![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
![]() | ![]() |
16. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung |
vom 13. Juni 2000 |
i.S. Model AG gegen Steuerverwaltung und Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau |
(staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 49 Abs. 6 aBV (Art. 15 BV); Art. 4 aBV; § 224 des thurgauischen Steuergesetzes; Religionsfreiheit; Legalitätsprinzip; Kirchensteuer und juristische Personen. |
Befugnis zur Rechtsetzung und zur Steuererhebung auf dem Gebiet des Kirchensteuerwesens (E. 2). |
Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung zur grundsätzlichen Vereinbarkeit der Kirchensteuerpflicht juristischer Personen mit Art. 49 Abs. 6 aBV. Auch bei Berücksichtigung der seitherigen Entwicklungen, insbesondere des Ergebnisses der Totalrevision der Bundesverfassung, ist eine Praxisänderung nicht angezeigt (E. 3-5). | |
![]() | |
Gemäss § 91 der Verfassung des Kantons Thurgau vom 16. März 1987 (KV/TG; SR 131.228) sind die evangelisch-reformierte und die römisch-katholische Religionsgemeinschaft anerkannte Landeskirchen des öffentlichen Rechts. Sie gliedern sich in Kirchgemeinden mit eigener Rechtspersönlichkeit (§ 93 Abs. 1 KV/TG). Laut § 93 Abs. 2 KV/TG können die Kirchgemeinden "für die Erfüllung der Kultusaufgaben innerhalb von Kirchgemeinden, Landeskirchen und Religionsgemeinschaft im Rahmen der konfessionellen Gesetzgebung Steuern in Form von Zuschlägen zu den Hauptsteuern erheben".
| 1 |
Nach § 222 des thurgauischen Gesetzes vom 14. September 1992 über die Staats- und Gemeindesteuern (Steuergesetz; StG/TG) können die Munizipal-, Orts-, Schul- und Kirchgemeinden Gemeindesteuern in Prozenten der einfachen Steuer erheben (Abs. 1); sie bestimmen jährlich den Steuerfuss (Abs. 2). Gemäss § 224 Abs. 1 StG/TG haben die juristischen Personen sowohl den evangelischen als auch den katholischen Kirchgemeinden Steuern zu entrichten.
| 2 |
Die M. AG führte im Kanton Thurgau erfolglos Rekurs und Beschwerde gegen die Auferlegung von Kirchensteuern für die Veranlagungsperiode 1997. Dagegen gelangte sie mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 26. April 1999 an das Bundesgericht. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
| 3 |
Auszug aus den Erwägungen: | |
Aus den Erwägungen:
| 4 |
Erwägung 2 | |
2.- a) Die Beschwerdeführerin rügt einen Verstoss gegen Art. 4 aBV durch Verletzung des Legalitätsprinzips und macht geltend, gestützt auf § 93 Abs. 2 KV/TG seien ausschliesslich die Kirchgemeinden zur Erhebung der Kirchensteuern zuständig. Der Grosse Rat des Kantons Thurgau sei nicht zum Erlass von § 224 StG/TG kompetent gewesen. Sowohl nach dem Wortlaut von § 93 Abs. 2 KV/TG wie nach systematischen Gesichtspunkten liege die Kompetenz zur Erhebung von Kirchensteuern, mithin die Steuerhoheit, ![]() ![]() | 5 |
6 | |
So verhält es sich auch im Kanton Thurgau: Zum einen haben die politischen Gemeinden und die Schulgemeinden das Recht, Steuern in Form von Zuschlägen zu den Hauptsteuern zu erheben (§ 85 Abs. 2 KV/TG). Dies - und nicht mehr - können zum anderen auch die Kirchgemeinden tun (vgl. § 93 Abs. 2 KV/TG). Wie die politischen und die Schulgemeinden verfügen sie damit nicht über eine eigene Steuerhoheit. Die Gemeinden können nämlich nur Zuschläge - diese aber autonom - zu den Hauptsteuern des Kantons erheben, während der Kanton das formelle und das materielle Recht abschliessend erlässt (PHILIPP STÄHELIN, Wegweiser durch die Thurgauer Verfassung, 1991, § 85 N. 4, § 93 N. 6). Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist der (kantonale) Gesetzgeber folglich befugt, den Umfang des Besteuerungsrechts der Kirchgemeinden zu bestimmen (PHILIPP STÄHELIN, a.a.O., § 93 N. 6). Der Zusatz bei § 93 Abs. 2 KV/TG "im Rahmen der konfessionellen Gesetzgebung" vermag daran nichts zu ändern, zumal er sich, wie das Verwaltungsgericht festhält, durchaus auf die Festsetzung des Steuerfusses beschränken kann. Zudem erscheint nicht ausgeschlossen, dass sich dieser Zusatz auf die "Erfüllung der Kultusaufgaben" bezieht. Mithin verstösst § 224 StG/TG, der die Kirchensteuern juristischer Personen regelt, nicht gegen das Legalitätsprinzip. ![]() | 7 |
![]() | 8 |
Erwägung 3 | |
9 | |
"Niemand ist gehalten, Steuern zu bezahlen, welche speziell für eigentliche Kultuszwecke einer Religionsgemeinschaft, der er nicht angehört, auferlegt werden. Die nähere Ausführung dieses Grundsatzes ist der Bundesgesetzgebung vorbehalten."
| 10 |
11 | |
b) Die Beschwerdeführerin wendet ein, das Bundesgericht habe sich letztmals vor über 20 Jahren mit der Kirchensteuerpflicht juristischer Personen befasst und diese damals "gegen den Widerstand einer verbreiteten Lehrmeinung" geschützt. Seither sei dieser Steuerpflicht aus der Lehre noch bedeutend mehr Ablehnung erwachsen. Unter Berufung auf das Erfordernis einer zeitgemässen Verfassungsauslegung macht die Beschwerdeführerin weiter geltend, "dass sich die Auffassung der Allgemeinheit über das Verhältnis von Staat und Kirche seit dem letzten publizierten Bundesgerichtsentscheid nochmals wesentlich verändert hat", was durch die Zunahme der Kirchenaustritte belegt werde. Auch beschränkten sich die Kirchen ![]() ![]() | 12 |
Erwägung 4 | |
4.- a) Das Bundesgericht hat seit 1878 in ständiger Praxis die Verfassungsmässigkeit der Kirchensteuerpflicht juristischer Personen bejaht (vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung ULRICH HÄFELIN, in Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, Art. 49, Rz. 96 ff.; PETER KARLEN, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Schweiz, Diss. Zürich 1988, S. 362 ff.). Das in BGE 102 Ia 468 publizierte Urteil vom 6. Oktober 1976 hielt es "in einer Zeit starker gesellschaftlicher Wandlungen" für angezeigt, "dass das Bundesgericht seine seit 1878 vertretene Interpretation von Art. 49 Abs. 6 BV grundsätzlich neu überprüft und untersucht, ob neue Argumente und Erkenntnisse eine Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung zu rechtfertigen vermögen" (dortige E. 2c). Entsprechend setzte sich das Bundesgericht in diesem Entscheid mit den Argumenten, die in der Doktrin gegen die Heranziehung juristischer Personen zur Kirchensteuer angebracht wurden, auseinander, doch hielt es an der bisherigen Rechtsprechung fest: Dem historischen Verfassungsgeber sei es ausschliesslich darum gegangen, natürliche Personen gegen die Besteuerung durch eine Religionsgemeinschaft zu schützen, der sie nicht oder nicht mehr angehören. Art. 49 Abs. 6 aBV bestimme demnach rein negativ, dass die nicht zur steuerberechtigten Kirche gehörende natürliche Person wegen der ihr zustehenden Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht zur Bezahlung von Kirchensteuern verpflichtet werden dürfe, schaffe aber nicht ein positives Erfordernis der Kirchenzugehörigkeit als verfassungsrechtliche Voraussetzung für die Erhebung der Kirchensteuer. Diese restriktive Auslegung von ![]() ![]() ![]() ![]() | 13 |
Die Europäische Kommission für Menschenrechte trat mit Entscheid vom 27. Februar 1979 auf die gegen dieses Urteil erhobene Beschwerde nicht ein mit der Begründung, eine juristische Person mit wirtschaftlichem Geschäftszweck komme weder in den Genuss des angerufenen Art. 9 EMRK (SR 0.101) noch könne sie sich darauf berufen (in Décisions et rapports 16 S. 85 f.; auch in VPB 47/1983 Nr. 190 S. 579).
