![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Philippe Dietschi | |||
![]() | ![]() |
9. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Schlumpf gegen SWICA Krankenversicherung AG (Revisionsgesuch) |
9F_9/2009 vom 15. September 2010 | |
Regeste |
Art. 46 Ziff. 1, Art. 6 und 8 EMRK; Art. 122 BGG; Art. 25 Abs. 1 und Art. 32 KVG; Transsexualismus; Geschlechtsanpassungsoperation; Kostenübernahme durch die obligatorische Krankenversicherung. |
Umsetzung des EGMR-Entscheids vom 8. Januar 2009 betreffend Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 110/05 vom 5. Dezember 2005: Voraussetzungen und Modalitäten der Revision nach Art. 122 BGG (E. 3, 7-9). |
Auslegung und Konkretisierung sozialversicherungsrechtlicher Leistungsansprüche: Grenzen der Rechtsprechungszuständigkeit des EGMR (E. 7.3.3). | |
Sachverhalt | |
1 | |
A.a Am 30. November 2004 unterzog sich die 1937 als Max geborene Nadine Schlumpf einer Geschlechtsanpassungsoperation. Mit Verfügung vom 23. Dezember 2004 und bestätigendem Einspracheentscheid vom 16. Februar 2005 verneinte die SWICA Gesundheitsorganisation (nachfolgend: SWICA) - wie auf Gesuch um Kostengutsprache hin bereits mit Schreiben vom 29. November 2004 mitgeteilt - ihre Kostenvergütungspflicht aus obligatorischer Krankenpflegeversicherung. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die dagegen erhobene Beschwerde der Versicherten gut, hob den Einspracheentscheid vom 16. Februar 2005 auf und wies die Sache an die SWICA zurück, damit sie zusätzliche Abklärungen im Sinne der Erwägungen treffe (Entscheid vom 21. Juni 2005). Auf die Durchführung der im kantonalen Verfahren ursprünglich beantragten öffentlichen Verhandlung hatte die Versicherte verzichtet, nachdem ihr das Versicherungsgericht zu erkennen gegeben hatte, dass es die Angelegenheit zwecks ergänzender Beweisvorkehren an den Versicherer zurückzuweisen gedenke; die Gültigkeit des Verzichts war explizit ausgeschlossen worden für den Fall, dass die Beschwerdesache an das Eidg. Versicherungsgericht oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (nachfolgend: EGMR) resp. nach erneutem Entscheid des Versicherers abermals an das kantonale Versicherungsgericht gelangen würde.
| 2 |
A.b Gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 21. Juni 2005 erhob die SWICA am 25. Juli 2005 Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim damaligen Eidg. Versicherungsgericht (EVG), welches die Beschwerde mit Urteil vom 5. Dezember 2005 guthiess und den angefochtenen Entscheid aufhob (Verfahren K 110/05); dem Antrag von Nadine Schlumpf auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung gab das Gericht nicht statt. ![]() | 3 |
![]() | 4 |
Die Schweiz beantragte am 8. April 2009 die Verweisung der Rechtssache an die Grosse Kammer, was deren Ausschuss am 5. Juni 2009 ablehnte.
| 5 |
C. Am 5. Oktober 2009 liess Nadine Schlumpf beim Bundesgericht ein Revisionsgesuch stellen mit dem Rechtsbegehren, es sei das Urteil des EVG vom 5. Dezember 2005 aufzuheben (Antrag Ziff. 1) und festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Übernahme der Kosten der Geschlechtsangleichungsoperation der Antragstellerin durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung erfüllt seien (Antrag Ziff. 2); eventualiter sei das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 21. Juni 2005 zu bestätigen (Antrag Ziff. 3); zudem sei eine öffentliche Parteiverhandlung anzuordnen.
| 6 |
Das Bundesamt für Gesundheit, das Versicherungsgericht des Kantons Aargau sowie die SWICA haben auf eine Stellungnahme verzichtet.
| 7 |
D. Am 15. September 2010 führte das Bundesgericht eine öffentliche Parteiverhandlung und Urteilsberatung durch.
| 8 |
Das Bundesgericht heisst das Revisionsgesuch gut.
