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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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21. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung |
vom 11. März 1994 |
i.S. Obersee Nachrichten AG gegen Schweizerische PTT-Betriebe |
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 55 und Art. 31 BV, Art. 14 in Verbindung mit Art. 10 EMRK, Art. 39 Abs. 2 lit. a PVV; Anwendbarkeit der Zeitungstaxe auf eine Gratispublikation (Obersee Nachrichten). |
Profitiert eine Gratispublikation nicht von der indirekten Presseförderung über vergünstigte PTT-Taxen, weil sie dem Empfänger nicht "aufgrund eines entgeltlichen Abonnementsvertrages" laufend mit der Post zugestellt wird (Art. 39 Abs. 2 lit. a PVV), verletzt dies weder Art. 55 beziehungsweise Art. 31 BV (E. 3) noch Art. 14 in Verbindung mit Art. 10 EMRK (E. 4). | |
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A.- Die "Obersee Nachrichten" sind eine wöchentlich erscheinende "Gratiszeitung" mit einer Auflage von rund 41'000 Exemplaren, die zu etwa 75 Prozent privat und zu 25 Prozent auf dem Postweg verteilt werden, wobei die Schweizerischen PTT-Betriebe für die 800 abonnierten Exemplare die Zeitungstaxe, für die restliche Auflage den weniger günstigen Tarif für "Sendungen ohne Adresse" anwenden.
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Am 16. Juli 1991 beantragte die Obersee Nachrichten AG, auf allen durch die PTT-Betriebe transportierten Exemplaren nur mehr die Zeitungstaxe zu erheben, was die Kreispostdirektion Zürich mit Schreiben vom 23. Juli 1991 gestützt auf Art. 39 Abs. 2 lit. a der Verordnung (1) zum Postverkehrsgesetz vom 1. September 1967 (PVV, SR 783.01) ablehnte. Die Sektion Tarifwesen Inland und Kundendienst bestätigte diesen Entscheid am 10. Dezember 1991; am 22. April 1992 wies die Generaldirektion der Schweizerischen PTT-Betriebe eine hiergegen gerichtete Beschwerde ab. Sie ging davon aus, dass nur solche Publikationen in den Genuss der Zeitungstaxe kämen, deren Empfang der Bezüger wünsche. Den entsprechenden Willen bekunde er durch den Abschluss eines entgeltlichen Abonnementsvertrags, woran es bei einer Gratispublikation definitionsgemäss fehle.
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Die Obersee Nachrichten AG hat am 25. Mai 1992 beim Bundesgericht hiergegen Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht. Sie macht geltend, es sei verfassungs- (Art. 31 und Art. 55 BV) und konventionswidrig (Art. 10 in ![]() ![]() | 3 |
Auszug aus den Erwägungen: | |
aus folgenden Erwägungen:
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Erwägung 3 | |
3.- a) Art. 55 BV garantiert die Pressefreiheit und gewährt dem Bürger das Recht, seine Meinung mit den Mitteln der Druckerpresse in der Öffentlichkeit zu verbreiten (BGE 113 Ia 309 E. 4b S. 316 mit Hinweisen). Als Presseerzeugnisse, die in den Anwendungsbereich von Art. 55 BV fallen, gelten Publikationen - auch Lithographien, Photographien, Heliographien oder Vervielfältigungen -, die zur Veröffentlichung bestimmt sind und mit denen ideelle Zwecke verfolgt werden (BGE 108 Ib 142 E. 2e S. 146; JÖRG PAUL MÜLLER in Kommentar BV, Art. 55, Rz. 15). Durch die staatspolitisch motivierte indirekte Presseförderung über nicht kostendeckende PTT-Taxen wird in dieses Recht - soweit die Publikation der Beschwerdeführerin ideellen Gehalt aufweist - nicht eingegriffen. Die beanstandete Regelung hindert die Beschwerdeführerin nicht, ihre Meinung mit den Mitteln der Druckerpresse zu verbreiten, denn sie beschlägt nicht den Inhalt ihres Produkts, sondern lediglich und in untergeordnetem Masse dessen kommerziellen Vertrieb; die aufgeworfene Frage ist demnach in erster Linie unter dem Gesichtswinkel der Handels- und Gewerbefreiheit zu prüfen.
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b) Nach Art. 31 BV hat sich der Staat grundsätzlich wettbewerbsneutral zu verhalten; Massnahmen der Wirtschaftsförderung dürfen in der Regel die Handels- und Gewerbefreiheit nicht verletzen. Die Bundesverfassung schliesst aber nicht schlechterdings jede wirtschaftsbezogene staatliche Regelung aus (vgl. Art. 31bis Abs. 2 BV). Staatliche Förderungsmassnahmen, die der Wahrung oder Wiederherstellung des Wettbewerbs im Interesse der Information und pluralistischen Meinungsbildung dienen, sind unabhängig ![]() ![]() | 6 |
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bb) Abonnierte Zeitungen und Zeitschriften nehmen die spezifische Aufgabe der Presse im pluralistischen Staat (vgl. hierzu BGE 109 II 353 E. 3 S. 358) gerade auch wegen ihres Vertriebssystems besser wahr als ![]() ![]() | 8 |
cc) Das Vorliegen eines entgeltlichen Abonnementsvetrags stellt ein formales, durch die PTT-Betriebe einfach zu kontrollierendes Erfordernis dar, das eine verpönte staatliche Inhaltskontrolle weitgehend erübrigt und stattdessen an den bekundeten Willen des Abonnenten, das heisst an dessen inhaltliche Beurteilung des Presseprodukts, anknüpft. Zwar erfüllte auch eine einfache schriftliche Erklärung des Lesers diesen Zweck, das Ziel der indirekten Förderungsmassnahme würde damit aber unterlaufen. Die vergünstigten Transporttaxen sollen den Abonnements- bzw. den Verkaufspreis ![]() ![]() | 9 |
dd) Gratisanzeiger werden als eine der Ursachen für die Pressekonzentration bezeichnet (vgl. Bericht der Expertenkommission vom 1. Mai 1975 für die Revision von Art. 55 der Bundesverfassung, S. 25; KURT NUSPLIGER, Pressefreiheit und Pressevielfalt, Diss. BE 1980, S. 132); neuere Publikationen verweisen zwar darauf, dass sich eine Schädigung der Presse durch Gratisanzeiger gesamthaft nicht nachweisen lasse, bestreiten aber nicht, dass es in einzelnen Fällen immer wieder vorkommen wird, dass die Konkurrenz eines Gratisanzeigers tatsächlich zur Einstellung einer Zeitung führt (Christoph Schmid, Gratisanzeiger und Pressewettbewerb, Diss. ZH 1983, S. 50 mit Hinweisen). Gratispublikationen lassen sich von anderen Zeitungen nur über ihr Vertriebssystem verlässlich abgrenzen (vgl. CHRISTOPH SCHMID, a.a.O., S. 35), weshalb auch vor diesem Hintergrund die Anknüpfung an einen entgeltlichen Abonnementsvertrag verfassungsrechtlich haltbar erscheint.
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ee) Die Konstruktion der Beschwerdeführerin, wonach bei einer Gratiszeitung der Inserent über höhere Insertionskosten ein entgeltliches Abonnement zugunsten jedes Empfängers im Einzugsgebiet bezahle, überzeugt nicht. Der Inserent will über den Insertionsvertrag eine Werbebotschaft verbreiten lassen; einen allenfalls höheren Insertionspreis bezahlt er wegen der breiteren Streuung des Werbeträgers, nicht aber um jedem einzelnen Haushalt im Einzugsgebiet ein Forderungsrecht auf die Gratispublikation einzuräumen. Von einem Geschenkabonnement zugunsten eines Dritten kann nicht Rede sein. Die Beschwerdeführerin behauptet schliesslich auch vergeblich, ihr Produkt werde grundlos schlechter behandelt als die Amtsanzeiger; bei diesen handelt es sich mit Blick auf ihren Mindestanteil von 15 Prozent an amtlichen Mitteilungen um Titel, die der Mitgliedschaftspresse zugerechnet ![]() ![]() | 11 |
Erwägung 4 | |
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b) aa) Die im Fall Autronic vom Gerichtshof zum Satellitenfernsehen angestellten Überlegungen können nicht unbesehen auf die vorliegende Problematik übertragen werden. In jenem Entscheid stand ein Empfangsverbot zur Diskussion, vorliegend geht es um eine indirekte staatliche Förderungsmassnahme, von der die Beschwerdeführerin nur soweit profitiert, als sie die entsprechenden Voraussetzungen nach dem nationalen Gesetzesrecht erfüllt. Sie wird nicht behindert, ihre Informationen zu verbreiten; die beanstandete Ungleichbehandlung stellt lediglich sicher, dass dies auch noch andere tun können, die - auch wegen des gewählten Vertriebssystems (Abonnement) - die besondere Funktion der Presse in der demokratischen Gesellschaft besser wahrnehmen (Leserbindung, verlegerische Unabhängigkeit über diversifizierte Finanzierung) als eine über einen redaktionellen Teil verfügende, in erster Linie aber auf Inserentenbedürfnisse ausgerichtete Gratispublikation. Kann sich auf Art. 10 EMRK auch berufen, wer kommerzielle Zwecke verfolgt, schützt diese Bestimmung doch nicht hauptsächlich solche Interessen; die Konventionsgarantie selber kann vielmehr gerade gebieten, übermässige Pressekonzentrationen zu verhindern (vgl. Bericht der Europäischen Menschenrechtskommission und Resolution des Ministerrates i.S. De Geillustreerde Pers N.V. gegen Niederlande, DR 8/1977 S. 25 Ziff. 88 bzw. S. 29; MARTIN BULLINGER, "Liberté d'expression et d'information: élément essentiel de la démocratie", in: Actes du Sixième colloque international sur la Convention européenne des droits de l'homme, Dordrecht/Boston/London ![]() ![]() | 13 |
bb) Art. 10 in Verbindung mit Art. 14 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten nicht, alle berechtigten Personen unterschiedslos gleich zu behandeln. Eine Massnahme oder Regelung ist nur dann diskriminatorisch, wenn sie hinsichtlich der Gewährleistung des Genusses eines Konventionsrechts zwischen Personen oder Personengruppen unterscheidet, die sich in vergleichbarer Situation befinden, die Unterscheidung eines objektiven und angemessenen Rechtfertigungsgrunds entbehrt oder wenn zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel kein angemessenes Verhältnis besteht.
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Art. 14 EMRK geht somit nicht über das allgemeine Rechtsgleichheitsgebot in Art. 4 Abs. 1 BV hinaus (BGE 118 Ia 341 E. 4a S. 351).
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Gratispublikationen und die vom Gesetzgeber als förderungswürdig bezeichnete Presse unterscheiden sich - wie dargelegt - im Vertriebssystem; es erscheint deshalb bereits zweifelhaft, ob sich die Beschwerdeführerin überhaupt in der von der Rechtsprechung zu Art. 14 EMRK geforderten "vergleichbaren Situation" mit jenen Publikationen befindet, deren indirekte Förderung sie beanstandet (vgl. FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, S. 315 Rz. 19 ff.; die Kommission verneinte das Vorliegen einer vergleichbaren Situation bei einem Wochenblatt, das detaillierte Fernsehprogramme zu veröffentlichen suchte, gegenüber der Tagespresse, die summarische Programmangaben enthielt, und gegenüber im Ausland erscheinenden Publikationen; DR 8/1977 S. 27/28). Auf jeden Fall ist die Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt und verhältnismässig: Die indirekte Presseförderung soll dazu beitragen, eine möglichst vielfältige Presse zu erhalten (Art. 10 Abs. 1 Satz 2 PVG, Postverkehrsgesetz, SR 783.0). Es kann dabei darauf abgestellt werden, ob und wie eine bestimmte Publikation die spezifische Aufgabe der Presse für die Allgemeinheit wahrnimmt; das Erfordernis eines entgeltlichen Abonnementsvertrags stellt hierfür ein geeignetes Kriterium dar; von einer Diskriminierung im Sinn von Art. 14 in Verbindung mit Art. 10 EMRK kann nicht die Rede sein. ![]() | 16 |
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