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Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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5. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung |
vom 18. Januar 2000 |
i.S. B. gegen Bezirksanwaltschaft I für den Kanton Zürich und Haftrichter des Bezirksgerichts Horgen |
(staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und Art. 5 Ziff. 4 EMRK (Art. 31 Abs. 4 BV); § 66 Zürcher Strafprozessordnung (StPO/ZH): Sperrfrist für vom Untersuchungsgefangenen selbst verfasste Haftentlassungsgesuche. |
Ein gänzlicher Ausschluss von Haftentlassungsgesuchen für drei Monate hält im vorliegenden Falle vor der geltenden Rechtsprechung zu Art. 5 Ziff. 4 EMRK, auch im Lichte von Art. 31 Abs. 4 BV, nicht stand (E. 2 und 3). |
Eine Sperrfrist allein für Haftentlassungsgesuche, die der Untersuchungsgefangene selbst und nicht sein amtlicher Verteidiger verfasst, kann sich auf § 66 StPO/ZH als gesetzliche Grundlage stützen (E. 4a). Sie liegt auch im öffentlichen Interesse, ist jedoch unverhältnismässig, da aufgrund der vergangenen Gesuche keine genügenden Anzeichen für häufige, missbräuchliche, trölerische oder offensichtlich unzulässige oder unbegründete Haftentlassungsgesuche bestanden (E. 4b). | |
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B. wurde am 9. Juli 1999 vom Haftrichter des Bezirksgerichts Horgen in Untersuchungshaft versetzt. Am 7. Oktober 1999 wurde deren Fortsetzung für drei Monate angeordnet. Ein erstes Haftentlassungsgesuch vom 1. November 1999 hat der Haftrichter am 9. November 1999 abgewiesen. Obwohl er amtlich verteidigt wird, stellte B. am 6. Dezember 1999 selbst ein erneutes Haftentlassungsgesuch, welches der Haftrichter am 17. Dezember 1999 wegen dringenden Tatverdachts sowie Flucht- und Kollusionsgefahr abwies. Der Haftrichter verfügte gleichzeitig die Fortsetzung der Untersuchungshaft bis zum 17. März 2000 und ordnete in Ziffer 3 des Dispositivs seines Entscheids an, dass bis dahin auf von B. selbst verfasste Entlassungsgesuche nicht mehr eingetreten werde.
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Gegen Ziffer 3 des Dispositivs des haftrichterlichen Entscheids führt B. staatsrechtliche Beschwerde und verlangt deren Aufhebung, eventualiter die Verkürzung der Sperrfrist auf einen Monat. Er rügt eine Verletzung der persönlichen Freiheit und von Art. 5 Ziff. 4 EMRK.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Auszug aus den Erwägungen: | |
Aus den Erwägungen:
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Erwägung 1 | |
1.- Der Beschwerdeführer wendet sich gegen eine Anordnung, die sein Recht einschränkt, jederzeit ein Haftentlassungsgesuch zu stellen. Dieses Recht ist in Art. 5 Ziff. 4 EMRK garantiert, fliesst aus dem ungeschriebenen verfassungsmässigen Recht auf persönliche Freiheit und findet sich jetzt auch in Art. 31 Abs. 4 der ![]() ![]() | 5 |
Erwägung 2 | |
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Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) ist die Ansetzung einer Sperr- bzw. Ausschlussfrist von einem Monat für die Einreichung neuer Haftentlassungsgesuche grundsätzlich zulässig (BGE 123 I 31 E. 4c und d S. 37 ff. mit Hinweisen auf Urteile des EGMR und die Lehre, auf die sich auch der Beschwerdeführer beruft). § 66 StPO/ZH schliesst auch längere Sperrfristen nicht aus. Sperrfristen zwischen einem und drei Monaten sind jedoch nur ausnahmsweise zulässig, falls den sich wandelnden tatsächlichen Verhältnissen (mit Blick auf die Haftgründe oder die Haftdauer) auch so ausreichend Rechnung getragen werden kann. Das Bundesgericht erachtete es als mit Art. 5 Ziff. 4 EMRK unvereinbar, eine zweimonatige Sperrfrist allein damit zu begründen, der Inhaftierte habe innerhalb eines Monats drei Haftentlassungsgesuche gestellt und damit die Strafuntersuchung unnötig behindert (BGE 123 I 31 E. 4 S. 37 ff.). Es führte in jenem Urteil aus, diese Begründung nehme keinen Bezug auf den Stand der Strafuntersuchung. Auch lasse sich daraus nicht entnehmen, ob die weiteren noch erforderlichen Untersuchungshandlungen frühestens nach zwei Monaten abgeschlossen sein würden und ob die Flucht- oder die Kollusionsgefahr noch so lange andauern würden. Die Sperrfrist von zwei Monaten für die Einreichung eines neuen Gesuchs erweise sich unter diesen Umständen als übersetzt.
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Das Recht des ohne gerichtliches Urteil Inhaftierten, jederzeit ein Gericht anzurufen, gewährleistet einen spezifischen Aspekt der bisher als ungeschriebenes verfassungsmässiges Recht geschützten und neu in Art. 10 Abs. 2 BV garantierten persönlichen Freiheit. Diese Verfahrensgarantie ist jetzt auch ausdrücklich in Art. 31 Abs. 4 BV ![]() ![]() | 8 |
Erwägung 3 | |
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Der Haftrichter hat jedoch nicht verfügt, er werde für drei Monate keine Haftentlassungsgesuche des Beschwerdeführers zulassen, sondern nur, er werde während dieses Zeitraums auf keine von diesem selbst und nicht von seinem amtlichen Verteidiger verfassten mehr eintreten. Es ist im Folgenden zu prüfen, ob eine solche Einschränkung der Verteidigungsrechte und der Verfahrensrechte zum Schutz der persönlichen Freiheit vor der BV und der EMRK standhält.
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Erwägung 4 | |
4.- Der Beschwerdeführer bringt gegen die ihm auferlegte Sperrfrist vor, der Inhaftierte habe ein Recht, eine Haftentlassung zu ![]() ![]() | 11 |
a) Der Haftrichter ruft als gesetzliche Grundlage für den angefochtenen Entscheid § 66 StPO/ZH an. Dessen Wortlaut sieht zwar nicht ausdrücklich vor, dass auch nur vom Inhaftierten selbst verfasste Gesuche während einer Sperrfrist ausgeschlossen werden dürfen. Dies kann aber - verglichen mit der nach dem Gesetzeswortlaut zulässigen generellen Nichtzulassung von Haftentlassungsgesuchen - als mildere und daher ebenfalls zulässige Massnahme angesehen werden. Somit beruht die angefochtene Anordnung selbst bei freier Prüfung auf einer genügenden gesetzlichen Grundlage. Daher kann offen bleiben, ob es sich überhaupt um einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit handelt; andernfalls wären die Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür zu prüfen (vgl. BGE 125 I 257 E. 3a S. 259 mit Hinweisen).
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b) In jedem Falle prüft das Bundesgericht frei, ob die Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts mit den Minimalgarantien der BV und der EMRK vereinbar sind (vgl. für Verfahrensgarantien etwa BGE 125 I 257 E. 3a S. 259 mit Hinweisen). Es fragt sich, ob das öffentliche Interesse an der angefochtenen Sperrfrist von drei Monaten gegenüber dem Interesse des Beschwerdeführers überwiegt, während dieser Zeit auch ohne seinen Verteidiger sein Recht auf jederzeitige Haftprüfung auszuüben.
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aa) Das Interesse des Beschwerdeführers, selbst Haftentlassungsgesuche einzureichen, ist grundsätzlich nicht gross. Sein Verteidiger kann jederzeit solche Gesuche stellen, muss dies aufgrund seiner Verteidigerpflichten auch tun, wenn eine Aussicht auf Erfolg besteht, und vorliegend bestehen - wie die staatsrechtliche Beschwerde zeigt - auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich der Verteidiger nicht voll für den Beschwerdeführer einsetzen würde.
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Anderseits ist zu berücksichtigen, dass ein Angeschuldigter grundsätzlich seine Rechte auch dann selbst wahrnehmen kann, wenn er verteidigt ist (vgl. Entscheid der EKMR i.S. X. c. Schweiz vom 6. Oktober 1981, Décisions et Rapports, Band 26 (1982), S. 239; JOCHEN ABR. FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, EMRK-Kommentar, 2. Auflage, 1996, S. 301). Dies muss insbesondere für unverzichtbare ![]() ![]() | 15 |
bb) Es entspricht dem erwähnten öffentlichen Interesse an einer funktionierenden Strafjustiz, wenn die Behörden während dreier Monate nur Beschwerden zu behandeln haben, die vom dem Beschwerdeführer zur Verfügung gestellten amtlichen Verteidiger verfasst werden. Wie der Beschwerdeführer unter Berufung auf Rechtsprechung und Lehre ausführt, ist jedoch selbst das Interesse, überhaupt keine Haftentlassungsgesuche behandeln zu müssen, grundsätzlich gering zu bewerten. Es steht dem Haftrichter frei, auf rechtsmissbräuchliche, trölerische oder offensichtlich unzulässige Gesuche nicht einzutreten oder offensichtlich unbegründete Gesuche mit bloss summarischer Begründung abzuweisen (vgl. das Urteil des Bundesgerichts vom 8. April 1994 i.S. A., E. 3b, in: EuGRZ 1994 S. 492; ANDREAS DONATSCH/NIKLAUS SCHMID, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, 1996, § 66, N. 9).
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Auch im Strafprozessrecht gilt das allgemeine Rechtsmissbrauchsverbot. Ein Angeschuldigter darf mit der Ausübung seiner Rechte keine verfahrensfremden oder verfahrenswidrigen Zwecke verfolgen. In einem solchen Fall darf der Richter auch ohne besondere gesetzliche Grundlage anordnen, dass ein Angeschuldigter bestimmte Rechte nur durch seinen Verteidiger ausüben dürfe (vgl. ein Urteil des deutschen Bundesgerichtshofs in Strafsachen vom 7. November 1991 in: Neue Juristische Wochenschrift 1992 S. 1245 f.). Dass der Beschwerdeführer nicht eigentlich seine Freilassung erreichen wollte, sondern bloss oder hauptsächlich das Verfahren behindern oder verzögern wollte, wirft ihm der Haftrichter hier hingegen nicht vor, und dies ist auch nicht ersichtlich.
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cc) Vorliegend hat der Beschwerdeführer in den ersten fünf Monaten seiner Haft zwei Haftentlassungsgesuche gestellt. Zwischen dem Ersten vom 1. November 1999 und dem Zweiten vom 6. Dezember 1999, das Anlass zur angefochtenen Verfügung gab, verstrich mehr als ein Monat, also mehr als der Zeitraum, während dem neue Haftentlassungsgesuche nach der Rechtsprechung der Strassburger Organe und des Bundesgerichts grundsätzlich ausgeschlossen werden dürfen. Das zweite Gesuch wurde gestellt, nachdem der Haftrichter in seinem Entscheid vom 9. November 1999 ![]() ![]() | 18 |
dd) Zusammenfassend bot die Eingabe vom 6. Dezember 1999 keine genügenden Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer in nächster Zeit häufige, missbräuchliche, trölerische, offensichtlich unzulässige oder unbegründete Haftentlassungsgesuche abfassen werde, wenn er solche selbst einreichen könnte. Die angefochtene Sperrfrist ist daher unverhältnismässig. Auch wenn der Beschwerdeführer im übrigen Strafverfahren trölerisches oder missbräuchliches Verhalten an den Tag legen sollte, kann dies die angefochtene Sperrfrist nicht rechtfertigen, solange sich solches Verhalten nicht in Haftentlassungsgesuchen äussert. Die Sperrfrist ist keine Sanktion für das Verhalten des Angeschuldigten in der Strafuntersuchung, sondern kann einzig dazu dienen, die Behörden von missbräuchlichen Haftentlassungsgesuchen zu entlasten. ![]() | 19 |
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