BGE 45 II 548 - Künstliche Süsstoffe | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: A. Tschentscher, Simone Jampen | |||
Urteil der I. Zivilabteilung |
vom 30. Oktober 1919 |
i. S. Studer gegen Scherrer |
Art. 20 OR Nichtigkeit eines Kaufgeschäftes wegen Verletzung des Bundesratsbeschlusses betr. künstliche Süsstoffe vom 6. Juli 1917 -- Voraussetzung der Anwendbarkeit des Art. 20 OR? | |
Sachverhalt | |
A. | |
Laut Bundesratsbeschluss vom 6. Juli 1917 müssen Mischungen künstlicher Süsstoffe mit anderen Substanzen mindestens 20% des reinen Süsstoffes enthalten.
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Am 26. Juli 1917 lieferte der Beklagte Studer dem Kläger Scherrer, der ihm am 21. Juli 1917 "Saccharin wie gehabt" bestellt hatte, 40 Kartons zu 135 Schächtelchen Saccharintabletten, die jedoch nur einen Süssigkeitsgehalt von 4,3 bis 4,6% hatten. Mit dem Hinweis darauf, dass die Kunden ihm die Ware als minderwertig retourniert, schickte in der Folge der Kläger nach vorausgegangenem Briefwechsel 39 von den 40 Schachteln zurück und lagerte sie, als der Beklagte die Annahme verweigerte, im Lagerhaus Gmür in Luzern ein.
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B. | |
Am 20. Oktober 1917 reichte der Kläger gegen den Beklagten Strafklage wegen Betruges und Wuchers und am 27. April 1918 die vorliegende Zivilklage ein, mit der er Aufhebung des Kaufvertrages und 2300 Fr. 20 Cts. Schadenersatz verlangt.
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Er stellt sich auf den Standpunkt, es liege ein zivilrechtlicher Betrug vor, weil der Beklagte ihm arglistigerweise dem zitierten Bundesratsbeschluss nicht entsprechendes Saccharin und ferner Schächtelchen à nur 69 bis 94 statt 95 bis 100 Tabletten geliefert und zudem einen nahezu 100% höheren Preis verlangt habe als er selber seinem Verkäufer habe bezahlen müssen. Eventuell sei die Anfechtung wegen Irrtums zulässig und auf alle Fälle, d.h. ob man Betrug oder Irrtum annehme, müsse der Beklagte nach Art. 41 OR Schadenersatz leisten.
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Der Beklage wies die Begehren des Klägers als unbegründet zurück, indem er erklärte, sein Lieferant habe ihm gesagt, es sei ihm seitens des Volkswirtschaftsdepartements die Erlaubnis erteilt worden, das noch lagernde, dem zitierten Bundesratsbeschluss nicht entsprechende Saccharin noch zu verkaufen. Mit der Fabrikation und Verpackung habe er sich nicht befasst. Daraus ergebe sich, dass beim Wiederverkauf durch ihn ein Betrug nicht vorliegen könne. Es sei auch gar nicht richtig, dass er den Kläger getäuscht. Von einem wesentlichen Irrtum sodann könne schon deswegen nicht die Rede sein, weil der Kläger ja Ware "wie gehabt" bestellt habe, dementsprechend sei ihm eben Saccharin geliefert worden, wie er es früher bezogen. Endlich sei die vom Kläger erhobene Mängelrüge, weil verspätet, nicht mehr zu berücksichtigen.
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C. | |
Die Vorinstanz hiess in Bestätigung des vom Amtsgericht Luzern erstinstanzlich gefällten Urteils die Klage im Betrage von 2161 Fr. 55 Cts. nebst Zins gut, indem sie den streitigen Kaufvertrag wegen Betruges als für den Kläger unverbindlich und den Beklagten gemäss Art. 41 OR schadenersatzpflichtig erklärte. Sie sah den Betrug des Beklagten darin, dass er den Kläger über den Mindergehalt der Ware nicht aufgeklärt habe. Auch wenn der Kläger Ware "wie gehabt" bestellt, habe er doch zweifellos handelsfähiges also nicht gegen die bundesrätliche Verordnung verstossendes Saccharin kaufen wollen. Entschuldigen könne den Beklagten auch nicht, und darum sei eine diesbezüglich beantragte Beweisergänzung abzulehnen, wenn sich seine Behauptung als wahr erweisen würde, sein Verkäufer habe ihm vorgespiegelt, vom Volkswirtschaftsdepartement eine Bewilligung zum Ausverkauf des nicht verordungsgemässen Saccharins erhalten zu haben. Hievon hätte er seinem Abnehmer auf alle Fälle Mitteilung machen müssen. Was sodann die Schadensberechnung anbelange, so habe die erste Instanz in zutreffender Würdigung der einzelnen Faktoren die Ersatzsumme auf 2161 Fr. 55 Cts. festgesetzt.
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D. | |
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten, mit der er Abweisung der Klage und eventuell Einstellung des Zivilprozesses bis zur Erledigung des Strafverfahrens verlangt.
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Zur Begründung dieser Anträge hat der Beklagte in seiner Berufungsschrift auf die Berufungsbegründung in einem anderen Prozess Studer gegen Schweizer verwiesen und sodann im einzelnen bestritten, dass der Kläger sog. Bundesware bestellt habe. Vielmehr habe er Ware "wie gehabt", d.h. schlechtere, verlangt. Dem Kläger sei der fragliche Bundesratsbeschluss auch bekannt gewesen, wenn er daher trotzdem Ware "wie gehabt" gekauft habe, so zeige das, dass er sich mit dem Minderwert des Saccharins abgefunden. Übrigens sei Saccharin mit weniger als 20% Süssigkeitsgehalt auch nach Erlass des Bundesratsbeschlusses im Handel gesucht gewesen. Aus all dem ergebe sich, dass ein Betrug nicht voliege. Er, Beklagter, habe keinerlei Täuschungshandlungen vorgenommen und auch eine Verletzung der im Verkehr gebotenen Aufklärungspflicht könne ihm nicht vorgeworfen werden. Was sodann die übrigen Einwendungen anbelange, werde an den in der Klagebeantwortung eingenommenen Standpunkten festgehalten.
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Der Kläger hat um Bestätigung des vorinstanzlichen Urteils nachgesucht und diesen Antrag im wesentlichen in Übereinstimmung mit den Motiven des Obergerichts begründet.
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Auszug aus den Erwägungen: | |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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Erwägung 1 | |
1. Eine Einstellung der Verfahrens bis nach Abschluss des Strafprozesses ist nach Art. 80 OG nutzlos, da das Bundesgericht allfällig neu eingehende Akten nicht berücksichtigen könnte, sofern wenigstens der vorinstanzlich festgestellte Tatbestand nicht einer Ergänzung im Sinne des Art. 82 OG bedarf. Diese Voraussetzung aber trifft nicht zu.
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Erwägung 2 | |
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Erwägung 3 | |
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Erwägung 4 | |
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Nun ist allerdings Doktrin und Rechtsprechung zu Art. 20 darin einig, dass auch beidseitig widerrechtliche Geschäfte nicht schlechthin unter Art. 20 fallen, sondern nur dann, wenn die betr. Gebots- oder Verbotsbestimmung auch die zivilrechtliche Nichtigkeit als Folge ihrer Übertretung anführt, oder wenn nach Sinn und Zweck des betr. Gesetzes die zivilrechtliche Nichtigkeit als gewollt angenommen werden muss (Vergl. AS 45 II 281 in Sachen Klein gegen Munzinger und die dort zitierten Entscheidungen).
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"Wer vorsätzlich den in Ausführung von Art. 54 erlassenen Verordnungen (und hierunter fällt auch der streitige Bundesratsbeschluss) zuwiderhandelt... wird... bestraft."
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Auf eine ausdrückliche Gesetzesbestimmung kann sich somit die Auffassung, dass im vorliegenden Streit Art. 20 anwendbar sei, nicht stützen. Dagegen weisen Sinn und Zweck der zitierten Verbotsbestimmung in der Tat darauf hin, dass der Gesetzgeber sich nicht mit der strafrechtlichen Sanktion begnügen wollte.
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Die streitige Ergänzung des Art. 118 der Lebensmittelverordnung wurde veranlasst durch die Verhältnisse wie sie der Weltkrieg gebracht hat. Das Auftauchen zahlloser minderwertiger Surrogate auf dem Lebensmittelmarkt liess die geltenden, im Interesse der Konsumenten aufgestellten Bestimmungen nicht als genügend erscheinen. Insbesondere entsprach auch die Vorschrift des zitierten Art. 118 betreffend den Verkehr mit Süsstoffen, die lediglich die deutliche Bezeichnung der künstlichen Süsstoffe und ihrer Mischungen mit anderen Substanzen verlangte, diesem Schutzzweck nicht mehr.
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Einmal ging ja den Konsumenten die nötige Fachkenntnis ab, um aus der blossen Bezeichnung schon auf Wert oder Minderwert schliessen zu können, und sodann hatte die Zuckerknappheit eine eigentliche Notlage geschaffen, die zum Kauf von Surrogaten zwang und bis zu einem gewissen Grade die Abnehmer der Willkür der Produzenten aussetzte. Aus diesen Gründen schritt der Gesetzgeber zur Ergänzung der fraglichen Bestimmung des Art. 118, von dieser Sachlage muss daher auch die Interpretation des Ergänzungsgesetzes ausgehen. Zunächst konnte es sich für den Bundesrat zweifellos nicht um den Erlass einer blossen Ordnungsvorschrift handeln. Aber auch eine blosse Strafsanktion vermochte den Umständen nicht zu genügen. Schon damals war es allgemeine, durch die Kriegsverhältnisse gegebene Erfahrungstatsache, dass Strafandrohungen zwar präventiv wirkten, den Handel mit verbotenen Artikeln aber doch nicht wirksam genug zu bekämpfen vermochten. Dazu kommt die Erwägung, dass Strafen zwar dem staatlichen Strafanspruch, nicht aber dem Anspruch des Publikums vor Schaden bewahrt zu werden, genügen können. Trotz Bestrafung des Verkäufers müsste der Konsument unter Umständen, d.h. sofern nicht andere Anfechtungsgründe gegeben, die minderwertige Ware behalten und könnte auch bereits gemachte Zahlungen nicht zurückverlangen. Nur die Möglichkeit, das ganze Geschäft wegen Nichtigkeit anzufechten, gibt hier die erforderlichen Garantien, dass ein Schaden nicht entstehe oder wieder gutgemacht werden könne. Es entspricht daher durchaus dem gesetzgeberischen Zweck und dem aus der Entstehungsgeschichte ersichtlichen Sinn der streitigen Bestimmung, wenn an die Übertretung die zivilrechtliche Nichtigkeitsfolge geknüpft wird (vergl. das oben zitierte Urteil in Sachen Keim gegen Munzinger).
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Im vorliegenden Falle ist es allerdings kein Konsument, sondern ein Zwischenhändler, zu dessen Gunsten die Bestimmung des Art. 20 zur Anwendung gelangen soll. Allein das ändert an der Entscheidung der Nichtigkeitsfrage nichts. Wenn eine Ware im Interesse des letzten Abnehmers vom Verkehr ausgeschlossen wird, so sind selbstverständlich auch alle Zwischenkäufe und Verkäufe, da sie nur die Verletzung des Konsumenten vorbereiten, widerrechtlich. Je früher die zivilrechtliche Nichtigkeit in den widerrechtlichen Verkehr eingreift, um so sicherer ist der Konsument, dass ihm diese Waren nicht angeboten werden.
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Erwägung 5 | |
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Der Beklagte bestreitet nicht, über die Tatsache aufgeklärt gewesen zu sein, dass die verkaufte Ware den gesetzlichen Bestimmungen nicht entsprach. Ein gleiches Wissen des Klägers dagegen, der lediglich Ware "wie gehabt" bestellte, geht aus den Akten nicht hervor. Sein guter Glaube ist daher zu vermuten. Allerdings hat der Beklagte sich darauf berufen und auch Beweis dafür angetragen, dass sein Verkäufer ihm erklärt, dass Volkswirtschaftsdepartement habe ihm ausnahmsweise den Ausverkauf des noch auf Lager befindlichen minderwertigen Saccharins gestattet. Allein auch wenn dies zutreffen sollte, durfte der Beklagte sich auf eine solche Zusicherung nicht verlassen, wenn ihm nicht auch die erforderlichen Beweise, also etwa eine Zuschrift des Departementes an seinen Lieferanten, vorgelegt wurden. Sein Verhalten ist daher zum mindesten grob fahrlässig und macht ihn dem Kläger gegenüber nach Art. 41 OR schadenersatzpflichtig.
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Erwägung 6 | |
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
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