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Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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23. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft sowie Obergericht des Kantons Zug (staatsrechtliche Beschwerde) |
1P.22/2004 |
vom 5. Juli 2004 | |
Regeste |
Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 29 Abs. 1 BV; Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 und 3, Art. 44 Ziff. 1 und 6 sowie Art. 73 ff. StGB; Anordnung des Vollzugs einer zugunsten einer ambulanten Massnahme aufgeschobenen Freiheitsstrafe 12 Jahre nach dem Strafurteil; Beschleunigungsgebot. |
Der Anwendungsbereich des Beschleunigungsgebots nach der Bundesverfassung ist weiter als nach der Europäischen Menschenrechtskonvention. Er erfasst nicht nur Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und strafrechtliche Anklagen, sondern sämtliche Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsbehörden (E. 2.3). |
Die Kriterien, die für die Verletzung des Beschleunigungsgebots bei der Strafverfolgung gelten, dürfen nicht unbesehen auf den Strafvollzug angewandt werden. Tragweite des Beschleunigungsgebots im Strafvollzug (E. 3). |
Keine Verletzung des Beschleunigungsgebots im zu beurteilenden Fall (E. 4). | |
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Mit rechtskräftigem Urteil vom 13. September 1991 verurteilte das Strafgericht des Kantons Zug X. wegen verschiedener Delikte zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 18 Monaten, unter Anrechnung der Untersuchungshaft von 14 Tagen, und einer Busse von Fr. 200.-; zudem widerrief es den mit Urteil des Einzelrichteramtes vom 15. Februar 1990 gewährten bedingten Vollzug einer zehntägigen Haftstrafe. Es schob den Vollzug der beiden Freiheitsstrafen zugunsten einer ambulanten Behandlung gemäss Art. 44 Ziff. 1 und 6 StGB auf und stellte den Verurteilten unter Schutzaufsicht.
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Mit Verfügung vom 1. März 2001 stellte das Amt für Straf- und Massnahmenvollzug die ambulante Behandlung als gescheitert ein ![]() ![]() | 2 |
Mit Verfügung vom 31. Januar 2003 stellte das Amt für Straf- und Massnahmenvollzug die ambulante Behandlung wegen Undurchführbarkeit ein und beantragte dem Obergericht des Kantons Zug, die aufgeschobenen Strafen von 18 Monaten Gefängnis und 10 Tagen Haft zu vollziehen. Mit Beschluss vom 18. Oktober 2003, zugestellt am 2. Dezember 2003, ordnete das Obergericht die mit Urteil des Strafgerichts vom 13. September 1991 bzw. mit Beschluss des Obergerichts vom 25. Juni 2002 aufgeschobene Strafe von 18 Monaten zum Vollzug an unter Anrechnung der Untersuchungshaft von 14 Tagen (Ziff. 1); zudem ordnete es für die Dauer des Vollzugs eine ambulante Behandlung an (Ziff. 2). Die Verfahrenskosten von Fr. 6'706.95 auferlegte es X. (Ziff. 4).
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X. führt mit Eingabe vom 13. Januar 2004 staatsrechtliche Beschwerde. Er beantragt, Ziff. 1, 2 und 4 des Beschlusses des Obergerichts aufzuheben.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Auszug aus den Erwägungen: | |
Aus den Erwägungen:
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Erwägung 2 | |
2. Der Beschwerdeführer erachtet das Beschleunigungsgebot als verletzt, weil der Vollzug der Strafe erst rund 12 Jahre nach dem Strafurteil angeordnet worden sei.
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2.1 Das Obergericht hat ausgeführt, Art. 6 Ziff. 1 EMRK sei für das Strafverfahren anwendbar, in welchem über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage entschieden werde, nicht aber für die Durchführung und Überwachung der ambulanten Massnahme. Da der Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK demjenigen von Art. 29 Abs. 1 BV entspreche, könne auch bezüglich dieser Bestimmung auf das zur EMRK Gesagte verwiesen werden. Der Beschwerdeführer ist demgegenüber der Ansicht, das Beschleunigungsgebot gelte auch für den Vollzug der Strafe.
