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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Johannes Sokoll, A. Tschentscher | |||
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vom 10. Oktober 1933 i.S. Rogenmoser gegen Tiefengrund A.-G. | |
Regeste |
Anwendung der Clausula rebus sic stantibus auf einen Mietvertrag. |
Es kann auch auf richterliche Anpassung, statt auf Aufhebung des Vertrages geklagt werden (Erw. 2). |
Die Störung des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung infolge der eingetretenen Veränderung der Umstände muss dann als Auflösungs- oder Änderungsgrund gelten, wenn das Missverhältnis offenbar ist und wenn das Beharren des Gegners auf dem Vertrag, so wie er abgeschlossen wurde, geradezu eine wucherische Ausbeutung des Missverhältnisses darstellt (Erw. 3). |
Anwendung der Grundsätze im konkreten Fall (Erw. 4). | |
Sachverhalt | |
A. Am 10. Mai 1929 schloss der Kläger, Josef A. Rogenmoser, Restaurateur in Zürich, mit der Beklagten, Tiefengrund A.-G. in Zürich, einen Mietvertrag ab, durch den sie ihm als Eigentümerin des damals noch im Bau befindlichen neuen Börsengebäudes in Zürich sämtliche Parterre- und andere Räumlichkeiten im Keller und vierten Stockwerk mit Antritt am 1. Juli 1930 auf 15 Jahre bis 30. Juni 1945 vermietete. Der jährliche Mietzins sollte für die ersten drei Jahre je 150,000 Fr. betragen und nachher alle drei Jahre um 12,000 Fr. ansteigen bis zur Höhe von 198,000 Fr. vom 1. Juli 1942 bis 30. Juni 1945. Die Kosten für Gas, Strom, Kaltwasser, Ventilation und Zentralheizung sollten nicht inbegriffen sein. ![]() | 1 |
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Am 5. Juni 1931, also rund sechs Monate nach Antritt der Miete, richtete der Kläger an die Beklagte das Gesuch, sie möchte den Mietzins und die Zusatzabgaben herabsetzen. Die Beklagte lehnte das Ansinnen ab.
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B. Am 11. Januar 1933 hat Rogenmoser gegen die Tiefengrund A.-G. Klage mit folgenden Rechtsbegehren erhoben:
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"1. Sind die Mietverträge der Parteien vom 10. Mai 1929, 18. Juni 1930, 22. Januar 1931, 11. Februar 1931 und 1. April 1931 mit Wirkung ab 1. Januar 1933 gerichtlich abzuändern, in dem Sinne, dass der vom Kläger zu entrichtende Mietzins ab 1. Januar 1933 wie folgt festgesetzt wird: Bei einer Bruttojahreseinnahme des Mieters von Fr. 100,000 bis 149,999.99 beträgt der Mietzins der Bruttojahreseinnahme 5,6% in Fr. 5600-8400, Bei einer Bruttojahreseinnahme des Mieters von Fr. 150,000 bis 249,999.99 beträgt der Mietzins der Bruttojahreseinnahme 5,7% in Fr. 8550-14250, Bei einer Bruttojahreseinnahme des Mieters von Fr. 250,000 bis 349,999.99 beträgt der Mietzins der Bruttojahreseinnahme 5,8% in Fr. 14500-20300, usw.? | 5 |
2. Eventuell: Ist der Mietzins ab 1. Januar 1933 auf 71,600 Fr., eventuell auf welchen höhern Betrag zu reduzieren?
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3. Subeventuell: Ist der Kläger berechtigt, von den sub Ziff. 1 genannten Verträgen ohne Entschädigung zurückzutreten?"
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C. Die Beklagte hat Abweisung der Klage beantragt.
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D. Am 14. März 1933 hat das Handelsgericht des Kantons Zürich die Klage abgewiesen. ![]() | 9 |
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F. ...
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Aus den Erwägungen: | |
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Erwägung 2 | |
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So bleibt als einzig mögliches Klagefundament die vom Kläger aufgestellte Behauptung, dass die im Streite liegenden Mietverträge unter der stillschweigenden clausula rebus sic stantibus abgeschlossen worden seien und dass die in dieser Klausel enthaltene Resolutivbedingung nach der ihr in der Gerichtspraxis und Doktrin gegebenen Interpretation hier erfüllt sei.
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Wenn nun schon das positive schweizerische Recht gleich den andern modernen Gesetzgebungen die in der gemeinrechtlichen Lehre vertretene sogenannte clausula rebus sic stantibus als allgemeine Schranke des Weiterbestehens vertraglicher Verpflichtungen nicht kennt, hat das Bundesgericht doch in der Tat erkannt, dass der Schuldner zu befreien sei, wenn aussergewöhnliche, billi ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() | 15 |
Erwägung 3 | |
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Das Bundesgericht hat nun bei Anwendung der clausula wiederholt darauf abgestellt, ob die Leistungspflicht für den Schuldner derart onerös geworden sei, dass das Beharren darauf seinem ökonomischen Ruin gleichkommen würde und es hat je nachdem erklärt, dass ihm die Fortsetzung des Vertrages zugemutet werden könne oder nicht (BGE 45 II S. 398, 50 II S. 264). Dagegen ist der Vorwurf erhoben worden, dass man mit diesem Kriterium nur auf die Erschwerung der Leistung für den Schuldner, nicht auch auf die Entwertung der Gegenleistung Gewicht lege und so die schuldige Rücksichtnahme auf den Vertragsgegner versäume (Reichel a.a.O. S. 15 ff.). In der Tat lässt sich, wie das Handelsgericht mit Recht ausgeführt hat, das Kriterium bei erneuter Prüfung nicht ![]() ![]() | 17 |
Die Störung des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung infolge der eingetretenen Veränderung der Umstände muss dann als Auflösungs- oder Änderungsgrund gelten, wenn sie gross, auffällig, übermässig ist (Weber a.a.O. S. 47). Nicht jede Verschiebung genügt also. Es muss sich um ein offenbares Missverhältnis handeln. Da auch Art. 21 OR diesen Begriff verwendet, können dort Anhaltspunkte gefunden werden. Massgebend für die Frage des Missverhältnisses ist der objektive Wert der Leistungen, wie sie sich aus der allgemeinen Schätzung zu der Zeit ergeben, da über die Klausel entschieden wird (von Thur OR I S. 281, Becker, N. 1 ff. zu Art. 21 OR). Es ist Sache des Richters, im einzelnen Fall festzustellen, ob ein Missverhältnis als offenbar und übermässig bezeichnet werden kann.
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Auch das offenbare Missverhältnis reicht aber nicht aus, um einen Vertrag aufzuheben oder zu ändern, sonst würde man wiederum zu wenig berücksichtigen, ob auch dem Gegner des Schuldners die Aufhebung oder Änderung zumutbar sei. Vielmehr muss in subjektiver Beziehung hinzukommen, dass das Beharren auf dem Vertrag durch den Vertragsgegner geradezu eine Ausbeu ![]() ![]() | 19 |
Es ist freilich richtig, dass beim Abschluss eines Vertrages eine ausbeuterische Absicht des Vertragsgegners des Übervorteilten und ein offenbares Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung nicht genügen, damit der Vertrag für den Benachteiligten unverbindlich erklärt werden kann, sondern es müssen die Notlage, die Unerfahrenheit oder der Leichtsinn des Übervorteilten ausgebeutet worden sein (OR Art. 21). Unerfahrenheit und Leichtsinn fallen bei unverschuldeter nachträglicher Veränderung der Verhältnisse naturgemäss nicht in Betracht, und es stellt sich nun die Frage, ob nicht ein Widerspruch entsteht, wenn die Auflösung des Vertrages bei nachträglicher Veränderung der Verhältnisse und Ausbeutung eines offenbaren Missverhältnisses an leichtere Voraussetzungen geknüpft wird, als das Gesetz sie in Art. 21 für die Ungültigkeit eines Vertrages wegen Übervorteilung beim Abschluss desselben vorsieht. Diese Frage ist jedoch zu verneinen. Der Gesetzgeber darf von einem Vertragschliessenden voraussetzen, dass er das entstehende Verhältnis von Leistung und Gegenleistung kenne und auf sich nehmen wolle, und es ist daher verständlich, dass er ihm nur hilft, wenn er beim Abschluss eine besondere Schwäche besass und diese durch den Gegner ausgenützt wurde (Not, Unerfahrenheit, Leichtsinn). Das nachträgliche Missverhältnis dagegen entsteht ohne Zutun des benachteiligten Kontrahenten durch eine unverschuldete Veränderung der Verhältnisse -- sonst ist es unbehelflich ![]() ![]() | 20 |
Erwägung 4 | |
4. ... Die Vorinstanz hat es daher mit Fug als voreilig bezeichnet, dass der Kläger offenbar als selbstverständlich voraussetzt, die Wirtschaftskrisis habe auch sein Unternehmen ergriffen und sein Einnahmenausfall in den Geschäftsjahren 1931 und 1932 sei ausschliesslich oder doch in wesentlichem Masse darauf zurückzuführen. Der Mietvertrag der Parteien wurde für nicht weniger als 15 Jahre fest abgeschlossen. Schon in dieser bestimmten und langen Dauer lag, jedenfalls auf Seiten des Klägers, ein spekulatives Element mitenthalten. Aber auch Art und Umfang der Mietobjekte liessen das Vertragsrisiko von Anfang an als erheblich erscheinen. Bei solchen Verträgen darf es mit der Auflösung oder Änderung nicht leicht genommen werden. Für eine längere Dauer hat jeder Kontrahent mit Konjunkturschwankungen sogar in grösserem Mass zu rechnen (vgl. auch das Zürcher Urteil in Z.R. 21 S. 121). Er darf nicht einfach voraussetzen, dass die Wirtschaftslage dieselbe bleiben werde, wie zur Zeit des Abschlusses. Das bedeutet durchaus nicht, dass damit die clausula rebus sic stantibus auf Mietverträge überhaupt unanwendbar erklärt werde. Aber der tatsächlichen Voraussicht der künftigen Veränderung der Umstände ist das Voraussehenmüssen bei solchen leicht spekulativen Verträgen gleichzuachten, sonst liefe die Anwendung der Klausel auf eine Prämierung des Leichtsinnes zum Nachteil des Vertragsgegners hinaus (vgl. Reichel a.a.O. S. 23). Dazu kommt im vorliegenden Fall, dass der Kläger es war, der die Beklagte wiederholt und beharrlich drängte, den Ver ![]() ![]() | 21 |
Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
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