| 14 |
15 | |
Vor allem wird betont, dass hinter den juristischen Personen natürliche Personen ständen, und es sei grundrechtlich unhaltbar, diesen und deren Religionsfreiheit nicht Rechnung zu tragen (vgl. ULRICH HÄFELIN, a.a.O., Art. 49, Rz. 102; ANDREAS KLEY, Der Grundrechtskatalog der nachgeführten Bundesverfassung - ausgewählte Neuerungen, in ZBJV 135/1999 S. 301 ff., insbes. S. 337; JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz, 1999, S. 101; ders., Die staatsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1976, in ZBJV 114/1978 S. 49 ff., insbes. S. 65 f., wo zu BGE 102 Ia 468 gesagt wird, das Bundesgericht hätte prüfen müssen, wie weit es seine Aufgabe gewesen wäre, den grundrechtlichen Gehalt von Art. 49 Abs. 1 aBV und von Art. 9 EMRK "auch gegen erhärtete Strukturen unseres Landeskirchenrechts zum Tragen zu bringen"). Nach ERNST BLUMENSTEIN/PETER LOCHER, System des Steuerrechts, 5. Aufl. 1995, S. 50, steht die Kirchensteuerpflicht in unlösbarer Verbindung mit der Persönlichkeit des Menschen und kann daher der Natur der Sache nach nur natürlichen Personen zukommen (ähnlich DANIEL PACHE, Les impùts ecclésiastiques, Diss. Lausanne 1981, S. 57). Als stossend wird namentlich auch empfunden, dass die juristischen Personen mit dem Tätigkeitsbereich der Kirchen wenig zu ![]() ![]() | 16 |
Erwägung 5 | |
5.- Die von der Beschwerdeführerin verlangte Aufgabe der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist nicht zum Vornherein ausgeschlossen. Eine Praxis ist nämlich nicht unwandelbar und muss sogar geändert werden, wenn sich erweist, dass das Recht bisher unrichtig angewendet worden ist oder eine andere Rechtsanwendung dem Sinne des Gesetzes (hier: der Verfassung) oder veränderten Verhältnissen besser entspricht. Eine Praxisänderung muss sich allerdings auf ernsthafte sachliche Gründe stützen können, die - vor allem aus Gründen der Rechtssicherheit - umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erkannte Rechtsanwendung gehandhabt worden ist (vgl. BGE 125 II 152 E. 4c/aa S. 162 f.; 125 I 458 E. 4a S. 471; 122 I 57 E. 3c/aa S. 59, je mit Hinweisen). Ob die Voraussetzungen für eine Änderung der Rechtsprechung gegeben sind, ist im Folgenden zu prüfen.
| 17 |
a) Die Regelung des Gemeindewesens ist Sache der Kantone. Entsprechend sind diese frei, die Kirchgemeinden - wie der Kanton Thurgau es getan hat (siehe oben E. 2c) - als Gebietskörperschaften auszugestalten. Diesfalls aber kann die Steuerhoheit an die Gebietshoheit anknüpfen, und die Mitgliedschaft zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft ist nicht Voraussetzung für die Kirchensteuerpflicht von juristischen Personen. Da sich diese nicht auf die Religionsfreiheit berufen können, verletzt ihre Besteuerung auch nicht Art. 49 Abs. 6 aBV. Zudem ist die Kirchensteuer als eigentliche Steuer voraussetzungslos geschuldet und somit nicht von Gegenleistungen ![]() ![]() | 18 |
19 | |
20 | |
d) Der Kritik ist einzuräumen, dass der Entstehungsgeschichte von Art. 49 aBV aus heutiger Sicht kaum mehr entscheidende Bedeutung zukommt und dass sich die Ansichten bezüglich des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat in den letzten Jahren (weiter) gewandelt haben. Massgebend ist allerdings, in welcher Richtung sich das Kirchenrecht der Kantone in dieser Zeit entwickelt hat (vgl. schon BGE 102 Ia 468 E. 4 S. 477). Weiter ist die entsprechende Regelung in der neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999 (BV) von Interesse.
