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Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: A. Tschentscher, Sabiha Akagündüz | |||
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32. Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Einwohnergemeinde Thun sowie Appellationshof des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) |
5P.203/2003 |
vom 29. September 2003 | |
Regeste |
Art. 9 und 29 Abs. 2 BV; definitive Rechtsöffnung, Nichtigkeit eines Urteils. |
Ist ein Urteil ergangen, ohne dass der im Urteilskanton wohnhafte Beklagte vom Prozess Kenntnis erhielt und an diesem teilnehmen konnte, so ist es nichtig und kann nicht als Rechtsöffnungstitel dienen (E. 2). | |
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A. | |
Mit Urteil vom 11. Mai 1994 stellte das Amtsgericht von Thun fest, dass X. Vater der am 7. August 1992 geborenen Y. sei, ![]() ![]() | 1 |
B. | |
Im Mai 2002 leitete die Einwohnergemeinde Thun gegen den im Kanton Bern wohnhaften X. die Betreibung für die bevorschussten Alimente für Y. ein und verlangte am 17. Oktober 2002 definitive Rechtsöffnung für einen Betrag von Fr. 18'846.- nebst Zinsen.
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Der Gerichtspräsident 3 des Gerichtskreises VIII Bern-Laupen erteilte mit Entscheid vom 20. Februar 2003 definitive Rechtsöffnung für den verlangten Betrag. In seinen Erwägungen bezeichnete er den Einwand des Gesuchsgegners, der vorgelegte Rechtsöffnungstitel sei unter Verletzung des rechtlichen Gehörs zustande gekommen und daher nichtig, als letztlich nicht massgebend. Wohl stehe nunmehr fest, dass der Beklagte im Zeitpunkt der Erhebung der Vaterschaftsklage Wohnsitz in Bern gehabt habe und dieser auch hätte ausfindig gemacht werden können und müssen. Da die öffentliche Ladung nur vorgenommen werden dürfe, soweit keine andere Möglichkeit der Zustellung bestehe, sei das rechtliche Gehör des Beklagten in jenem Verfahren tatsächlich verletzt worden. Dieser Verfahrensmangel sei jedoch geheilt. X. habe spätestens im Jahre 2001 Kenntnis vom richterlichen Entscheid erhalten und hätte Wiedereinsetzung gemäss Art. 288 Abs. 1 Ziff. 1 der bernischen Zivilprozessordnung (ZPO/BE) verlangen können. Da er diese Möglichkeit nicht wahrgenommen habe, habe er selbst auf seinen verfassungsmässigen Anspruch auf prozessuale Kommunikation verzichtet.
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Auf Appellation von X. hin bestätigte der Appellationshof des Kantons Bern, 1. Zivilkammer, den erstinstanzlichen Entscheid unter Hinweis auf dessen Begründung. Der Appellationshof stellte seinerseits fest, dem Appellanten hätte die Möglichkeit offen gestanden, Wiedereinsetzung in den Vaterschaftsprozess oder allenfalls eine Kassation von Amtes wegen zu verlangen, nachdem er vom Urteil vom 11. Mai 1994 Kenntnis erlangt hatte. Es sei daher rechtsmissbräuchlich, wenn er sich erst im Rechtsöffnungsverfahren - rund 20 Monate seit sicherer Kenntnis des Richterspruchs - über die Verletzung des Gehörsanspruchs beklage. Auch die Rechtssicherheit gebiete, dass erstinstanzliche Urteile nicht während unbestimmter Zeit in Frage gestellt werden könnten, selbst wenn sie in Verletzung wesentlicher Verfahrensgrundsätze ergangen seien. ![]() | 4 |
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Die Einwohnergemeinde Thun und der Appellationshof des Kantons Bern haben auf die Akten verwiesen und auf Vernehmlassung verzichtet.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Auszug aus den Erwägungen: | |
Aus den Erwägungen:
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Erwägung 2 | |
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Die Nichtigkeit eines Entscheides ist jederzeit und von sämtlichen rechtsanwendenden Behörden von Amtes wegen zu beachten (BGE 122 I 97 E. 3a; 115 Ia 1 mit Hinweisen). Sie kann auch im Rechtsmittel- und selbst noch im Vollstreckungsverfahren geltend gemacht werden (vgl. BGE 127 II 32 E. 3g S. 48 mit Hinweis; YVO HANGARTNER, Die Anfechtung nichtiger Verfügungen und von Scheinverfügungen, AJP 2003 S. 1054 mit Verweis auf MAX IMBODEN, Der nichtige Staatsakt, Zürich 1944, S. 131). Neben den in Art. 81 SchKG genannten Einreden kann der Schuldner daher der definitiven Rechtsöffnung auch Nichtigkeit des Vollstreckungstitels entgegenhalten.
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Der Einwand des Beschwerdeführers erweist sich als berechtigt:
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2.1 Fehlerhafte Entscheide sind nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung nichtig, wenn der ihnen anhaftende Mangel besonders schwer ist, wenn er offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und wenn zudem die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird (vgl. BGE 117 Ia 202 ![]() ![]() | 12 |
2.2 Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer, obschon er zur Zeit des Vaterschaftsprozesses in Bern wohnhaft und angemeldet war, durch öffentliche Ladung vorgeladen wurde und vom Verfahren nichts wusste. Nun ist die öffentliche Ladung unzulässig, wenn der Aufenthaltsort des Zustellungsempfängers bekannt oder eruierbar ist (vgl. Art. 111 ZPO/BE e contrario, LEUCH/MARBACH/KELLERHALS/STERCHI, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 5. Aufl., 2000, N. 3 zu Art. 111 ZPO/BE; BGE 56 I 89 E. 2 S. 94). Die regelwidrige Vorladung hatte zur Folge, dass der Beschwerdeführer an der Teilnahme am Verfahren und der Wahrung seiner Prozessrechte gehindert war. Zudem setzt ein Säumnisurteil die ordnungsgemässe Ladung voraus und hätte hier ein solches gar nicht gefällt werden dürfen (vgl. LEUCH/MARBACH/KELLERHALS/STERCHI, a.a.O., N. 1a zu Art. 283 ZPO/BE). Ist aber das Urteil des Amtsgerichts von Thun vom 11. Mai 1994 ergangen, ohne dass der Beschwerdeführer als Beklagter vom Prozess Kenntnis erhielt und ohne dass die Voraussetzungen für ein Säumnisurteil erfüllt gewesen wären, so ist der Entscheid mit derart schwer wiegenden Verfahrensmängeln behaftet, dass er als nichtig erscheint.
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2.3 Ist ein Urteil nichtig, so existiert es nicht (oder nur zum Schein) und hat keinerlei Rechtswirkungen. Es kann daher auch nicht als Rechtsöffnungstitel dienen. Unter diesen Umständen ist es nicht von Belang, ob der Beschwerdeführer mit Erfolg hätte Wiedereinsetzung ![]() ![]() ![]() | 14 |
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