| 9 |
Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
10 | |
![]() | 11 |
Erwägung 3 | |
3.1 Art. 122 BGG steht in direktem Bezug zu Art. 46 Ziff. 1 EMRK: Diese Bestimmung verpflichtet die Vertragsstaaten, die endgültigen Urteile des EGMR zu befolgen; der betreffende Staat muss eine festgestellte Konventionsverletzung, soweit sie fortdauert, beseitigen und die beschwerdeführende Partei soweit möglich in die Lage versetzen, in der sie sich ohne die Konventionsverletzung befände ("restitutio in integrum"; BGE 136 I 158 E. 2.3 und 3 S. 164; BGE 120 V 150 E. 3b/cc S. 159; Urteile des EGMR Verein gegen Tierfabriken gegen Schweiz vom 30. Juni 2009 §§ 85 f.; Assanidzé gegen Georgien vom 8. April 2004, Recueil CourEDH 2004-II S. 55 § 198; FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, N. 6 zu Art. 46 EMRK; JÖRG POLAKIEWICZ, The Execution of Judgements of the European Court of Human Rights, in: Fundamental Rights in Europe - The European Convention and its Member States 1950-2000, Blackburn/Polakiewicz [Hrsg.], 2005, S. 57 ff.). Das Ministerkomitee überwacht den Vollzug der Urteile des Gerichtshofs (Art. 46 Ziff. 2 EMRK; Urteil Verein gegen Tierfabriken, §§ 61, 84); die konkrete Art und Weise der Wiederherstellung des konventionskonformen Zustands bleibt jedoch grundsätzlich Sache des innerstaatlichen Rechts (Urteil Verein gegen Tierfabriken, § 88; Unzulässigkeitsentscheid Lyons und andere gegen Vereinigtes Königreich vom 8. Juli 2003, Recueil CourEDH 2003-IX S. 431; CHRISTOPH GRABENWARTER, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, S. 93 f. Nr. 3; SOLVEIG HASS, Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 2006, S. 71 f.; HEIKO SAUER, Die neue Schlagkraft der gemeineuropäischen Grundrechtsjudikatur, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht [ZaöRV] 65/2005 S. 35 ff., 39 f.; MARK E. VILLIGER, Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ZSR 127/2008 I S. 453 ff., 469). Mit der Möglichkeit der innerstaatlichen Revision bundesgerichtlicher Urteile ![]() ![]() | 12 |
Erwägung 3.2 | |
13 | |
3.2.2 Eine Entschädigung im Sinne von Art. 122 lit. b BGG ist namentlich die "gerechte Entschädigung" nach Art. 41 EMRK, welche der EGMR zusprechen kann, wenn er eine Konventionsverletzung festgestellt hat und das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung gestattet. Hat der EGMR eine die Folgen der Konventionsverletzung ausgleichende Entschädigung zugesprochen, besteht für die Revision des bundesgerichtlichen Urteils kein Anlass mehr; möglich bleibt diese nur insoweit, als sie geeignet und erforderlich ist, um über die finanzielle Abgeltung hinaus fortbestehende, konkrete nachteilige Auswirkungen der Konventionsverletzung im Rahmen des ursprünglichen Verfahrens zu beseitigen. Stehen materielle Interessen zur Diskussion, bezüglich welcher die Konventionsverletzung zwar mit einer Entschädigung grundsätzlich vollständig gutgemacht werden könnte, hat der EGMR aber eine Entschädigung abgelehnt, weil ein Schaden fehlt, oder hat er sich mangels eines entsprechenden Begehrens über das Vorliegen eines Schadens nicht ausgesprochen, so kommt die Revision durch das Bundesgericht nicht mehr in Frage (vgl. zum Ganzen: BGE 125 III 185 E. 3 S. 188; BGE 123 I 283 E. 3a S. 287; Pra 2007 Nr. 49 S. 311, 6S.362/2006 E. 2; Urteil 2A.363/2001 vom 6. November 2001 E. 3a/bb; YVES DONZALLAZ, Loi sur le Tribunal fédéral, 2008, N. 4682 zu Art. 122 BGG; ELISABETH ESCHER, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 5 zu Art. 122 BGG; PIERRE FERRARI, in: Commentaire ![]() ![]() | 14 |
15 | |
4. Anfechtungsgegenstand im Verfahren vor dem EGMR war das EVG-Urteil K 110/05 vom 5. Dezember 2005. Strittig war dort nicht die Durchführung der Geschlechtsanpassung als solche, sondern einzig der Anspruch der Versicherten auf Übernahme der entsprechenden Operationskosten durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung. Mit dem erwähnten EVG-Urteil wurde - ohne vorgängige öffentliche Verhandlung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK - der auf Rückweisung der Streitsache an die Krankenkasse lautende Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 21. Juni 2005 aufgehoben und der umstrittene Kostenvergütungsanspruch abschliessend verneint. Übereinstimmend mit der Krankenkasse begründete das EVG die definitive Leistungsverweigerung damit, der operative Eingriff sei vor Ablauf der gemäss - (damals) zuletzt mit RKUV 2004 S. 392 f., K 142/03 E. 2.2 bestätigter - Rechtsprechung des EVG vorausgesetzten zweijährigen Beobachtungszeit vorgenommen worden (Urteil K 110/05 vom 5. Dezember 2005 E. 3.3 und 3.5); letztere soll nach konstanter Praxis mittels Alltagstests, medizinischer Untersuchungen und Massnahmen (insbesondere psychiatrisch-psychotherapeutischer und endokrinologischer Art) zuverlässig Gewissheit darüber verschaffen, dass ein schwerer Fall von echtem - d.h. gemäss Art. 25 KVG krankheitswertigem - Transsexualismus vorliegt, der mit Psychotherapie und Hormontherapie allein nicht angegangen werden kann und somit den chirurgischen Eingriff - im Sinne der Leistungsvoraussetzungen der Wirksamkeit und Zweckmässigkeit (Art. 32 Abs. 1 KVG) - tatsächlich erfordert (vgl. BGE 114 V 162 E. 4 S. 167). Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hatte in seinem vom EVG aufgehobenen Entscheid vom 21. Juni 2005 argumentiert, die zweijährige Beobachtungszeit dürfe nicht als conditio sine qua non für die Diagnose des echten Transsexualismus und die Bejahung der Operationsnotwendigkeit verstanden werden. Im erwähnten Urteil K 110/05 hielt das EVG dagegen, es bestehe auch unter Berücksichtigung des aktuellen Standes ![]() ![]() | 16 |
17 | |
18 | |
5.2 Des Weitern erblickte der EGMR in der Ablehnung des Beweisantrags der Versicherten auf Anhörung der von ihr genannten ![]() ![]() | 19 |
5.3 Schliesslich stellte der Gerichtshof (mit 5 zu 2 Stimmen) eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) fest: Diese Bestimmung schütze gemäss EGMR-Rechtsprechung u.a. das Recht auf geschlechtliche Identität und sexuelle Selbstbestimmung; sie garantiere namentlich auch die persönliche Entfaltung sowie die psychische und geistige Integrität der Transsexuellen (Urteil Schlumpf, §§ 77, 100 f. mit Hinweisen auf die EGMR-Rechtsprechung). Mit Bezug auf den konkreten Fall anerkannte der Gerichtshof, dass der Beschwerdeführerin weder die Geschlechtsumwandlungsoperation als solche noch die juristische Anerkennung ihres neuen Geschlechts verwehrt worden war, Art. 8 EMRK mithin insoweit nicht tangiert ist. Er stellte ebenfalls ausdrücklich klar, dass sich aus dem Recht auf Privatleben - und aus allen übrigen Konventionsgarantien - kein Anspruch auf Rückerstattung der Kosten einer Geschlechtsumwandlung ergibt (Urteil Schlumpf, § 77). Unter dem Blickwinkel von Art. 8 EMRK sei im zu beurteilenden Fall zentrale Frage einzig (§ 108; Hervorhebung nicht im Original):
| 20 |
"... celle de l'application faite par le Tribunal fédéral des assurances des conditions de prise en charge des frais médicaux lorsqu'il a eu à se prononcer sur la demande de la requérante de se faire reconnaître un droit au remboursement pour les frais liés à une opération de conversion sexuelle." ![]() | 21 |
![]() | 22 |
"115. Le respect de la vie privée de la requérante aurait exigé la prise en compte des réalités médicale, biologique et psychologique, exprimées sans équivoque par l'avis des experts médicaux, pouréviter une application mécanique du délai de deux ans. La Cour en conclut que, euégardà la situation très particulière dans laquelle se trouvait la requérante - âgée de plus de 67 ans au moment de sa demande de prise en charge des frais liés à l'opération -, et compte tenu de la marge d'appréciation étroite dont l'Etat défendeur bénéficiait s'agissant d'une question touchant à l'un des aspects les plus intimes de la vie privée, un justeéquilibre n'a pasété ménagé entre les intérêts de la compagnie d'assurance, d'une part, et les intérêts de la requérante, d'autre part."
| 23 |
24 | |
5.5 Unter dem Titel der "gerechten Entschädigung" gemäss Art. 41 EMRK (E. 3.2 hievor) stellte der EGMR fest, die Beschwerdeführerin habe keinen materiellen Schaden geltend gemacht, sondern die Zusprechung von Fr. 43'000.- (im Urteilszeitpunkt: rund 28'841 Euro) unter dem Titel des immateriellen Schadens (dommage moral) verlangt. Der Gerichtshof prüfte daher das Vorliegen eines materiellen Schadens nicht näher. Er erachtete es jedoch als indiskutabel, dass die Versicherte durch den Verfahrensmangel und die ![]() ![]() | 25 |
26 | |
27 | |
Erwägung 7 | |
7.1 Ob die im EGMR-Urteil weiter festgestellten Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK und des Anspruchs auf Achtung des Privatlebens gemäss Art. 8 Ziff. 1 EMRK (E. 5.2 und 5.3 hievor) einen - zusätzlich zur entschädigten moralischen Unbill - auszugleichenden materiellen Schaden der Versicherten bewirkt haben, hat der EGMR nicht geprüft. Er ![]() ![]() | 28 |
7.2 Die Gesuchstellerin ist durch die definitive Leistungsverweigerung im EVG-Urteil vom 5. Dezember 2005 in ihren materiellen Interessen insoweit tangiert, als sie die Kosten der am 30. November 2004 durchgeführten Geschlechtsanspassung definitiv nicht von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vergütet erhielt. Dieser vermögensrechtliche Nachteil wird durch die vom EGMR allein für immateriellen Schaden (moralische Unbill) zugesprochene Entschädigung nicht ausgeglichen. Im Hinblick auf die Wiederherstellung ![]() ![]() | 29 |
Erwägung 7.3 | |
30 | |
7.3.2 Der EGMR hat in § 122 seines Urteils die Frage nach dem Ausgang des EVG-Verfahrens ohne Konventionsverletzung offengelassen. Er hat aber, wie ausgeführt, für das Bundesgericht verbindlich festgestellt, das EVG hätte der Versicherten nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK den Nachweis ermöglichen müssen, dass die Geschlechtsanpassung vor Ablauf der von der Rechtsprechung verlangten zweijährigen Beobachtungsphase medizinisch notwendig war, und das EVG habe die Zweijahres-Regel in einer Art. 8 EMRK zuwiderlaufenden mechanischen Weise angewandt resp. es konventionswidrig unterlassen, im Hinblick auf eine mögliche Ausnahme von der Regel eine Einzelfallprüfung vorzunehmen (E. 5.2 und 5.3 hievor). Damit unterstellt der EGMR zwingend , dass das EVG-Verfahren bei ![]() ![]() | 31 |
Erwägung 7.3.3 | |
7.3.3.1 Der EGMR ist gemäss seiner eigenen, konstanten Rechtsprechung nicht zuständig für die richtige Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts; es steht ihm namentlich nicht zu, eine (willkürfreie) innerstaatliche Interpretation des Landesrechts durch seine eigene zu ersetzen (so ausdrücklich Urteil Schlumpf, §§ 111 und 51 mit zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung). Der EGMR hat nur, aber immerhin, zu überprüfen, ob das nationale Recht, so wie es von den letztinstanzlichen innerstaatlichen Behörden (Art. 35 Abs. 1 EMRK) ausgelegt und angewendet wird, die in der Konvention festgelegten Rechte verletzt (Art. 32 und 34 EMRK).
