EuGH Rs. C-100/01, Slg. 2002, S. I-10981 - Oteiza Olazabal | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Michelle Ammann, A. Tschentscher | |||
Urteil |
des Gerichtshofes |
vom 26. November 2002 |
In der Rechtssache |
-- C-100/01 -- |
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Conseil d'État (Frankreich) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit |
Ministre de l'Intérieur |
gegen |
Aitor Oteiza Olazabal |
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 6, 8a und 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 12 EG, 18 EG und 39 EG) sowie der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, 56, S. 850), |
erlässt |
Der Gerichtshof unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodriguez Iglesias, der Kammerpräsidenten J.-P. Puissochet, M. Wathelet und R. Schintgen, der Richter C. Gulmann, D. A. O. Edward, A. La Pergola, P. Jann (Berichterstatter) und V. Skouris, der Richterinnen F. Macken und N. Colneric sowie der Richter S. von Bahr und J. N. Cunha Rodrigues, Generalanwalt: A. Tizzano, Kanzler: M.-F. Contet, Verwaltungsrätin |
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen |
von Herrn Oteiza Olazabal, vertreten durch D. Rouget, avocat, der französischen Regierung, vertreten durch R. Abraham, G. de Bergues und C. Chevallier als Bevollmächtigte, der spanischen Regierung, vertreten durch die Abogacia del Estado, der italienischen Regierung, vertreten durch U. Leanza als Bevollmächtigten im Beistand von F. Quadri, avvocato dello Stato, der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Martin und C. O'Reilly als Bevollmächtigte, aufgrund des Sitzungsberichts, nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Herrn Oteiza Olazabal, vertreten durch D. Rouget, der französischen Regierung, vertreten durch R. Abraham und C. Bergeot als Bevollmächtigte, der belgischen Regierung, vertreten durch A. Snoecx als Bevollmächtigte, der spanischen Regierung, vertreten durch die Abogacia del Estado, und der Kommission, vertreten durch D. Martin und C. O'Reilly, in der Sitzung vom 15. Januar 2002, |
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. April 2002 folgendes |
Urteil | |
1. Der Conseil d'État hat mit Beschluss vom 29. Dezember 2000, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Februar 2001, gemäß Artikel 234 EG eine Frage nach der Auslegung der Artikel 6, 8a und 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 12 EG, 18 EG und 39 EG) sowie der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, 56, S. 850), zur Vorabentscheidung vorgelegt.
| 1 |
2. Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem französischen Ministre de l'Intérieur (Innenminister) und dem spanischen Staatsangehörigen Oteiza Olazabal über die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen zur Beschränkung des Aufenthaltsrechts von Herrn Oteiza Olazabal auf einen Teil des französischen Hoheitsgebiets.
| 2 |
Rechtlicher Rahmen | |
Gemeinschaftsrecht | |
3. Artikel 6 Absatz 1 EG-Vertrag sieht vor:
| 3 |
"Unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrags ist in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten."
| 4 |
4. Artikel 8a Absatz 1 EG-Vertrag bestimmt:
| 5 |
"Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten."
| 6 |
5. Nach Artikel 48 EG-Vertrag gilt Folgendes:
| 7 |
"(1) Spätestens bis zum Ende der Übergangszeit wird innerhalb der Gemeinschaft die Freizügigkeit der Arbeitnehmer hergestellt. (2) Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. (3) Sie gibt - vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen - den Arbeitnehmern das Recht, a) sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben; b) sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen; c) sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben; (...)" | 8 |
6. Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 sieht vor:
| 9 |
"Diese Richtlinie betrifft die Vorschriften für die Einreise, die Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet, welche die Mitgliedstaaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen."
| 10 |
7. Artikel 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 64/221 bestimmt:
| 11 |
"(1) Bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit darf ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein. (2) Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne weiteres diese Maßnahmen nicht begründen." | 12 |
8. Nach Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 13) muss die Aufenthaltserlaubnis eines Wanderarbeitnehmers "für das gesamte Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der sie erteilt hat, gelten".
| 13 |
9. Artikel 10 der Richtlinie 68/360 lautet:
| 14 |
"Die Mitgliedstaaten dürfen nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichen."
| 15 |
Nationales Recht | |
10. Artikel 2 des Dekrets Nr. 46-448 vom 18. März 1946 zur Umsetzung der Artikel 8 und 36 der Verordnung vom 2. November 1945 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im französischen Hoheitsgebiet in der durch das Dekret Nr. 93-1285 vom 6. Dezember 1993 geänderten Fassung (JORF vom 8. Dezember 1993, S. 17045, im Folgenden: Dekret Nr. 46-448) bestimmt:
| 16 |
"Ausländer dürfen sich im französischen Hoheitsgebiet vorbehaltlich der Regelungen des Artikels 1 aufhalten und frei bewegen. Der Minister des Inneren kann jedoch durch Erlass bestimmte Departements bestimmen, in denen Ausländer vom Zeitpunkt der Veröffentlichung des Erlasses an keinen Wohnsitz nehmen dürfen, ohne zuvor vom Präfekten des Ortes, an den sie sich begeben wollen, eine Erlaubnis erhalten zu haben. Aufenthaltsgenehmigungen von Ausländern mit Wohnsitz in einem dieser Departements tragen einen besonderen Gültigkeitsvermerk für dieses Departement. Wenn ein Ausländer keine .carte de résident besitzt und aufgrund seines Verhaltens oder seiner Vergangenheit einer besonderen Überwachung zu unterstellen ist, kann der Minister des Inneren ihm den Aufenthalt in einem oder mehreren Departements untersagen. Der .Commissaire de la République [Präfekt] kann unter denselben Umständen den Geltungsbereich der Aufenthaltserlaubnis oder des anstelle derselben ausgestellten Titels des Betroffenen auf das Departement oder innerhalb desselben auf einen oder mehrere Bezirke seiner Wahl beschränken. Die Entscheidung des Ministers des Inneren und für die Dezentralisierung oder die des Beauftragten der Republik wird auf der Aufenthaltsgenehmigung des Betroffenen vermerkt. Ausländer im Sinne des vorstehenden Absatzes dürfen sich außerhalb des Geltungsbereichs ihrer Aufenthaltsgenehmigung nicht ohne einen vom Polizeikommissar oder, wenn ein solcher nicht vorhanden ist, von der Gendarmerie am Ort ihres Wohnsitzes ausgestellten Passierschein bewegen. Hat ein Ausländer seinen Wohnsitz oder seinen Aufenthalt in einem Gebiet unter Verstoß gegen diesen Artikel genommen, so finden die Strafen für Übertretungen der fünften Kategorie Anwendung." | 17 |
Ausgangsrechtsstreit | |
11. Aus dem Vorlagebeschluss und den Akten ergibt sich, dass Herr Oteiza Olazabal, ein spanischer Staatsangehöriger baskischer Herkunft, im Juli 1986 Spanien verließ und nach Frankreich einreiste, wo er seine Anerkennung als Flüchtling beantragte. Diese Anerkennung wurde ihm verweigert.
| 18 |
12. Am 23. April 1988 wurde Herr Oteiza Olazabal im Rahmen eines Verfahrens in der Folge der Entführung eines Industriellen in Bilbao (Spanien), zu der sich die ETA bekannt hatte, in Frankreich festgenommen. Am 8. Juli 1991 wurde er vom Tribunal de grande instance Paris (Frankreich), das in Strafsachen entschied, wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, die sich zum Ziel gesetzt hat, die öffentliche Ordnung durch Einschüchterung oder Terror zu erschüttern, zu 18 Monaten Freiheitsstrafe, davon acht Monate auf Bewährung, und zu vier Jahren Aufenthaltsverbot verurteilt.