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2.2 Art. 6 Ziff. 1 EMRK gilt für strafrechtliche Anklagen. Nach Lehre und Rechtsprechung erstreckt sich der Anwendungsbereich dieser Bestimmung auf das gesamte Strafverfahren bis zum endgültigen ![]() ![]() | 9 |
2.3 Ob die hier streitige nachträgliche Anordnung des Strafvollzugs im Lichte dieser Erwägungen unter Art. 6 EMRK fällt, kann offen bleiben, denn sie fällt so oder anders unter Art. 29 Abs. 1 BV. Diese Bestimmung ist zwar in Bezug auf die angemessene Verfahrensdauer nach den gleichen Grundsätzen auszulegen wie Art. 6 Ziff. 1 EMRK (REINHOLD HOTZ, St. Galler Kommentar zur BV, 2002, Rz. 15 zu Art. 29 BV). Indessen ist ihr Geltungsbereich weiter als derjenige von Art. 6 Ziff. 1 EMRK, indem er nicht bloss Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und strafrechtliche Anklagen umfasst, sondern sämtliche Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsbehörden (JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl., Bern 1999, S. 504; RENÉ RHINOW, Grundzüge des Schweizerischen Verfassungsrechts, ![]() ![]() | 10 |
Erwägung 3 | |
3.
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3.1 Die grundsätzliche Anwendbarkeit des Beschleunigungsgebots auch auf den Strafvollzug bedeutet nun allerdings nicht, dass dafür unbesehen die gleichen Fristen gelten wie für die Strafverfolgung. Die Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer entzieht sich starren Regeln; es ist vielmehr in jedem Einzelfall zu prüfen, ob sich die Dauer unter den konkreten Umständen als angemessen erweist; es kann dafür keine allgemein gültige Frist festgelegt werden. Im Rahmen des Strafverfahrens bilden Kriterien für die Angemessenheit der Verfahrensdauer etwa die Schwere des Tatvorwurfs, die Komplexität des Sachverhaltes, die dadurch gebotenen Untersuchungshandlungen, das Verhalten des Beschuldigten und dasjenige der Behörden (z.B. unnötige Massnahmen oder Liegenlassen des Falles) sowie die Zumutbarkeit für den Angeschuldigten (BGE 124 I 139 E. 2c S. 142; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, a.a.O., S. 201; ROBERT HAUSER/ERHARD SCHWERI, Schweizerisches Strafprozessrecht, 5. Aufl., Basel 2002, § 58 N. 6, mit zahlreichen Hinweisen).
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3.2 Diese Kriterien können nicht unbesehen auf den Strafvollzug angewendet werden: Einerseits gilt zwar das generelle Anliegen, dass Rechtsangelegenheiten nicht übermässig lange hinausgezögert werden sollen, auch für den Strafvollzug. Dem Strafurteil soll wirksam und rasch Nachachtung verschafft werden. Der Verurteilte soll nicht für etwas büssen, was weit zurück liegt, sondern einmal mit seiner Vergangenheit zum Abschluss kommen (RETO ANDREA SURBER, Das Recht der Strafvollstreckung, Zürich 1998, S. 227, 245, 250, 316).
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Andererseits müssen aber nach rechtsstaatlichen Grundsätzen rechtskräftige Urteile vollstreckt werden. Dies gilt insbesondere für Strafurteile (Art. 374 StGB). Ein Urteil nicht zu vollstrecken, ist gesetzwidrig und willkürlich (BGE 108 Ia 69 E. 2a; Pra 85/1996 Nr. 175 S. 643, E. 2; Urteil 1P.597/2002 vom 7. Januar 2003, E. 2.4). Aus ![]() ![]() | 14 |
Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Anliegen hat der Gesetzgeber eine Abwägung getroffen, indem er eine Vollstreckungsverjährung festgelegt hat (Art. 73 ff. StGB). Das Gesetz geht davon aus, dass eine rechtskräftige Strafe bis zum Ablauf dieser Dauer vollstreckt werden kann. Das Beschleunigungsgebot ist nicht deshalb schon verletzt, weil eine Strafe erst kurz vor dem Ende der Vollstreckungsverjährung vollzogen wird.
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3.3 Nach der Rechtsprechung kann zwar im Rahmen der Strafverfolgung das Beschleunigungsgebot auch dann verletzt sein, wenn die Verfolgungsverjährung noch nicht abgelaufen ist. Dies kann zur Konsequenz haben, dass (auch abgesehen von einer Strafmilderung gemäss Art. 64 StGB) eine Strafe zu reduzieren oder in Extremfällen sogar ein Verfahren einzustellen ist, auch wenn die Verjährung noch nicht eingetreten ist (BGE 122 IV 103 E. I.4 S. 111; 119 Ib 311 E. 5 S. 323; 117 IV 124 E. 4d und e; Urteil 6P.86/1998 vom 4. Dezember 1998, E. 4e). Dies kann aber nicht gleichermassen für den Strafvollzug gelten: Das Beschleunigungsgebot soll im Strafverfahren insbesondere verhindern, dass der Angeschuldigte unnötig lange Zeit über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe im Ungewissen belassen und den Belastungen eines Strafverfahrens ausgesetzt wird (BGE 124 I 139 E. 2a). Diese Überlegung gilt grundsätzlich im Rahmen des Strafvollzugs nicht: Der Verurteilte weiss, dass er die Strafe verbüssen muss. Insoweit besteht keine belastende Ungewissheit mehr. Dass Urteile zu vollstrecken sind, muss dem Verurteilten klar sein. Aus diesem Grund gelten für den Strafvollzug auch in anderer Hinsicht strengere Grundsätze als etwa für eine Untersuchungs- oder Sicherungshaft (BGE 108 Ia 69 E. 3).
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3.4 Anders kann es sich verhalten, wenn der Vollzug der Strafe noch ungewiss ist, weil - wie im vorliegenden Fall - mit Rücksicht auf eine angeordnete Behandlung die Strafe aufgeschoben wird, was bedeutet, dass auf deren Vollstreckung allenfalls auch verzichtet werden kann (Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB). Zusätzlich ist für den Vollzug aufgeschobener Strafen zu berücksichtigen, dass die Vollstreckungsverjährung erst mit der Anordnung des Strafvollzugs zu laufen beginnt (Art. 74 StGB; Urteil 1A.184/2002 vom 5. November ![]() ![]() | 17 |
Umgekehrt soll aber der Verurteilte auch nicht davon profitieren können, dass die Strafe zugunsten einer ambulanten Behandlung aufgeschoben worden ist. Wird der Vollzug noch innerhalb derjenigen Verjährungsfrist angeordnet, die gelten würde, wenn kein Strafaufschub angeordnet worden wäre, wird in der Regel keine Verletzung des Beschleunigungsgebots anzunehmen sein. Denn dieses wäre auch nicht verletzt, wenn gar kein Aufschub angeordnet worden wäre (vorne E. 3.2). Unzumutbar lange könnte allenfalls die Dauer einzelner Verfahrensschritte im Rahmen der Vollzugsanordnung sein.
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Erwägung 4 | |
4.
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4.1 Der Beschwerdeführer beanstandet mit Recht nicht, dass die einzelnen Verfahrensschritte, die zur Anordnung des Vollzugs geführt haben, namentlich das Verfahren vor Obergericht, zu lange gedauert hätten. Er macht aber geltend, der gesamte Zeitraum zwischen den von ihm begangenen Delikten und der Anordnung des Vollzugs sei zu lange. Der Hauptharst der ihm vorgeworfenen Delikte falle in den Zeitraum 1984-1986, weitere Delikte in die Zeit zwischen 1989 und 1990. Die strafgerichtliche Hauptverhandlung habe am 13. September 1991 stattgefunden, die schriftliche Urteilsbegründung sei erst am 7. September 1993 zugestellt worden. Danach hätten die Behörden kaum etwas unternommen, um die angeordnete ambulante Therapie durchzuführen. Nur von Juni bis August 1994 habe eine gewisse Betreuungstätigkeit stattgefunden, ab 1996 sei die Verbindung zwischen dem Beschwerdeführer und dem Schutzaufsichtsamt abgebrochen. Erst im Jahre 2000 sei er von den Vollzugsbehörden mehr oder weniger zufällig wieder entdeckt worden. Angesichts dieser krassen Verletzung des Beschleunigungsgebots bestehe kein Anspruch mehr auf Vollzug der ausgefällten Freiheitsstrafe. ![]() | 20 |
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4.3 Das Obergericht hat mit seinem Urteil vom 25. Juni 2002, mit welchem es die erste Vollzugsanordnung aufhob, selber ausgeführt, im vorliegenden Fall schienen weder die konkrete Durchführung der ambulanten Therapie noch die Schutzaufsicht funktioniert zu haben. Mit der angeordneten Massnahme sei im Grunde gar nicht richtig begonnen worden. Unter Berücksichtigung dieser unglücklichen Umstände wäre es unverhältnismässig, die ausgesprochene Strafe zu vollziehen, ohne dem Beschwerdeführer einen allerletzten Versuch zu gewähren. Dies stelle die allerletzte Möglichkeit dar, den Vollzug der ausgesprochenen Strafe abzuwenden. Das Gesetz sei damit bis an seine Grenzen ausgereizt. Der Beschwerdeführer müsse sich im Klaren sein, dass der Erfolg der ambulanten Massnahme in erster Linie von seinem Verhalten abhänge; es ergehe der Appell an ihn, diese letzte Chance ernsthaft wahrzunehmen.
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Im jetzt angefochtenen Beschluss vom 18. November 2003 führt das Obergericht aus, die ambulante Behandlung sei nun letztlich und massgeblich am Verhalten des Beschwerdeführers gescheitert. Die Verteidigung bestreite dies denn auch nicht.
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4.4 Der Beschwerdeführer rügt diese zuletzt zitierte Darstellung als aktenwidrig und willkürlich: In der Vernehmlassung vom 30. Mai 2003 sei klar hervorgehoben worden, dass nicht der Beschwerdeführer, sondern die mit dem Vollzug der Massnahme betrauten Instanzen versagt hätten. - An der zitierten Stelle der Vernehmlassung hatte der Beschwerdeführer kritisiert, dass zwischen dem Strafurteil von 1991 und der Wiederaufnahme der Betreuung im Jahre ![]() ![]() | 24 |
All diese Aspekte wurden tatsächlich von der Verteidigung weder in der Vernehmlassung vom 30. Mai 2003 noch anlässlich der Verhandlung vom 18. November 2003 bestritten; die Verteidigung konzentrierte sich darauf, die lange Dauer seit dem Strafurteil bzw. den Straftaten zu kritisieren. Die beanstandete Aussage des Obergerichts ist somit nicht willkürlich, sondern im Gegenteil durch die Akten bestätigt.
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4.5 Die Begründung des Obergerichts erweist sich aber auch materiell als verfassungskonform: Das Obergericht hat nämlich in seinem ersten Entscheid vom 25. Juni 2002 der damals nicht unbegründeten Kritik des Beschwerdeführers Rechnung getragen und mit Rücksicht darauf, dass die 1991 angeordnete Behandlung und Schutzaufsicht während Jahren nie richtig funktioniert haben, auf eine Anordnung des Strafvollzugs verzichtet. Insoweit hat es der Rüge des Beschwerdeführers im Ergebnis Rechnung getragen. Es hat diesem indessen klar gemacht, dass dies für ihn eine letzte Chance darstelle. In der Folge ist seitens der Behörden ohne weitere Verzögerung das Notwendige und Zumutbare vorgekehrt worden, um dem Beschwerdeführer zu ermöglichen, diese Chance wahrzunehmen. In dieser Phase kann jedenfalls von einer Vernachlässigung behördlicher Pflichten keine Rede sein. Der Beschwerdeführer behauptet dies auch nicht. Im jetzt angefochtenen Entscheid hat das ![]() ![]() ![]() | 26 |
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