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Informationen zum Dokument  BGer I 731/2001  Materielle Begründung
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BGer I 731/2001 vom 03.06.2002
 
[AZA 7]
 
I 731/01 Vr
 
II. Kammer
 
Präsident Schön, Bundesrichter Ursprung und nebenamtlicher
 
Richter Maeschi; Gerichtsschreiber Flückiger
 
Urteil vom 3. Juni 2002
 
in Sachen
 
C.________, 1971, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hansjörg Bolliger, Sihlfeldstrasse 10, 8003 Zürich,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, Beschwerdegegnerin,
 
und
 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
 
A.- Der 1971 geborene C.________ erlitt am 22. November 1991 bei der Arbeit als Automechaniker einen bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) versicherten Unfall, welcher eine Teilamputation der Fingerendglieder II-IV der linken Hand zur Folge hatte. Am 14. Juli 1992 meldete er sich zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Mit Verfügung vom 18. Juli 1994 kam diese für die Kosten einer Umschulung (dreijährige Lehre) zum Topfpflanzen- und Schnittblumengärtner ab
 
1. Juli 1994 auf. Nach dem Lehrabschluss am 14. August 1997 fand C.________ keine Stelle und bezog Arbeitslosenentschädigung.
 
Ab dem 1. Januar 1998 war er während fünf Monaten als Chauffeur/Allrounder bei einer Firma angestellt.
 
Hierauf nahm er eine Tätigkeit als Hundespazierführer auf, womit er seinen Angaben zufolge ein Einkommen von etwa Fr. 1000.- im Monat erzielt. Laut einem Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) vom 10. Oktober 2000 leidet er an einem Schmerzsyndrom der linken Hand bei Status nach traumatischer Amputation der Fingerendglieder II-IV, an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10 F43. 1) und einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 F45. 4) sowie an weiteren nicht näher bezeichneten psychischen Beeinträchtigungen. Mit Verfügungen vom 28. Mai 2001 sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Zürich für die Zeit vom 1. Januar bis 30. September 1999 eine ganze und für die Zeit vom 1. Oktober 1999 bis
 
28. Februar 2001 eine halbe Rente zu.
 
Mit Schreiben vom 26. August 1999 hatte C.________ einen Rentenanspruch auch für die Zeit bis zum Beginn der Umschulung am 1. August 1994 (recte: 1. Juli 1994) geltend gemacht. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens eröffnete ihm die IV-Stelle mit Verfügung vom 3. März 2000, dass der Anspruch auf Nachzahlung gemäss Art. 48 Abs. 1 IVG mit dem Ablauf von fünf Jahren seit Ende des Monats, für welchen die Leistung geschuldet war, erlösche, weshalb das Begehren vom 26. August 1999 verspätet sei.
 
B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher C.________ geltend machen liess, es wäre auf Grund der Anmeldung vom 14. Juli 1992 Sache der IV-Stelle gewesen, über den Rentenanspruch zu befinden, und es könne eine Verjährung nur eintreten, wenn die Rentenberechtigung feststehe, wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ab (Entscheid vom 23. Oktober 2001).
 
C.- C.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei festzustellen, dass bezüglich eines allfälligen Rentenanspruchs für die Zeit vor dem 31. Juli 1994 keine Verjährung eingetreten sei, und es sei die Sache an die Verwaltung zurückzuweisen, damit sie hierüber materiell entscheide; ferner sei ihm die unentgeltliche Verbeiständung zu gewähren.
 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung.
 
D.- Mit Eingabe vom 13. März 2002 lässt C.________ das Begehren um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung zurückziehen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Nach Art. 48 Abs. 1 IVG erlischt der Anspruch auf Nachzahlung mit dem Ablauf von fünf Jahren seit Ende des Monats, für welchen die Leistung geschuldet war. Meldet sich jedoch ein Versicherter mehr als zwölf Monate nach Entstehen des Anspruchs an, so werden die Leistungen lediglich für die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate ausgerichtet.
 
Weitergehende Nachzahlungen werden erbracht, wenn der Versicherte den anspruchsbegründenden Sachverhalt nicht kennen konnte und die Anmeldung innert zwölf Monaten seit Kenntnisnahme vornimmt (Art. 48 Abs. 2 IVG).
 
2.- a) Mit der Anmeldung des Falles wahrt die versicherte Person grundsätzlich alle in diesem Zeitpunkt bestehenden Leistungsansprüche, auch wenn sie nicht im Einzelnen geltend gemacht werden. Die Abklärungspflicht der Verwaltung erstreckt sich indessen nicht auf alle möglichen Leistungsansprüche, sondern nur auf die vernünftigerweise mit dem vorgetragenen Sachverhalt und allfälligen bisherigen oder neuen Akten im Zusammenhang stehenden Leistungen.
 
Macht die versicherte Person nachträglich geltend, sie habe nebst den verfügungsmässig zugesprochenen bzw. verweigerten Leistungen Anspruch auf andere Versicherungsleistungen, ist nach den gesamten Umständen des Einzelfalles zu prüfen, ob die frühere Anmeldung auch diesen neuen Aspekt umfasste (BGE 121 V 196 Erw. 2 mit Hinweisen).
 
b) Die unbefristete Wirkung der Anmeldung wird dadurch eingeschränkt, dass der Anspruch auf Nachzahlung gemäss Art. 48 Abs. 1 IVG mit dem Ablauf von fünf Jahren seit Ende des Monats, für welchen die Leistung geschuldet war, erlischt.
 
Nach der Rechtsprechung handelt es sich dabei um eine absolute Verwirkungsfrist, welche rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Neuanmeldung zu berechnen und auch dann anwendbar ist, wenn anlässlich einer früheren Anmeldung Leistungsansprüche zu Unrecht nicht beurteilt oder abgelehnt worden sind (BGE 121 V 200 Erw. 5c und d). Die Verwirkung greift daher selbst dann Platz, wenn der Nichtbezug von Leistungen auf einen Fehler der Verwaltung zurückzuführen ist, indem sie es unterlassen hat, über zusätzliche von der versicherten Person nicht geltend gemachte, auf Grund des gegebenen Sachverhalts jedoch ebenfalls in Betracht fallende Ansprüche zu verfügen. Vorbehalten bleiben weitergehende Leistungen nach dem Grundsatz von Treu und Glauben, beispielsweise wenn die Verwaltung die versicherte Person mit einer unzutreffenden Auskunft von der Geltendmachung von Ansprüchen abgehalten hat (vgl. BGE 121 V 65 ff.).
 
3.- a) Mit dem Begehren vom 26. August 1999 hat der Beschwerdeführer die Zusprechung einer Rente bis zum Beginn der Umschulung (1. Juli 1994) bzw. 1. August 1994 beantragt.
 
Im Zeitpunkt des Rentenbegehrens waren allfällige Ansprüche für die Zeit bis Ende Juli 1994 gemäss Art. 48 IVG verwirkt, wie Verwaltung und Vorinstanz zu Recht festgestellt haben. Ob, wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebracht wird, die ursprüngliche Anmeldung vom 14. Juli 1992 auch den am 26. August 1999 geltend gemachten Rentenanspruch umfasste und die Verwaltung auf Grund der Anmeldung vom 14. Juli 1992 verpflichtet gewesen wäre, hierüber zu verfügen, kann offen bleiben. Nach dem Gesagten unterliegt die Nachzahlung auch in Fällen, da die Verwaltung ein bereits früher hinreichend substanziiertes Leistungsbegehren übersehen hat, der absoluten Verwirkungsfrist von fünf Jahren, rückwärts gerechnet ab dem Zeitpunkt der Neuanmeldung (BGE 121 V 202 unten).
 
b) Was der Beschwerdeführer vorbringt, vermag zu keinem anderen Ergebnis zu führen. Fehl geht zunächst der Einwand, eine Verwirkung falle erst in Betracht, nachdem die Verwaltung über den Rentenanspruch verfügt habe. Die Verfügung bildet Voraussetzung für die Vollstreckungsverwirkung bei rechtskräftig festgesetzten Leistungen. Im vorliegenden Fall geht es aber nicht um die Vollstreckungsverwirkung, für welche in analoger Anwendung der Rechtsprechung zu Art. 16 Abs. 3 AHVG eine Frist von zehn Jahren nach Festsetzung der Leistung massgebend ist (BGE 127 V 211 Erw. 2a; anwendbar auch auf die Invalidenversicherung gemäss Urteil M. vom 10. September 2001, publiziert in SVR 2002 IV Nr. 15 S. 47), sondern um die Anspruchsverwirkung, für welche gemäss Art. 48 Abs. 1 IVG eine absolute Frist von fünf Jahren ab Ende des Monats, für welchen die Leistung geschuldet war, gilt.
 
Es trifft sodann nicht zu, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen wäre, rechtzeitig zu handeln.
 
Davon, dass er prozessual hätte tätig werden müssen, um eine Verwirkung des Leistungsanspruchs zu verhindern, kann nicht die Rede sein. Vielmehr hätte es genügt, wenn er den Anspruch innert der fünfjährigen Verwirkungsfrist bei der Verwaltung geltend gemacht hätte. Dies hat er indessen weder während der insgesamt drei Jahre dauernden Umschulung noch während der anschliessenden Arbeitslosigkeit getan.
 
Selbst nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses als Chauffeur/Allrounder im Sommer 1998 hat er keinen Rentenanspruch für die Zeit vor der Umschulung erhoben. Dass er von der Verwaltung auf eine gegen Treu und Glauben verstossende Weise von der rechtzeitigen Geltendmachung des Anspruchs abgehalten worden wäre, ist nicht anzunehmen und wird auch nicht behauptet. Es muss daher bei der Feststellung bleiben, dass der Rentenanspruch für die Zeit bis 31. Juli 1994 verwirkt ist.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der Ausgleichskasse für das schweizerische Auto-, Motorrad- und Fahrradgewerbe,
 
Bern, und dem Bundesamt für Sozialversicherung
 
zugestellt.
 
Luzern, 3. Juni 2002
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der II. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
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