| 19 |
13. Herr Oteiza Olazabal beantragte unter Berufung auf seine Eigenschaft als Gemeinschaftsbürger die Ausstellung einer .carte de résident. Die französischen Behörden lehnten seinen Antrag zwar ab, gewährten ihm aber vorläufige Aufenthaltsbewilligungen. Im Übrigen wurde er nach Artikel 2 des Dekrets Nr. 46-448 einer besonderen Überwachung unterstellt, die das Verbot umfasste, sich in neun Departements aufzuhalten. Diese Maßnahme galt bis Juli 1995.
| 20 |
14. 1996 zog Herr Oteiza Olazabal aus dem Departement Hauts-de-Seine (Region Ile-de-France), in dem er bis dahin gewohnt hatte, in das Departement Pyrénées-Atlantiques (Region Aquitaine) um, das an Spanien, und zwar an die Autonome Gemeinschaft des Baskenlands, grenzt.
| 21 |
15. Aufgrund von Polizeiberichten über fortbestehende Beziehungen von Herrn Oteiza Olazabal zur ETA untersagte ihm der Innenminister mit einer auf Artikel 2 des Dekrets Nr. 46-448 gestützten Verfügung vom 21. März 1996 den Aufenthalt in 31 Departements, um ihn von der spanischen Grenze fernzuhalten. Mit Verfügung vom 25. Juni 1996 verbot der Präfekt des Departements Hauts-de-Seine Herrn Oteiza Olazabal, dieses Departement ohne Erlaubnis zu verlassen.
| 22 |
16. Herr Oteiza Olazabal focht diese beiden Verfügungen beim Tribunal administratif Paris (Frankreich) an, das sie mit Urteil vom 7. Juli 1997 für nichtig erklärte. Diese Entscheidung wurde von der Cour administrative d'appel Paris (Frankreich) mit Urteil vom 18. Februar 1999 bestätigt.
| 23 |
17. Diese Gerichte waren der Auffassung, dass die Artikel 6, 8a, und 48 EG-Vertrag und die Bestimmungen der Richtlinie 64/221, so wie sie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 28. Oktober 1975 in der Rechtssache 36/75 (Rutili, Slg. 1975, 1219) ausgelegt habe, dem Erlass derartiger Maßnahmen gegenüber Herrn Oteiza Olazabal entgegenstünden.
| 24 |
18. Der Innenminister legte beim Conseil d'État Rechtsmittel gegen das Urteil der Cour administrative d'appel ein.
| 25 |
19. Der Conseil d'État führt zunächst aus, Artikel 8a EG-Vertrag räume zwar jedem Unionsbürger das Recht ein, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, doch stehe dies unter dem Vorbehalt der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen. Außerdem gelte das Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Artikel 6 EG-Vertrag nur im Anwendungsbereich des Vertrages und unbeschadet der dort enthaltenen besonderen Bestimmungen. Im Übrigen bestimme Artikel 48 EG-Vertrag zwar in Absatz 1, dass innerhalb der Gemeinschaft die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet sei, und in Absatz 3, dass diese Freiheit das Recht umfasse, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben und sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, sehe aber den ausdrücklichen Vorbehalt der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen vor.
| 26 |
20. Der Conseil d'État weist anschließend darauf hin, dass der in Artikel 48 Absatz 3 EG-Vertrag enthaltene Vorbehalt es den Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes erlaube, gegenüber den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung Maßnahmen in Form von Einreiseverboten oder der Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zu ergreifen, die sie bei ihren eigenen Staatsangehörigen nicht anwenden könnten.
| 27 |
21. Schließlich gebiete der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die zum Schutz der öffentlichen Ordnung ergriffenen Maßnahmen geeignet seien, das angestrebte Ziel zu erreichen, und nicht die Grenzen des hierzu Erforderlichen überschritten. Eine Maßnahme zur Beschränkung der räumlichen Geltung einer Aufenthaltsgenehmigung sei aber weniger einschneidend als eine Ausweisung.
| 28 |
22. Da der Conseil d'État im Licht dieser Überlegungen Zweifel hat, ob eine Maßnahme, mit der das Aufenthaltsrecht eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedsstaats auf einen Teil des nationalen Hoheitsgebiets begrenzt wird, im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht gültig ist, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
| 29 |
Ist es mit den Artikeln 6, 8a und 48 EG-Vertrag (jetzt Artikel 12 EG, 18 EG und 39 EG), dem im Gemeinschaftsrecht geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie mit den zur Durchführung des Vertrages erlassenen Bestimmungen des abgeleiteten Rechts, insbesondere der Richtlinie 64/221/EWG vom 25. Februar 1964, vereinbar, wenn ein Mitgliedstaat gegenüber einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der von den Bestimmungen des EG-Vertrags erfasst wird, eine der gerichtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle unterliegende ordnungsbehördliche Maßnahme erlässt, die den Aufenthalt dieser Person auf einen Teil des nationalen Hoheitsgebiets beschränkt, wenn seinem Aufenthalt im übrigen Hoheitsgebiet Gründe der öffentlichen Ordnung entgegenstehen, oder besteht in einem derartigen Fall die einzige aufenthaltsbeschränkende Maßnahme, die rechtmäßig gegenüber dieser Person ergriffen werden kann, darin, ihr nach nationalem Recht ein Aufenthaltsverbot für das gesamte Hoheitsgebiet zu erteilen?
| 30 |
Zur Vorlagefrage | |
23. Einleitend ist zu klären, welche Bestimmungen des Vertrages auf eine Rechtssache wie die des Ausgangsverfahrens anwendbar sind. In dieser Hinsicht ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Erklärungen, dass Herr Oteiza Olazabal während des ganzen für das Ausgangsverfahren maßgebenden Zeitraums als Arbeitnehmer in Frankreich gearbeitet hat.
| 31 |
24. Unter diesen Umständen fällt die Rechtssache in den Anwendungsbereich von Artikel 48 EG-Vertrag.
| 32 |
25. Eine Auslegung von Artikel 6 ist demnach nicht erforderlich. Diese Bestimmung, in der das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit niedergelegt ist, kann nämlich autonom nur in durch das Gemeinschaftsrecht geregelten Fällen angewandt werden, für die der Vertrag kein besonderes Diskriminierungsverbot vorsieht (vgl. u.a. Urteil vom 25. Juni 1997 in der Rechtssache C-131/96, Mora Romero, Slg. 1997, I-3659, Randnr. 10).
| 33 |
26. Ebenso ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 8a EG-Vertrag, in dem das Recht eines jeden Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in allgemeiner Form niedergelegt ist, in Artikel 48 EG-Vertrag einen besonderen Ausdruck in Bezug auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer findet. Da das Ausgangsverfahren unter die letztgenannte Bestimmung fällt, braucht über die Auslegung von Artikel 8a EG-Vertrag nicht entschieden zu werden (vgl. zur Niederlassungsfreiheit Urteil vom 29. Februar 1996 in der Rechtssache C-193/94, Skanavi und Chryssanthakopoulos, Slg. 1996, I-929, Randnr. 22).
| 34 |
27. Artikel 48 EG-Vertrag gewährleistet dem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats insbesondere das Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort eine Beschäftigung auszuüben. Nach Artikel 48 Absatz 3 EG-Vertrag kann dieses Recht jedoch insoweit beschränkt werden, als dies aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
| 35 |
28. In der Rechtssache Rutili, auf die sich das vorlegende Gericht bezieht, waren dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Begriffes der "aus Gründen der öffentlichen Ordnung ... gerechtfertigten Beschränkungen" vorgelegt worden, und er hat diesen Begriff in einer Reihe von Punkten erläutert.
| 36 |
29. Der Gerichtshof hat die Vorlagefragen erstens dahin beantwortet, dass die Wendung "vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung ... gerechtfertigten Beschränkungen" in Artikel 48 EG-Vertrag nicht nur die Rechts- und Verwaltungsvorschriften betrifft, die jeder Mitgliedstaat zur Beschränkung der Freizügigkeit und des Aufenthalts von Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten in seinem Staatsgebiet erlassen hat, sondern auch in Anwendung solcher Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erlassene Einzelentscheidungen.
| 37 |
30. Er hat zweitens ausgeführt, dass die Berechtigung von Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung anhand aller Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zu beurteilen ist, die dazu bestimmt sind, zum einen das freie Ermessen der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet zu beschränken und zum anderen die Verteidigung der Rechte von Personen zu garantieren, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung freiheitsbeschränkenden Maßnahmen unterworfen werden.
| 38 |
31. Der Gerichtshof hat ergänzt, dass sich solche Beschränkungen und Garantien insbesondere aus der den Mitgliedstaaten auferlegten Verpflichtung ergeben, Maßnahmen ausschließlich aufgrund des persönlichen Verhaltens der betroffenen Personen zu erlassen, sich auf diesem Gebiet aller Maßnahmen zu enthalten, die anderen Zielen als den Erfordernissen der öffentlichen Ordnung dienen oder die Ausübung der gewerkschaftlichen Rechte beeinträchtigen könnten, jeder von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen betroffenen Person - außer wenn Gründe der Sicherheit des Staates entgegenstehen - unverzüglich die Gründe mitzuteilen, auf die sich die Entscheidung stützt, und endlich die Möglichkeit zur Einlegung zweckentsprechender Rechtsbehelfe zu gewährleisten.
| 39 |
32. Insbesondere hat der Gerichtshof entschieden, dass für einen Teil des Staatsgebiets geltende Beschränkungen des Aufenthaltsrechts von einem Mitgliedstaat gegenüber Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten, für die die Bestimmungen des Vertrages gelten, nur in den Fällen und unter den Voraussetzungen ausgesprochen werden können, in denen solche Maßnahmen gegenüber den eigenen Staatsangehörigen des betreffenden Staates angewandt werden können.
| 40 |
33. Um dem vorlegenden Gericht in dieser Rechtssache eine zweckdienliche Antwort zu geben, ist diese letzte Antwort, die für das Ausgangsverfahren von zentraler Bedeutung ist, in ihren Zusammenhang zu stellen.
| 41 |
34. Dazu ist daran zu erinnern, dass die Rechtssache Rutili den Fall eines italienischen Staatsangehörigen betraf, der seit seiner Geburt in Frankreich gelebt hatte und in diesem Mitgliedstaat wegen seiner politischen und gewerkschaftlichen Tätigkeit Maßnahmen unterworfen wurde, die sein Aufenthaltsrecht beschränkten. Ihm wurden bestimmte Handlungen vorgeworfen, die im Wesentlichen in politischen Aktionen während der Parlamentswahlen im März 1967 und während der Ereignisse im Mai/Juni 1968 sowie in seiner Beteiligung an einer Demonstration während der Gedenkfeier zum 14. Juli 1968 bestanden.
| 42 |
35. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens wurde dagegen in Frankreich wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, die sich zum Ziel gesetzt hat, die öffentliche Ordnung durch Einschüchterung oder Terror zu erschüttern, zu 18 Monaten Freiheitsstrafe und zu vier Jahren Aufenthaltsverbot verurteilt. Aus den Akten ergibt sich, dass die ihm gegenüber getroffenen ordnungsbehördlichen Maßnahmen, um deren Rechtmäßigkeit es im Ausgangsverfahren geht, dadurch veranlasst wurden, dass er einer bewaffneten und organisierten Gruppe angehörte, deren Tätigkeit die öffentliche Ordnung im französischen Hoheitsgebiet beeinträchtigt. Die Verhinderung einer solchen Tätigkeit kann im Übrigen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit zugeordnet werden.
| 43 |
36. Zudem hatte in der Rechtssache Rutili das vorlegende Gericht Zweifel, ob ein konkreter Fall wie der von Herrn Rutili, der seine gewerkschaftlichen Rechte ausgeübt hatte, es erlaube, eine Maßnahme zum Schutz der öffentlichen Ordnung zu treffen. In der vorliegenden Rechtssache geht das vorlegende Gericht dagegen von der Prämisse aus, dass Gründe der öffentlichen Ordnung dem Aufenthalt des Wanderarbeitnehmers, um den es im Ausgangsverfahren geht, in einem Teil des Hoheitsgebiets entgegenstehen und dass diese Gründe ein Aufenthaltsverbot für das gesamte Hoheitsgebiet rechtfertigen könnten, wenn ein auf diesen Teil des Hoheitsgebiets beschränktes Aufenthaltsverbot nicht erlassen werden könnte.
| 44 |
37. Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob Artikel 48 EG-Vertrag es einem Mitgliedstaat verwehrt, gegenüber einem Wanderarbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, ordnungsbehördliche Maßnahmen zu treffen, mit denen das Aufenthaltsrecht dieses Wanderarbeitnehmers auf einen Teil des nationalen Hoheitsgebiets beschränkt wird.
| 45 |
38. Wie der Generalanwalt in Nummer 29 seiner Schlussanträge zu Recht betont, ergibt sich aus dem Wortlaut des Artikels 48 Absatz 3 EG-Vertrag nicht, dass die aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigten Beschränkungen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer immer dieselbe räumliche Reichweite haben müssen wie die von dieser Bestimmung verliehenen Rechte. Das abgeleitete Recht steht dieser Auslegung im Übrigen nicht entgegen. Zwar muss nach Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 68/360 die Aufenthaltserlaubnis für das gesamte Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der sie erteilt hat, gelten; Artikel 10 dieser Richtlinie lässt aber Ausnahmen von dieser Bestimmung u.a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung zu.
| 46 |
39. Es ist darauf zu verweisen, dass der in Artikel 48 Absatz 3 EG-Vertrag enthaltene Vorbehalt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet, angesichts einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, die Freizügigkeit von Arbeitnehmern einzuschränken (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Oktober 1977 in der Rechtssache 30/77, Bouchereau, Slg. 1977, 1999, Randnr. 35, und vom 5. Februar 1991 in der Rechtssache C-363/89, Roux, Slg. 1991, I-273, Randnr. 30).
| 47 |
40. Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass die in Artikel 48 EG-Vertrag und Artikel 56 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 46 EG) enthaltenen Vorbehalte es den Mitgliedstaaten erlauben, gegenüber den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten u.a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung Maßnahmen zu ergreifen, die sie insofern bei ihren eigenen Staatsangehörigen nicht anwenden könnten, als sie nicht die Befugnis haben, diese auszuweisen oder ihnen die Einreise in das nationale Hoheitsgebiet zu untersagen (vgl. Urteile vom 4. Dezember 1974 in der Rechtssache 41/74, Van Duyn, Slg. 1974, 1337, Randnrn. 22 und 23, vom 18. Mai 1982 in den Rechtssachen 115/81 und 116/81, Adoui und Cornuaille, Slg. 1982, 1665, Randnr. 7, vom 17. Juni 1997 in den Rechtssachen C-65/95 und C-111/95, Shingara und Radiom, Slg. 1997, I-3343, Randnr. 28, und vom 19. Januar 1999 in der Rechtssache C-348/96, Calfa, Slg. 1999, I-11, Randnr. 20).
| 48 |
41. Wenn Umstände vorliegen, unter denen Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten ausgewiesen werden können oder ihnen der Aufenthalt verboten werden kann, dann können ihnen gegenüber auch mildere Maßnahmen in Form partieller Aufenthaltsbeschränkungen getroffen werden, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sind, ohne dass es erforderlich wäre, dass der fragliche Mitgliedstaat die gleichen Maßnahmen auch gegenüber seinen eigenen Staatsangehörigen anwenden kann.
| 49 |
42. Allerdings kann ein Mitgliedstaat nicht aufgrund des in den Artikeln 48 und 56 EG-Vertrag enthaltenen Vorbehalts der öffentlichen Ordnung Maßnahmen gegenüber einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats treffen wegen eines Verhaltens, das für die Angehörigen des erstgenannten Mitgliedstaats keine repressiven oder anderen tatsächlichen und effektiven Maßnahmen zu seiner Bekämpfung zur Folge hätte (vgl. in diesem Sinne das Urteil Adoui und Cornuaille, Randnr. 9).
| 50 |
43. Zudem kann eine Maßnahme, mit der eine der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten eingeschränkt wird, nur gerechtfertigt sein, wenn sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet. In dieser Hinsicht muss eine solche Maßnahme geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (Urteil vom 30. November 1995 in der Rechtssache C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165, Randnr. 37).
| 51 |
44. Im Übrigen ist es Sache der nationalen Gerichte, zu kontrollieren, ob sich die im konkreten Fall getroffenen Maßnahmen tatsächlich auf ein individuelles Verhalten beziehen, das eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit darstellt, und ob sie zudem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten.
| 52 |
45. Folglich ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass weder Artikel 48 EG-Vertrag noch die Bestimmungen des abgeleiteten Rechts zur Durchführung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer es einem Mitgliedstaat verwehren, gegenüber einem Wanderarbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, ordnungsbehördliche Maßnahmen zu treffen, mit denen das Aufenthaltsrecht dieses Arbeitnehmers auf einen Teil des nationalen Hoheitsgebiets beschränkt wird, sofern
| 53 |
- auf sein individuelles Verhalten gestützte Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit es rechtfertigen, - diese Gründe ohne die Möglichkeit einer teilweisen Beschränkung wegen ihrer Schwere nur zu einem Aufenthaltsverbot oder zu einer Entfernung aus dem gesamten nationalen Hoheitsgebiet führen können und - das Verhalten, das der betreffende Mitgliedstaat verhindern will, dann, wenn es von seinen eigenen Staatsangehörigen ausgeht, repressive oder andere tatsächliche und effektive Maßnahmen zu seiner Bekämpfung zur Folge hat. | 54 |
Kosten | |
46. Die Auslagen der französischen, der belgischen, der spanischen und der italienischen Regierung sowie der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
| 55 |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof die ihm vom Conseil d'État mit Beschluss vom 29. Dezember 2000 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
| 56 |
Weder Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) noch die Bestimmungen des abgeleiteten Rechts zur Durchführung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer verwehren es einem Mitgliedstaat, gegenüber einem Wanderarbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, ordnungsbehördliche Maßnahmen zu treffen, mit denen das Aufenthaltsrecht dieses Arbeitnehmers auf einen Teil des nationalen Hoheitsgebiets beschränkt wird, sofern |
- auf sein individuelles Verhalten gestützte Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit es rechtfertigen, |
- diese Gründe ohne die Möglichkeit einer teilweisen Beschränkung wegen ihrer Schwere nur zu einem Aufenthaltsverbot oder zu einer Entfernung aus dem gesamten nationalen Hoheitsgebiet führen können und |
- das Verhalten, das der betreffende Mitgliedstaat verhindern will, dann, wenn es von seinen eigenen Staatsangehörigen ausgeht, repressive oder andere tatsächliche und effektive Maßnahmen zu seiner Bekämpfung zur Folge hat. | |
Rodriguez Iglesias, Puissochet, Wathelet, Schintgen, Gulmann, Edward, La Pergola, Jann, Skouris, Macken, Colneric, von Bahr, Cunha Rodrigues | |
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 26. November 2002.
| 57 |
R. Grass (Der Kanzler), G. C. Rodriguez Iglesias (Der Präsident) | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |