BGE 77 II 228 - Liegenschaft Wallenstadt | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: Johannes Sokoll, A. Tschentscher | |||
44. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung |
vom 29. Juni 1951 i.S. Wwe Mettler gegen Frl. Mettier. | |
Regeste |
Ausgleichungspflicht der gesetzlichen Erben. System der Regeln der Art. 626 ff. ZGB. Art. 626 Abs. 2 gilt auch zu Gunsten des überlebenden Ehegatten. | |
Sachverhalt | |
A. | |
Der am 10. September 1948 verstorbene Georg Mettier ging am 18. Juli 1942 eine zweite Ehe mit Marie Winkler ein. Tags darauf schloss er mit der Tochter aus erster Ehe, Ursula Mettier, einen öffentlich beurkundeten Liegenschafts-Schenkungsvertrag über eine Liegenschaft an der Bergstrasse in Wallenstadt ab, die mit einer Hypothek von Fr. 31,000.- belastet war. Dem Vertrag ist zu entnehmen:
| 1 |
"Georg Mettier schenkt heute seiner Tochter Ursula, die neben seiner jetzigen Ehefrau die einzige erbberechtigte Person ist, in Anerkennung der für ihn bis jetzt geleisteten Dienste und um ihr schon jetzt einen Teil des zukünftigen Erbes zu sichern, sein an der Bergstrasse in Wallenstadt gelegenes Heimwesen..."
| 2 |
"Die Schenkung tritt durch Besitzübergabe heute in Kraft und es hat dementsprechend mit meiner Einwilligung die Eintragung ins Grundbuch zu erfolgen."
| 3 |
B. | |
Nach erfolglosen Teilungsverhandlungen reichte die Tochter Ursula Mettier am 17. Oktober 1949 gegen die Witwe Mettier-Winkler beim Bezirksgericht Unterlandquart die vorliegende Klage ein. Der Streit ging vor allem (und geht vor Bundesgericht einzig) darum, ob die Klägerin die vom Erblasser schenkungsweise erhaltene Liegenschaft in Wallenstadt zur Ausgleichung bringen müsse. Das Kantonsgericht von Graubünden vereinte mit Urteil vom 15./16. Januar 1951 die Ausgleichungspflicht.
| 4 |
C. | |
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung an das Bundesgericht eingelegt mit dem Antrag auf Bejahung der Ausgleichungspflicht der Klägerin und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Festsetzung des Ausgleichswertes.
| 5 |
Aus den Erwägungen: | |
6 | |
Erwägung 3 | |
3. Besteht somit keine vertragliche Ausgleichungspflicht der Klägerin im Sinne von Art. 626 Abs. 1 ZGB, so stellt sich die Frage nach einer "gesetzlichen" Ausgleichungspflicht nach Art. 626 Abs. 2. Das Kantonsgericht hält diese Norm von vornherein für unanwendbar, da sie nur "unter Nachkommen" gelte. Diese Auffassung entspricht einer verbreiteten Lehrmeinung (Tuor, zu Art. 626 N. 13 und 35; Escher, 1. Auflage, zu Art. 626 N. 1, b; zögernd N. 6 ff. der 2. Auflage; gleicher Ansicht Gautschi, Die Praxis des Bundesgerichts über Ausgleichung und Herabsetzung, Zeitschrift für Beurkundung und Grundbuchrecht 9, 1 ff., und Kunz, Die Ausgleichungspflicht des überlebenden Ehegatten, Schweizerische Juristenzeitung 25, 305 ff.). Andere bejahen dagegen die Legitimation des Ehegatten (Borel, Das bäuerliche Erbrecht, 3. Auflage, 164; Urteil der Genfer Cour de justice civile vom 5. April 1939, Semaine judicaire 61, 9 ff.).
| 7 |
8 | |
Nun berufen sich die Vertreter der Ansicht, Art. 626 Abs. 2 verlange eine Ausgleichung nur "unter Nachkommen", gerade auf die allgemeine Regel des Abs. 1 daselbst, wonach "die gesetzlichen Erben gegenseitig" die ihnen auf Anrechnung an den Erbteil zugewendeten Werte auszugleichen haben (vgl. Tuor, zu Art. 626 N. 35). Allein mit jener Wendung will Art. 626 Abs. 1 nicht besagen, die Ausgleichungspflicht bestehe nur unter Erben gleicher Stufe. Vielmehr ist damit einfach die Ausgleichungspflicht aller gesetzlichen Erben, die etwas auf Anrechnung an den Erbteil empfangen haben, gegenüber allen andern gesetzlichen Erben ausgedrückt. Daraus folgt nichts für eine auf Nachkommen beschränkte Berechtigung, die spezielle Regel des Abs. 2 anzurufen.
