrag liegt, der für den Lebensunterhalt absolut notwendig ist, kann Bedürftigkeit angenommen werden (ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, Bern 1985, S. 164 f.). Auch im Kanton Luzern wird nicht auf das betreibungsrechtliche Existenzminimum abgestellt, sondern von einem erweiterten zivilprozessualen Notbedarf ausgegangen, bei dem ein Zuschlag von 25% beim Grundbetrag gewährt und ausgewiesene privat- und öffentlichrechtliche Verpflichtungen berücksichtigt werden (STUDER/RÜEGG/EIHOLZER, Der Luzerner Zivilprozess, Kriens 1994, N. 3 zu § 130).
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Beide kantonalen Instanzen haben das Armenrechtsgesuch somit im wesentlichen mit dem Argument abgewiesen, dass die Beschwerdeführerin nicht als bedürftig gelte, da sie für die Kosten der Benützung eines Autos aufkommen könne; auf das Zusatzargument des Obergerichtes, dass die Beschwerdeführerin eine zu teure Wohnung gemietet habe, muss im vorliegenden Verfahren nicht eingegangen werden, weil die Frage des angemessenen Mietzinses Gegenstand eines kantonalen Rekursverfahrens gegen den Massnahmeentscheid vom 27. August 1997 ist, in welchem Verfahren, soweit bekannt, noch nicht entschieden wurde. Damit reduziert sich das Problem - namentlich unabhängig von der umstrittenen Höhe des anrechenbaren Mietzinses - auf die Rechtsfrage, ob der Beschwerdeführerin, auch wenn sie am Rand des betreibungsrechtlichen Notbedarfs lebt, die unentgeltliche Rechtspflege verweigert werden darf, solange sie aus den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln für die Kosten eines Autos aufzukommen vermag.
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Diese Betrachtungsweise ist mit der durch Art. 4 BV gewährleisteten Minimalgarantie nicht vereinbar. Im Kanton Luzern wird beim Entscheid über die Bedürftigkeit nicht auf das betreibungsrechtliche Existenzminimum abgestellt, sondern von einem erweiterten zivilprozessualen Notbedarf ausgegangen, der neben den ausgewiesenen privat- und öffentlichrechtlichen Verpflichtungen auch einen Zuschlag von 25% auf dem Grundbedarf umfasst. Eine derartige, im Interesse der Vereinfachung und des Gleichbehandlungsgebots gewählte, weitgehend pauschalierte Berechnungsart lässt im Einzelfall Spielraum für die Finanzierung nicht lebensnotwendiger Bedürfnisse, weil wegen des Zuschlags auf dem Grundbedarf der zivilprozessuale Notbedarf den individuellen Zwangsbedarf übersteigen kann oder vorhandene Mittel teilweise anders als gemäss den im Grundbedarf enthaltenen Einzelelementen verbraucht werden, beispielsweise für Verköstigung weniger als veranschlagt ausgegeben wird. Diese Folge ist als systemimmanent hinzunehmen, umsomehr als durch die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege keinerlei Verpflichtung erwächst, die Mittel nur oder nicht anders denn jenen Elementen entsprechend zu verwenden. Der als bedürftig Ausgewiesene bleibt so oder so prozessarm, ob er die ihm im Rahmen pauschalierter Berechnungen zugestandenen Mittel für den notwendigen oder den nicht als notwendig erachteten Lebensunterhalt, also etwa für den Betrieb eines Autos ohne Kompetenzcharakter, für Sport oder Unterhaltung ausgibt; soweit er sie nicht für lebensnotwendige Bedürfnisse einsetzt, sind sie deshalb auch nicht in den Prozess einzubringen. Bestimmte Kategorien der Mittelverwendung für nicht notwendigen Lebensunterhalt wie die Kosten für Betrieb und Unterhalt eines Autos herauszugreifen und sie zum alleinigen, die unentgeltliche Rechtspflege ausschliessenden Kriterium zu machen, wäre ohnehin willkürlich.
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d) Eine ganz andere Frage ist, ob unter Berücksichtigung des Vermögenswertes eines Fahrzeugs die unentgeltliche Rechtspflege ganz oder teilweise verweigert werden darf, weil die Kosten des Prozessierens aus dem Verkaufserlös bestritten werden könnten. Diese Frage stellt sich im vorliegenden Fall allerdings nicht: Einerseits kann nach den Feststellungen des Obergerichtes nicht davon ausgegangen werden, dass das Fahrzeug im Eigentum der Beschwerdeführerin steht, weil deren Ehemann Halter ist und das Auto zu dessen Geschäftsvermögen zählt; andrerseits handelt es sich beim betreffenden Fahrzeug um einen 11jährigen Ford Sierra mit einem Kilometerstand von 197'000 km, der weitgehend wertlos sein dürfte.
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