| 21 |
aa) In den Kantonen haben sich kaum wesentliche Änderungen ergeben. In 20 Kantonen werden von den juristischen Personen Kirchensteuern erhoben; keine solchen Abgaben erheben die Kantone Aargau, Basel-Stadt, Appenzell Ausserrhoden, Schaffhausen, Genf und Waadt, wobei der Kanton Waadt die Kultusaufgaben aus dem Ertrag der ordentlichen Steuern finanziert (vgl. Steuerinformationen der Interkantonalen Kommission für Steueraufklärung "Die Kirchensteuern", Ausgabe Dezember 1999, S. 4, 14 und 21; FERDINAND ZUPPINGER, ![]() ![]() | 22 |
bb) Es fragt sich, ob die am 1. Januar 2000 in Kraft getretene Bundesverfassung vom 18. April 1999 Änderungen gebracht hat, die in eine erneute Prüfung der Kirchensteuer juristischer Personen einzubeziehen sind. Art. 15 BV regelt die Glaubens- und Gewissensfreiheit und lautet wie folgt:
| 23 |
1 Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet.
| 24 |
2 Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen.
| 25 |
3 Jede Person hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen.
| 26 |
4 Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen.
| 27 |
Eine Art. 49 Abs. 6 aBV entsprechende Regelung ist darin nicht enthalten. Die bundesrätliche Botschaft vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung hielt diesbezüglich - zum damaligen Art. 13 des Entwurfs, der vom Wortlaut her mit Art. 15 BV übereinstimmt - fest, diese lasse "sich aus Absatz 1 der vorliegenden Bestimmung ableiten" (BBl 1997 I 157). Dem Bundesrat erschien gemäss BBl 1997 I 111 lediglich eine Gesetzesanpassung nötig: "Artikel 49 Absatz 6 BV muss in die Bundesgesetzgebung aufgenommen werden (DBG, SR 642.11; evtl. StHG, SR 642.14)."
| 28 |
In der parlamentarischen Beratung ergaben sich keine Modifikationen. Aus den Vorarbeiten der Verfassungskommissionen des Stände- und Nationalrats geht im Übrigen hervor, dass an der Kirchensteuer für juristische Personen nichts geändert, insbesondere das Bundesgericht nicht zur Aufgabe seiner ständigen Praxis ![]() ![]() | 29 |
e) Im Hinblick auf die Verhältnisse in den Kantonen sowie mit Rücksicht auf das Ergebnis der Totalrevision der Bundesverfassung besteht somit kein Anlass, die nunmehr weit über 100 Jahre alte Praxis des Bundesgerichts zur Kirchensteuer juristischer Personen zu ändern. Eine Änderung der Rechtsprechung wäre für die Landeskirchen und die Kirchgemeinden, aber auch für die Kantone selber, mit weitreichenden Folgen verbunden (vgl. FERDINAND ZUPPINGER, a.a.O., S. 24). Dieser Gesichtspunkt mag zwar eher rechtspolitischer Natur sein; er kann indes bei der Gesamtwürdigung, ob und in welchem Umfang sich die Verhältnisse gewandelt haben, nicht unbeachtet gelassen werden. Den Kantonen selber bleibt nicht verwehrt, ihre bestehenden Regelungen zu revidieren. Hingegen ist es (weiterhin) nicht Sache des Bundesgerichts, dies als Verfassungsrichter für 20 Kantone zu tun (vgl. in diesem Zusammenhang PETER KARLEN, a.a.O., S. 368). Vom zuletzt publizierten Bundesgerichtsentscheid von 1976 (BGE 102 Ia 468) ausgehend, sind seither keine neuen ernsthaften sachlichen Gründe für eine Praxisänderung aufgetreten bzw. geltend gemacht worden. Insbesondere hat der Bundesgesetzgeber, trotz eines entsprechenden Vorbehalts in Art. 49 Abs. 2 Satz 2 aBV, keine - auch nicht im Zuge der Steuerharmonisierung - auf einen Wandel gerichtete Regelungen getroffen. Ebenso unterblieb dies bei der Nachführung der Bundesverfassung. ![]() | 30 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |