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Informationen zum Dokument  BGer 6S.346/2000  Materielle Begründung
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BGer 6S.346/2000 vom 15.08.2000
 
[AZA 0]
 
6S.346/2000/odi
 
KASSATIONSHOF
 
*************************
 
15. August 2000
 
Es wirken mit: Bundesgerichtspräsident Schubarth,
 
Präsident des Kassationshofes, Bundesrichter
 
Wiprächtiger, Bundesrichterin Escher und Gerichtsschreiber Boog.
 
---------
 
In Sachen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Z u g, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
G.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger, Schwanenplatz 7, Luzern,
 
betreffend
 
Einstellung des Verfahrens wegen Verletzung des
 
Beschleunigungsgebotes (Betrug, Art. 148 aStGB), (Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zug, Strafrechtliche Abteilung [SO 1999/7] vom 16.5.2000), hat sich ergeben:
 
A.- Das Verhöramt des Kantons Zug eröffnete aufgrund verschiedener, in den Jahren 1985, 1987 und 1991 erstatteter Strafanzeigen gegen G.________ ein Strafverfahren wegen Vermögens- und Urkundendelikten. Gegenstand des Verfahrens bildeten das Verhalten von G.________ als Verantwortlicher der R.________ AG in Cham sowie als Anspruchsberechtigter gegen seine Unfallversicherung und gegen die Haftpflichtversicherung des fehlbaren Autolenkers infolge eines am 18. Juli 1993 erlittenen Verkehrsunfalls.
 
Die Ermittlungen wurden vom Verhöramt am 17. August 1993 abgeschlossen und das Verfahren wegen Veruntreuung und ungetreuer Geschäftsführung zufolge Eintritts der absoluten Verjährung eingestellt. Am 18. Mai 1994 erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug Anklage beim Strafgericht. Die erstinstanzliche Hauptverhandlung fand am 29. September 1995 statt.
 
B.-Das Strafgericht des Kantons Zug erklärte G.________ mit Urteil vom 16. Juli 1999 des mehrfachen Betruges und des versuchten Betruges, des gewerbsmässigen Betruges, der mehrfachen Urkundenfälschung sowie des mehrfachen betrügerischen Konkurses schuldig und verurteilte ihn zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus, unter Anrechnung von 2 Tagen Untersuchungshaft. Von der Anklage des mehrfachen Betruges in drei Fällen, der Urkundenfälschung in zwei Fällen und der Gehilfenschaft zum Versuch des Pfändungsbetrugs sprach es ihn frei. Eine hiegegen von G.________ geführte Berufung hiess das Obergericht des Kantons Zug mit Urteil vom 16. Mai 2000 teilweise gut, hob die Schuldsprüche der ersten Instanz auf und stellte das Strafverfahren ein. Im Übrigen wies es die Berufung ab, soweit es darauf eintrat, und bestätigte das erstinstanzliche Urteil, soweit es nicht bereits in Rechtskraft erwachsen war.
 
C.- Gegen diesen Entscheid führt die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Angelegenheit im Sinne der Erwägungen zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
D.- Das Obergericht des Kantons Zug schliesst in seinen Gegenbemerkungen auf Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde.
 
G.________ beantragt in seiner Vernehmlassung ebenfalls die Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde. Er stellt für das Verfahren vor Bundesgericht das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Die Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts ist gemäss Art. 268 Ziff. 2 BStP zulässig gegen Einstellungsbeschlüsse letzter Instanz. Der öffentliche Ankläger ist zur Erhebung der Beschwerde legitimiert (Art. 270 Abs. 1 BStP).
 
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ist rein kassatorischer Natur; sie führt im Falle der Gutheissung zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Rückweisung der Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz (Art. 277ter Abs. 1 BStP). Auf die Rechtsbegehren kann deshalb nur in diesem Rahmen eingetreten werden (BGE 118 IV 277 E. 1).
 
2.- a) Die Beschwerdeführerin beantragt in ihrem Rechtsbegehren die vollumfängliche Aufhebung des angefochtenen Urteils. Aus der Begründung ihres Antrages geht indessen hervor, dass sich die Beschwerde nur gegen die Einstellung des Strafverfahrens in einem von drei Fällen richtet (Art. 277bis Abs. 1 BStP). Hinsichtlich der übrigen zwei Fälle wird das Urteil der Vorinstanz nicht angefochten.
 
b) Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe durch die Einstellung des Strafverfahrens im Fall C Bundesrecht verletzt. Zwar liege auch hinsichtlich dieses Anklagepunktes eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes vor, doch beschränke sich diese im Gegensatz den Fällen A und B auf das Verfahren vor Strafgericht.
 
Zudem seien durch das Verhalten des Beschwerdegegners Dritte geschädigt worden. Diesen Umständen hätte im Rahmen der Strafzumessung mit der Aussprechung einer bloss bedingten Zuchthausstrafe Rechnung getragen werden können. Die Einstellung des Verfahrens sei unverhältnismässig.
 
3.- a) Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache innert angemessener Frist gehört wird. Die Frage, ob dieses so genannte Beschleunigungsgebot verletzt wurde, betrifft die unmittelbare Verletzung der Bundesverfassung bzw. der EMRK, die mit staatsrechtlicher Beschwerde aufzuwerfen ist. Welche Folgen eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes auf die Auslegung und Anwendung eidgenössischen Strafrechts hat, betrifft demgegenüber die mittelbare Verletzung von Art. 29 Abs. 1 BV (Art. 4 aBV) und Art. 6 Ziff. 1 EMRK.
 
Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde kann gerügt werden, das Bundesrecht sei nicht verfassungs- bzw. konventionsgemäss ausgelegt und angewendet worden (BGE 119 IV 107 E. 1b).
 
Das Beschleunigungsgebot verpflichtet die Behörden, das Strafverfahren zügig voranzutreiben, um den Beschuldigten nicht unnötig über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe im Ungewissen zu lassen. Es unterscheidet sich vom Institut der Verjährung, welches ausschliesslich auf die Dauer seit der Tat abstellt, sowie vom Strafmilderungsgrund der seit der Tat verstrichenen verhältnismässig langen Zeit, welcher nur anwendbar ist, wenn die relative Verjährung nahe ist, und nur bei Wohlverhalten des Täters in Frage kommt. Wird eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes festgestellt, ist diesem Umstand angemessen Rechnung zu tragen. Nach der Rechtsprechung kommen dabei folgende Sanktionen in Betracht: Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung im Rahmen der Strafzumessung; Einstellung des Verfahrens zufolge eingetretener Verjährung; Schuldigsprechung des Täters unter gleichzeitigem Verzicht auf Strafe; in extremen Fällen als ultima ratio Einstellung des Verfahrens. Bei der Frage nach der Sanktion einer Verletzung des Beschleunigungsgebotes ist einerseits zu berücksichtigen, wie schwer der Beschuldigte durch die Verfahrensverzögerung getroffen wurde, andererseits aber auch, wie gravierend die ihm vorgeworfenen Straftaten sind und welche Strafe ausgesprochen werden müsste, wenn keine Verletzung des Beschleunigungsgebotes vorliegen würde. Rechnung zu tragen ist schliesslich auch den Interessen der Geschädigten (BGE 117 IV 124 E. 4e).
 
Der Richter ist verpflichtet, die Verletzung des Beschleunigungsgebotes in seinem Urteil ausdrücklich festzuhalten und gegebenenfalls darzulegen, in welchem Ausmass er diesen Umstand berücksichtigt hat (BGE 124 I 139 E. 2a; 117 IV 124 E. 4).
 
b) Aus dem angefochtenen Entscheid geht hervor, dass das gesamte gegen den Beschwerdegegner geführte Ermittlungsverfahren eine Verzögerung von zwei Jahren und die erstinstanzliche Beurteilung der Anklage eine solche von rund vier Jahren erlitten hat. Der Beschwerdegegner wusste im Zeitpunkt der Anklageerhebung seit mehr als acht Jahren von dem gegen ihn geführten Strafverfahren.
 
Die Vorinstanz betont, dass die Angelegenheit für ihn, der gesundheitlich zweifellos angeschlagen sei, durch den Antrag der Staatsanwaltschaft auf 3 1/2 Jahre Zuchthaus eine derartige Bedeutung erlangt habe, dass eine beschleunigte Behandlung unabdingbar gewesen wäre. Sie erachtet daher die Einstellung des Verfahrens trotz der Geschädigteninteressen als angezeigt.
 
Mit diesen Erwägungen würdigt die Vorinstanz den Gang des gesamten Verfahrens von der ersten Strafanzeige bis zur Berufungsverhandlung, ohne zwischen den Strafuntersuchungen für die drei verschiedenen Fälle zu unterscheiden.
 
Es fällt aber auf, dass die in der Untersuchungsphase eingetretene Verschleppung von über zwei Jahren nur die Fälle A und B, nicht hingegen den auf die Strafanzeige vom 25. Juli 1991 zurückgehenden Fall C betrifft, weshalb die Vorinstanz diesbezüglich auch keine von den Behörden zu vertretende Verletzung des Beschleunigungsgebotes festgestellt hat. Zwar wusste der Beschwerdegegner seit mehr als acht Jahren, dass von der Staatsanwaltschaft gegen ihn Anklage erhoben wurde. Davon fallen jedoch nur knapp drei Jahre auf den Fall C. Die alsdann vor Strafgericht eingetretene Verzögerung von rund vier Jahren betrifft demgegenüber alle drei Fälle.
 
Gleichwohl kann die Verletzung des Beschleunigungsgebotes nur dann durch die Einstellung des Verfahrens sanktioniert werden, wenn zuvor begründet wird, weshalb dies nicht im Rahmen der Strafzumessung geschehen kann oder warum diesem Umstand nicht gegebenenfalls dadurch Rechnung getragen werden kann, dass der Betroffene zwar schuldig gesprochen, von der Strafe aber Umgang genommen wird.
 
Im Lichte der in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze erweist sich der angefochtene Entscheid damit als bundesrechtswidrig. Zwar betont die Vorinstanz, dass die Verfahrenseinstellung nur als letzte Massnahme in Frage komme, doch führt sie mit keinem Wort an, weshalb eine weniger weitgehende Sanktion nicht ausreicht. Zudem wird der persönlichen Betroffenheit des Angeschuldigten und der Drohung einer unbedingten Freiheitsstrafe gegenüber den Geschädigteninteressen ein zu grosses Gewicht eingeräumt, handelt es sich doch im vorliegenden Fall um nicht leicht zu nehmende Vorwürfe.
 
Die Vorinstanz hat daher ihr Ermessen verletzt. Die Beschwerde erweist sich als begründet.
 
4.- Aus diesen Gründen ist die Beschwerde gutzuheissen.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdegegner die Kosten zu tragen (Art. 278 Abs. 1 BStP). Er stellt jedoch ein Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege. Gemäss Art. 152 OG gewährt das Bundesgericht einer bedürftigen Partei, deren Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint, Befreiung von der Zahlung der Gerichtskosten. Angesichts der unzureichend belegten Bedürftigkeit kann sein Gesuch nicht gutgeheissen werden.
 
Indessen ist in Anbetracht der speziellen Umstände auf die Erhebung einer Gerichtsgebühr zu verzichten.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.- Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zug, Strafrechtliche Abteilung, vom 16. Mai 2000 wird in Bezug auf die Verfahrenseinstellung im Fall C aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2.- Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.- Es werden keine Kosten erhoben.
 
4.- Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht (Strafrechtliche Abteilung) des Kantons Zug schriftlich mitgeteilt.
 
______________
 
Lausanne, 15. August 2000
 
Im Namen des Kassationshofes
 
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
 
Der Präsident:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
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