| 9 |
Auch der Umstand, dass Art. 626 Abs. 2 die Ausgleichungspflicht in den von ihm betroffenen Fällen zur Regel macht (vorbehältlich ausdrücklicher gegenteiliger Verfügung des Erblassers), rechtfertigt eine Begrenzung des Klagerechtes auf (die andern) Nachkommen nicht. Von einer "gesetzlichen" Ausgleichungspflicht (besonderer Art) ist bei dieser Regel überhaupt nicht zu sprechen. Um die Tragweite von Art. 626 Abs. 2 zu erkennen, ist es angezeigt, die Ausgleichungsregeln der Art. 626-633 in ihrem Zusammenhange zu betrachten: Diese Regeln wollen keineswegs die Verfügungsfreiheit des Erblassers beschränken. Dessen Befugnis, durch Rechtsgeschäfte unter Lebenden und durch Verfügungen von Todes wegen über sein Vermögen zu verfügen, ist grundsätzlich nur durch das Pflichtteilsrecht beschränkt, wie sich aus Art. 470 ZGB ergibt. Ob dagegen eine Zuwendung nach dem Tode des Erblassers ausgeglichen werden muss, oder ob sie dem Erben ohne jede Anrechnung verbleibt, hängt unter Vorbehalt der Pflichtteilsrechte nur vom Willen des Erblassers ab. Art. 626 Abs. 1 bestimmt denn auch eindeutig, dass die gesetzlichen Erben (nur das) gegenseitig zur Ausgleichung zu bringen haben, was ihnen der Erblasser "auf Anrechnung an ihren Erbanteil" zugewendet hat. Was nicht in solchem Sinne zugewendet ist, untersteht nicht der Ausgleichung, sondern nur gegebenenfalls der Herabsetzung. Unter diesen Gesichtspunkt fallen allerdings auch Zuwendungen im Sinne von Art. 626 Abs. 2, nämlich gemäss der entsprechenden Vorschrift von Art. 527 Ziff. 1 in Verbindung mit Art. 475 ZGB (vgl. dazu BGE 76 II 188, besonders 192), jedoch eben nur soweit, als sie zur Herstellung der Pflichtteile anderer Erben der Herabsetzung unterliegen (was im vorliegenden Prozesse nicht in Frage steht).
| 10 |
Es kann also die Ausgleichungspflicht nicht als gesetzliches Gebot bestehen. Wenn in BGE 68 II 82 gesagt ist, die Ausgleichungspflicht gelte unter Vorbehalt einer ausdrücklichen gegenteiligen Verfügung "von Rechts wegen", so ist das nicht wörtlich zu nehmen. Dem Erblasser ist eine abweichende Verfügung freigestellt, und richtigerweise stellt sich die in Art. 626 Abs. 2 enthaltene Regel als eine blosse (freilich besonders starke) Willensvermutung dar (mit beschränkter Möglichkeit des Gegenbeweises).
| 11 |
b) Der an der Spitze der Ausgleichungsregeln stehende Art. 626 Abs. 1 betrachtet die Hingabe auf Anrechnung als des Beweises bedürftige Tatsache. Wer einen Miterben zur Ausgleichung anhalten will, hat sowohl den Empfang einer Zuwendung wie auch deren Charakter als Erbvorempfang zu beweisen. Die Manifestationspflicht jedes Erben (Art. 610 Abs. 2 ZGB; im Vorentwurf war sie im Anschluss an die Ausgleichungspflicht in Abs. 2 von Art. 633 vorgesehen) erleichtert diesen Beweis, namentlich wo freie Beweiswürdigung gilt. Für gewisse Fälle stellt dann aber das Gesetz Rechtsvermutungen auf, die von diesem Beweisgrundsatz abweichen und sich nach der Stärke der im einen oder andern Sinn gegebenen Vermutung abstufen lassen. In den Fällen des Art. 626 Abs. 2 ist der an sich Beweispflichtige von der Beweislast entbunden, ja der Gegenbeweis ist dem Empfänger, wie bereits bemerkt, erschwert, indem er nur in einer ausdrücklichen Willenskundgebung des Erblassers liegen kann. Hinsichtlich eines allfällig den Erbteil des Empfängers übersteigenden Betrages einer solchen Zuwendung schwächt Art. 629 Abs. 1 diese Willensvermutung etwas ab; insoweit genügt zu deren Entkräftung der auf beliebige Weise zu erbringende Beweis eines dahingehenden Begünstigungswillens. Und hinsichtlich Ausstattungen in üblichem Umfange bei der Verheiratung von Nachkommen wird für einen den Erbteil übersteigenden Betrag die Absicht der Begünstigung ohne Ausgleichungspflicht nach Art. 629 Abs. 2 sogar vermutet. In diesem Bereiche wird also wieder die allgemeine Rechtslage gemäss Art. 626 Abs. 1 hergestellt. Das übliche Mass übersteigende Erziehungskosten sind sodann nach Art. 631 vermutungsweise auf den Erbteil anzurechnen. Der Beweis für den gegenteiligen Willen kann mit allen Beweismitteln geführt werden. Art. 632 endlich stellt für übliche Gelegenheitsgeschenke die unwiderlegliche Vermutung auf, dass sie nicht auszugleichen seien. Verfügt der Erblasser bei einer Zuwendung, die sonst als Gelegenheitsgeschenk erschiene, die Ausgleichung, so nimmt er der Zuwendung den Charakter eines solchen Geschenkes. Nachträglich kann er eine Anrechnung auf den Erbteil, falls sie nicht kraft besonderer Regel zu vermuten war und auch nicht irgendwie bei der Zuwendung vorbehalten wurde, ohnehin nicht verfügen (vgl. BGE 76 II 197/98). Soll nach testamentarischer Anordnung ein seinerzeit gemachtes Gelegenheitsgeschenk "ausgeglichen" werden, so kann es sich nach dem Gesagten nicht um Ausgleichung im eigentlichen Sinne handeln. Es ist in einem solchen Falle nur zu prüfen, ob der Wille des Erblassers dahin gehe, dass der betreffende Erbe um soviel weniger aus dem Nachlass beziehen solle. Eine solche das Erbbetreffnis mindernde Verfügung wäre allenfalls im Rahmen des Pflichtteilsschutzes anfechtbar.
| 12 |
c) Erscheint dergestalt Art. 626 Abs. 1 als die Grundregel, der sich die weitern Ausgleichungsregeln als Beweisgrundsätze anreihen, so bleibt die Wirkung der Ausgleichungspflicht, wo immer diese gegeben ist, durchwegs dieselbe. Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der Frage, zu wessen Gunsten die Ausgleichung vorzunehmen sei, d.h. wer an der um die Vorempfänge erweiterten Erbmasse teilhabe. Es sind dies regelmässig alle Erben, sofern nicht aus besondern Gründen ein Vorempfang bestimmter Art nur in einer engern Erbengruppe auszugleichen ist (was in BGE 51 II 381 für die nach Art. 631 auszugleichenden Erziehungskosten angenommen wurde). Bei den unter Art. 626 Abs. 2 fallenden Zuwendungen besteht zu einer Begrenzung des "Ausgleichungsrechtes" auf (die andern) Nachkommen kein zureichender Grund. Dass solche Zuwendungen von der übrigen Teilungsmasse abzuspalten und nur unter Nachkommen auszugleichen seien (also gar nicht, wenn, wie im vorliegenden Falle, nur ein Nachkomme neben dem überlebenden Ehegatten an der Erbschaft beteiligt ist), geht aus Art. 626 Abs. 2 keineswegs hervor. Es trifft auch nicht zu, dass es den Nachkommen gegenüber (seien es mehrere oder auch nur ein einziger) unbillig sei, den überlebenden Ehegatten an der Ausgleichung solcher Zuwendungen teilnehmen zu lassen. Der Einwand, der Ehegatte selbst sei nicht als Pflichtiger in die Regel des Art. 626 Abs. 2 einbezogen, schlägt nicht durch. Die Zuwendung eines Heiratsgutes, aber auch einer Ausstattung und dergleichen, mit dem Zweck der Existenzsicherung oder -mehrung, kommt unter Ehegatten in aller Regel gar nicht in Frage. Während der Ehe hat eben der eine Ehegatte keine Zuwendung zu solchem Zweck aus dem Vermögen des andern nötig. Es versteht sich deshalb von selbst, dass der Ehegatte dem Art. 626 Abs. 2 nicht unterworfen ist. Erhält einmal (aus besonderer Veranlassung) ein Ehegatte vom andern eine Ausstattung oder dergleichen, so dürfte es näher liegen, die Absicht einer Begünstigung ohne Anrechnungspflicht als das Gegenteil zu vermuten. Daraus ergibt sich aber nichts dafür, dass sich der Ehegatte nicht auch auf die vermutete Ausgleichungspflicht eines Nachkommen sollte berufen können, wenn dieser etwas im Sinne des Art. 626 Abs. 2 vom Erblasser empfangen hat.
| 13 |
Im deutschen Recht (§§ 2050 ff.) ist allerdings eine Ausgleichung bloss unter Nachkommen vorgesehen, während Ehegatten weder ausgleichungsberechtigt noch -verpflichtet sind (vgl. Staudinger, III C zu §§ 2050-54). Der schweizerische Gesetzgeber liess sich jedoch bei Aufstellung der Ausgleichungsnormen nicht vom deutschen, sondern vom französischen Rechte leiten (Erläuterungen zum Vorentwurf des ZGB, Art. 633-637, 2. Ausgabe S. 469" ... und zwar soll nach dem Entwurfe die Ausgleichungspflicht nicht bloss für die Nachkommen des Erblassers, sondern, in Übereinstimmung mit dem französischen Recht, für alle gesetzlichen Erben anerkannt werden"; dazu die bundesrätliche Botschaft, Bundesblatt 1904 IV 1 ff., deutsche Ausgabe S. 59 unten/60, französische Ausgabe S. 60 oben). Nach Art. 843 des französischen Code civil ist "tout héritier" zur Ausgleichung "à ses cohéritiers" (ohne Einschränkung) verpflichtet, und zu den Miterben ist, vom Falle blosser Nutzniessung abgesehen, auch der Ehegatte zu zählen (Fuzier/Herman / René Demogue, Code civil annoté II (1936), zu Art. 843 N. 5). Davon geht, wenn auch mit anderer Beweislastverteilung, Art. 626 Abs. 1 ZGB ebenfalls aus.
| 14 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |