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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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40. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung |
vom 19. Mai 1988 |
i.S. Alexandre SA gegen Schweiz. Lebensversicherungs- und Rentenanstalt |
(Berufung) | |
Regeste | |
Regeste |
Hat der bauende Grundeigentümer alle ihm zumutbaren Massnahmen ergriffen und lässt es sich trotzdem nicht vermeiden, dass mit den Bauarbeiten die Schranken des Eigentumsrechtes überschritten werden und der Nachbar eine Schädigung erleidet, so hat dieser Anspruch auf Schadenersatz unter der Voraussetzung, dass die Einwirkungen übermässig sind und die Schädigung beträchtlich ist. Ob dies in einem konkreten Fall zutrifft, ist nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen und beruht im wesentlichen auf einer Abwägung der widerstreitenden Interessen der Beteiligten unter Berücksichtigung des Ortsgebrauchs sowie der Lage und der Beschaffenheit der Grundstücke (Bestätigung der Rechtsprechung). | |
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A. | |
Die Schweiz. Lebensversicherungs- und Rentenanstalt ist Eigentümerin der Liegenschaft an der Ecke Bahnhofstrasse 104 und Schützengasse 10/12 in Zürich. Von Februar 1982 bis Ende Oktober 1983 liess sie an dieser Liegenschaft einen Umbau und eine Fassadenrenovation ausführen; dabei wurden, um das Gebäude herum und weitgehend auf öffentlichem Boden, Bauinstallationen aufgestellt. Die Benützung des öffentlichen Grundes war im Juni 1981 durch die Gewerbepolizei der Stadt Zürich und am 22. Juli 1981 durch den Stadtrat von Zürich bewilligt worden.
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Die Alexandre SA führte an der Schützengasse 7 zwei Detailverkaufsgeschäfte für Mode, die sie im August 1980 eröffnet hatte. Sie verlangte im März 1983 von der Schweiz. Lebensversicherungs- und Rentenanstalt Ersatz des durch die Bauarbeiten verursachten Schadens, was diese indessen verweigerte.
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B. | |
Am 23. April 1985 klagte die Alexandre SA beim Handelsgericht des Kantons Zürich gegen die Schweiz. Lebensversicherungs- und Rentenanstalt auf Zahlung eines nach richterlichem Ermessen festzusetzenden Betrages, mindestens aber von Fr. 750'000.-- nebst ![]() ![]() | 3 |
Gegen dieses Urteil des Handelsgerichts erhob die Alexandre SA Berufung an das Bundesgericht.
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Auszug aus den Erwägungen: | |
Aus den Erwägungen:
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Erwägung 2 | |
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PETER LIVER hat BGE 83 II 375 ff. als ein "erstaunliches Urteil" bezeichnet, weil danach auch Massnahmen, ohne welche die unerlässlichen Bauarbeiten auf einem Grundstück überhaupt nicht durchgeführt werden können, widerrechtlich seien und zu Schadenersatz verpflichteten, wenn die Beeinträchtigung eines Nachbarn während der Bauzeit ein gewisses Mass überschreite. Er hat auch darauf hingewiesen, dass die Frage, ob und wie auf einem Grundstück gebaut werden dürfe, überhaupt nicht nach Art. 684 ZGB (der den speziellen Tatbestand der Überschreitung des Grundeigentums nach Art. 679 ZGB regle, welche in mittelbaren Einwirkungen auf Nachbargrundstücke bestehen) zu beurteilen sei, da diese Bestimmung nur Anwendung finde auf die Art und Weise der Benutzung eines Grundstücks oder Gebäudes im Sinne der Bewirtschaftung (ZBJV 95/1959, S. 20 ff.).
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Dieser Kritik hat sich das Bundesgericht nicht verschlossen und deshalb die Verantwortlichkeit des Grundeigentümers in BGE 91 II 100 ff. einer neuen Prüfung unterzogen. Es hat in diesem ![]() ![]() | 8 |
LIVER, der diesem Urteil grundsätzlich zugestimmt hat, hat darin die Schaffung eines neuen Tatbestandes der Kausalhaftung des Grundeigentümers gesehen. Dieser haftet unter der Voraussetzung, dass er die Grenzen seiner Liegenschaft überschreitet und die Zulässigkeit der Überschreitung auf einer Sonderbewilligung der zuständigen Verwaltungsbehörde beruht (ZBJV 103/1967, S. 1 ff.). MEIER-HAYOZ vermisst bei diesem Urteil eine Stellungnahme des Bundesgerichts zur Frage, ob eine echte oder eine unechte Lücke vorliege. Er hält dafür, dass es sich um eine Gesetzesberichtigung, also um die Ausfüllung einer unechten Lücke handle, legt dem Richter aber nahe, solche unechten Lücken im Nachbarrecht nur mit grosser Zurückhaltung anzunehmen und besonders sorgfältig zu prüfen, ob dem Interesse des betroffenen Nachbarn ein ernsthaftes und objektiv vertretbares ![]() ![]() | 9 |
Das Bundesgericht hat die mit BGE 91 II 100 ff. begründete Rechtsprechung in zwei Urteilen vom 14. November 1986 bestätigt. Das eine Urteil (Société Parking de la Place de Cornavin S.A. gegen Devillon & Cie und Dame Jacqueline Devillon) ist von PIERRE TERCIER zustimmend besprochen worden (La protection contre les nuisances liées à des travaux de construction, in: Baurecht 1987, S. 82 ff.).
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Erwägung 3 | |
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d) In diesem Zusammenhang ist auch die Feststellung des Handelsgerichts zu präzisieren, die Beklagte sei Grundeigentümerin "inmitten eines städtischen Wohnquartiers". In Tat und Wahrheit geht es im vorliegenden Fall nämlich um Bauarbeiten, die an der Zürcher Bahnhofstrasse ausgeführt wurden. Zusammen mit den ![]() ![]() | 15 |
Diese Präzisierung erfolgt allerdings nicht im Sinne der Berichtigung eines offensichtlichen Versehens (Art. 63 Abs. 2 OG), sondern unter Berücksichtigung einer gerichtsnotorischen Tatsache. Wie die Klägerin zutreffend vorbringt, würde derselbe Sachverhalt, wie er der vorliegenden Streitsache zugrunde liegt, in einem eigentlichen Wohnquartier kaum zu einer Schadenersatzpflicht führen, weil dort die Quartierbewohner in den Geschäften zu einem grossen Teil Artikel des täglichen Bedarfs einkaufen und die Läden in ihrer Nähe auch dann aufsuchen, wenn der Zugang zu ihnen durch Bauinstallationen erschwert ist. Demgegenüber kommt die Kundschaft, welche die Geschäfte an der Zürcher Bahnhofstrasse und in deren nächster Nähe aufsucht, in grosser Zahl auch aus den übrigen Gebieten der Schweiz und aus dem Ausland. Diese Kundschaft wird, ganz besonders wenn es um Modeartikel geht, von den Wünsche weckenden Auslagen in Schaufenstern und Verkaufsräumen zum Betreten eines Ladengeschäftes veranlasst. Die Ladeninhaber rund um die Bahnhofstrasse haben daher ein ganz besonderes Interesse daran, dass der Zugang zu ihrem Geschäft ohne Schwierigkeiten gefunden wird.
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Erwägung 4 | |
4.- a) Es steht auch im vorliegenden Fall fest, dass die von der Liegenschaft der Beklagten ausgehenden Einwirkungen auf die Detailverkaufsgeschäfte der Klägerin - in erster Linie die Erschwerung des Zuganges durch Belegung und Abschrankung des öffentlichen Grundes - den Tatbestand der übermässigen und folglich unzulässigen Eigentumsausübung erfüllen und damit einen Anspruch auf Beseitigung der Schädigung oder auf Schadenersatz begründen würden, wenn sie nicht im Zusammenhang mit den von der Beklagten veranlassten Umbau- und Renovationsarbeiten ständen. Nur weil diese Bauarbeiten notwendig und zweckmässig ![]() ![]() | 18 |
Dem Nachbarn, der einem solchen Eingriff in seinen Rechtsbereich ausgesetzt ist, steht ausnahmsweise kein Abwehranspruch zu; es ist ihm aber, im System der privatrechtlichen Eigentumsordnung, ein Anspruch auf Entschädigung zuzugestehen. Dabei sind die Analogien zum öffentlichrechtlichen Institut der Enteignung augenfällig. Eine "privatrechtliche Enteignung" ist im übrigen, wenn man sich der mittelbaren gesetzlichen Eigentumsbeschränkungen (Überbau: Art. 674 Abs. 3 ZGB, Durchleitung: Art. 691 ZGB, Notweg: Art. 694 ZGB, Notbrunnen: Art. 710 ZGB) erinnert, der schweizerischen Rechtsordnung nicht fremd.
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Nachteilige Einwirkungen, die der bestimmungsgemässe Gebrauch einer öffentlichen Sache nach sich zieht und die sich nicht oder nur durch unverhältnismässige Aufwendungen vermeiden lassen, sind ebenfalls vom Nachbarn hinzunehmen und durch eine Entschädigung nach Enteignungsgrundsätzen abzugelten (BGE 91 II 483 E. 5, 96 II 348 f. E. 6a, 107 Ib 388 f. E. 2a).
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c) Nicht leicht zu entscheiden ist die Frage, ob die durch BGE 91 II 100 ff. eingeleitete und in der Folge bestätigte ![]() ![]() | 22 |
Erwägung 5 | |
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Bezüglich des Sachverhalts führt die Berufungsbeklagte sodann aus, durch die Schützengasse eine Querstrasse zur Bahnhofstrasse - fliesse kein Passantenstrom. Von der Bahnhofstrasse her ![]() ![]() | 25 |
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Erwägung 6 | |
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Dabei bedarf der Sachverhalt der Vervollständigung. Das Handelsgericht hat sich konkret darüber zu äussern, ob in Würdigung aller Umstände - wozu u.a. auch das öffentliche Interesse an der Renovation der unter Denkmalschutz gestellten Fassade gehört - die durch die Bauarbeiten verursachten Einwirkungen als übermässig zu bezeichnen sind und zu einer beträchtlichen Schädigung der Klägerin geführt haben. Prüfenswert ist gewiss die im Minderheitsantrag der Vorinstanz geäusserte Anregung, die Voraussetzung der beträchtlichen Schädigung noch genauer zu definieren ("als aussergewöhnlich grosse und auch im Rahmen gegenseitiger Toleranz und Abhängigkeit unzumutbare Schädigung"). In diesem Sinne ist die Sache zur Aktenergänzung und neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 64 Abs. 1 OG). ![]() | 28 |
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