| 32 |
7.3.3.2 Es steht ausser Frage, dass Art. 8 EMRK den Anspruch Transsexueller auf sexuelle Identität und Selbstbestimmung über den eigenen Körper, einschliesslich das Recht auf Geschlechtsumwandlung und deren juristische Anerkennung schützt (Urteile des EGMR Christine Goodwin gegen Vereinigtes Königreich vom 11. Juli 2002, Recueil CourEDH 2002-VI S. 45 §§ 71 ff.; Grant gegen Vereinigtes Königreich vom 23. Mai 2006, Recueil CourEDH 2006-VII S. 19 §§ 39 ff.; L. gegen Litauen vom 11. September 2007 §§ 56 ff.; Van Kück gegen Deutschland vom 12. Juni 2003 §§ 69 ff.; FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, N. 13 f. zu Art. 8 EMRK; GRABENWARTER, a.a.O., S. 200 Nr. 8; STEPHAN BREITENMOSER, Die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK, in: EMRK: neuere Entwicklungen, Daniel Thürer [Hrsg.], 2005, S. 125 ff.). Der im EVG-Verfahren einzig umstrittene sozialversicherungsrechtliche Kostenvergütungsanspruch aus obligatorischer Krankenpflegeversicherung ergibt sich hingegen - auch nach Auffassung des EGMR (vgl. E. 5.3 hievor) - nicht aus Art. 8 EMRK und auch nicht aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK; letztere Verfahrensnorm hat insbesondere nicht die Ausgestaltung der konkreten materiellrechtlichen Voraussetzungen sozialversicherungsrechtlicher Leistungsansprüche zum Gegenstand. Das EVG hatte daher die damalige ![]() ![]() ![]() | 33 |
7.3.3.3 Nach dem vorstehend Gesagten konnte und musste sich das EVG im Urteil vom 5. Dezember 2005 mit den von der Versicherten angebotenen Beweisen und geltend gemachten Umständen nicht befassen, da ihnen im Lichte der konkretisierenden innerstaatlichen Auslegung des Art. 25 in Verbindung mit Art. 32 Abs. 1 KVG die Rechtserheblichkeit abzusprechen war, sie mithin auch nicht dem Recht, zum Beweis zugelassen zu werden (Art. 29 Abs. 2 BV), unterstanden (vgl. BGE 134 I 140 E. 5.3 S. 148; BGE 131 I 153 E. 3 S. 157 mit Hinweisen; Urteil 4A_479/2009 vom 23. Dezember 2009 E. 3.1; ferner - mit Bezug auf Art. 8 ZGB - BGE 129 III 18 E. 2.6 S. 24 mit Hinweisen). Indem der EGMR im Urteil vom 8. Januar 2009 gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 und Art. 8 EMRK eine an den spezifischen Umständen des Einzelfalls orientierte Betrachtungsweise verlangt, die allenfalls eine Ausnahme von der "Zweijahres-Regel" zu begründen vermöchte, hat er in concreto über eine (juristische) Frage der Rechtserheblichkeit entschieden, deren Beantwortung im versicherungsrechtlichen Kontext von den massgebenden innerstaatlichen Rechtsnormen abhängt. Im Ergebnis hat er damit - auch als Konsequenz einer fliessenden Grenzziehung zwischen Verfahrensansprüchen nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK einerseits und positiven Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK andererseits (vgl. dazu GEROLD STEINMANN, Der Schweizer Praktiker vis-à-vis von EMRK und EGMR, in: EMRK und die Schweiz, Breitenmoser/Ehrenzeller [Hrsg.], 2010, S. 252 ff.) - materiellrechtlich Einfluss genommen auf die landesrechtliche Ausgestaltung einer obligatorischen Sozialversicherungsleistung, auf welche die EMRK selbst keinen Anspruch gibt. Man könnte sich fragen, ob der EGMR damit nicht seine ihm in den Art. 19 und 34 EMRK übertragenen Zuständigkeiten überschritten hat.
| 34 |
7.3.4 Das Bundesgericht hat die im EGMR-Urteil vom 8. Januar 2009 festgestellten Konventionsverletzungen nach Massgabe von ![]() ![]() | 35 |
Erwägung 8 | |
36 | |
8.2 Dem im Grunde nicht auf ein letztinstanzliches Feststellungs-, sondern auf ein direktes Leistungsurteil zielenden Antrag der ![]() ![]() | 37 |
8.3 In seinem Entscheid vom 21. Juni 2005 hat das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Sache an die SWICA zurückgewiesen. Es ordnete ergänzende medizinische Abklärungen an zur seines Erachtens nicht rechtsgenüglich geklärten Frage, ob im Zeitpunkt der Geschlechtsumwandlungsoperation im November 2004 ein Transsexualismus vorgelegen habe, der mit Psychotherapie und Hormontherapie nicht angegangen werden könne. Die SWICA habe abzuklären, ob der chirurgische Eingriff die einzige Möglichkeit zur namhaften Verbesserung des psychischen Gesundheitszustandes gewesen war. Dazu sei entweder bei einem unabhängigen Sachverständigen aus dem Fachbereich des Transsexualismus ein Gutachten anzuordnen, oder es seien von den behandelnden Ärzten ergänzende Berichte einzuverlangen, welche sich zu den vom Gericht im Einzelnen formulierten Fragen zu äussern hätten. Mit seinem ![]() ![]() | 38 |
Erwägung 9 | |
9.1 Mit der Bestätigung des kantonalen Rückweisungsentscheids vom 21. Juni 2005 hat die Verwaltung gemäss Dispositiv-Ziff. 1 des Erkenntnisses "im Sinne der Erwägungen zu verfahren". Der Verweis auf die Erwägungen bezieht sich auf die in E. 3b/ee und 3c des Entscheids angeordneten Beweisvorkehren (vgl. E. 8.3 hievor) und die gestützt auf das Beweisergebnis erneut zu treffende Entscheidung in der Sache. Soweit das kantonale Gericht in E. 2 seines Entscheids allgemein festhält, das Erfordernis der zweijährigen Beobachtungsphase vor einer Geschlechtsumwandlungsoperation sei nicht "conditio sine qua non" für die obligatorische Leistungspflicht der ![]() ![]() | 39 |
9.2 Aus der bundesgerichtlichen Bestätigung des kantonalen Entscheids folgt indessen nicht ohne Weiteres eine Abkehr von der in BGE 114 V 153 (vgl. BGE 114 V 162) begründeten Rechtsprechung dahingehend, dass in Fällen der operativen Behandlung des Transsexualismus die "Zweijahres-Regel" unter dem Blickwinkel von Art. 25 in Verbindung mit Art. 32 Abs. 1 KVG künftig hinfällig wäre. Dazu verpflichtet namentlich das EGMR-Urteil vom 8. Januar 2009 nicht (E. 7.2 hievor). Wohl hat der Gerichtshof in § 113 seines Urteils seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass die Medizin seit dem im Jahre 1988 ergangenen BGE 114 V 153 Fortschritte in der Feststellung der "Echtheit" ("veracité") des Transsexualismus einer Person gemacht hat, welchen das EVG-Urteil nicht Rechnung getragen habe. Er hat aber zugleich auch klargestellt, dass mit der zweijährigen Wartefrist ein sowohl aus Sicht der betroffenen Personen wie auch der Versicherungen legitimes Ziel - die Verhinderung übereilter irreversibler Geschlechtsumwandlungen - verfolgt wird (Urteil Schlumpf, § 111). Prüft man das Erfordernis einer insgesamt (unter Einschluss von Alltagstests in der angestrebten Geschlechtsrolle sowie begleitenden psychiatrischen und endokrinologischen Behandlungen) mindestens zweijährigen Beobachtungsphase im Lichte aktueller - namentlich der im Revisionsgesuch sowie im heutigen öffentlichen Parteivortrag zitierten - Behandlungsrichtlinien, zeigt sich folgendes Bild: Gemäss Vorgaben der Psychiatrischen Poliklinik Zürich soll aus medizinischer Sicht eine geschlechtsangleichende Operation "frühestens" nach eineinhalb Jahren psychotherapeutischer Behandlung, eineinhalb Jahren Alltagstest und sechs Monaten Hormonbehandlung erfolgen (Universitätsspital Zürich, Psychiatrische Klink, Infoblatt Transsexualismus, S. 1; http://www.psychiatrie.usz.ch/PatientenUndBesucher/Spezialangebot/Transsexualismus/Seiten/default.aspx). Die im deutschsprachigen Raum verbreitet beachteten "Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen" der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, der Akademie für Sexualmedizin und der Gesellschaft für Sexualwissenschaft aus dem Jahre 1997 (Zentralblatt für Gynäkologie 119/1997 S. 398-401) fordern u.a., dass der Patient/die Patientin - nach gesicherter psychiatrischer Diagnose des Transsexualismus - das Leben in der gewünschten Geschlechterrolle "mindestens" seit ![]() ![]() | 40 |
"XII. Genital Surgery
| 41 |
Eligibility Criteria. These minimum eligibility criteria for various genital surgeries equally apply to biologic males and females seeking genital surgery. They are:
| 42 |
Legal age of majority in the patient's nation;
| 43 |
Usually 12 months of continuous hormonal therapy for those without a medical contraindication (...);
| 44 |
12 months of successful continuous full time real-life experience. Periods of returning to the original gender may indicate ambivalence about proceeding and generally should not be used to fulfill this criterion;
| 45 |
If required by the mental health professional, regular responsible participation in psychotherapy throughout the real-life experience at a frequency determined jointly by the patient and the mental health professional. Psychotherapy per se is not an absolute eligibility criterion for surgery;
| 46 |
(...).
| 47 |
Readiness Criteria. The readiness criteria include:
| 48 |
Demonstrable progress in consolidating one's gender identity;
| 49 |
Demonstrable progress in dealing with work, family, and interpersonal issues resulting in a significantly better state of mental health (this implies satisfactory control of problems such as sociopathy, substance abuse, psychosis, suicidality, for instance)."
| 50 |
Die Richtlinien der amerikanischen "Endocrine Society" (2009) sehen ebenfalls eine - erst nach erstellter Diagnose des Transsexualismus ![]() ![]() | 51 |
Der nach den erwähnten - fachärztlicherseits als Mindeststandards verstandenen - Richtlinien vor einer Geschlechtsumwandlung gebotene Behandlungszeitraum liegt nicht wesentlich unter der von der EVG-Rechtsprechung im Jahre 1988 (aufgrund des damaligen Standes der medizinischen Wissenschaft) geforderten Beobachtungszeit von insgesamt mindestens zwei Jahren. Am Erfordernis der mindestens zweijährigen medizinisch-praktischen Beobachtungsphase ist daher grundsätzlich festzuhalten, da damit nach wie vor eine verlässliche faktische Basis sichergestellt ist für die abschliessende Beurteilung der Frage, ob im konkreten Fall die folgenschwere Geschlechtsanpassungsoperation die einzige wirksame und zweckmässige Behandlungsmassnahme zur namhaften Verbesserung des psychischen Gesundheitszustands der betroffenen Person bilde und die obligatorische Krankenpflegeversicherung deshalb gestützt auf Art. 25 in Verbindung mit Art. 32 KVG kostenvergütungspflichtig sei. Mit Blick auf die Vorgaben im EGMR-Urteil vom 8. Januar 2009, aber auch im Lichte der oben erwähnten, ihren blossen Richtwertcharakter hervorhebenden Richtlinien muss allerdings im Einzelfall ein ausnahmsweises (vgl. Urteil Schlumpf, §§ 56 und 112) Abweichen vom Grundsatz möglich bleiben: Ist aufgrund der verfügbaren, in Beachtung anerkannter medizinischer Behandlungsstandards abgegebenen spezialärztlichen Stellungnahmen und gutachterlichen Expertenmeinungen bereits vor Ablauf der zweijährigen Beobachtungsphase erwiesen, dass eine Geschlechtsangleichungsoperation unter den ![]() ![]() ![]() | 52 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |