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Informationen zum Dokument  BGer I 704/2001  Materielle Begründung
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BGer I 704/2001 vom 14.04.2003
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 704/01
 
Urteil vom 14. April 2003
 
II. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard; Gerichtsschreiber Arnold
 
Parteien
 
S.________, 1947, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Roland Ilg, Rämistrasse 5, 8001 Zürich,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
 
(Entscheid vom 27. September 2001)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
S.________, geb. 1947, meldete sich am 20. November 1996 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen klärte die Verhältnisse in medizinischer und beruflich-erwerblicher Hinsicht ab. Sie holte hiefür u.a. Berichte des Dr. med. W.________, Arzt für Allgemeine Medizin FMH, vom 29. November 1996 sowie der Firma X._______ vom 13. Dezember 1996 ein, wo der Versicherte vom 10. Juni 1991 bis 28. Februar 1997 als Lagermitarbeiter angestellt gewesen war. Weiter liess sie ein polydisziplinäres Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) vom 29. Juli 1998 erstatten. Mit Verfügung vom 20. April 1999 sprach sie S.________ rückwirkend ab 1. August 1997 gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 52 % eine halbe Invalidenrente zu.
 
B.
 
In teilweiser Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde bejahte das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen den Anspruch auf eine halbe Invalidenrente mit Wirkung ab 1. Juni 1997 (Entscheid vom 27. September 2001).
 
C.
 
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, es sei ihm eine ganze Invalidenrente zuzusprechen; eventuell sei die Sache im Rentenpunkt an die Verwaltung zurückzuweisen; subeventuell seien berufliche Massnahmen wie Umschulung und Arbeitsvermittlung zuzusprechen. Ferner sei ihm die unentgeltliche Verbeiständung zu gewähren.
 
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG) und die Invaliditätsbemessung bei Erwerbstätigen nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
1.2 Zu ergänzen ist, dass bei der Invaliditätsbemessung nach IVG analog zur Rechtsprechung zu Art. 18 Abs. 2 UVG (BGE 128 V 174 f.) für die Vornahme des Einkommensvergleichs grundsätzlich auf die Begebenheiten im Zeitpunkt des allfälligen Rentenbeginns abzustellen ist. Bevor die Verwaltung über einen Leistungsanspruch befindet, muss sie indessen prüfen, ob allenfalls in der dem Rentenbeginn folgenden Zeit eine erhebliche Veränderung der hypothetischen Bezugsgrössen eingetreten ist. Gegebenenfalls hat sie vor ihrem Entscheid einen weiteren Einkommensvergleich durchzuführen (Urteil S. vom 9. August 2002, I 26/02, bestätigt in Urteil L. vom 18. Oktober 2002, I 761/01).
 
Zudem ist das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 20. April 1999) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).
 
2.
 
Nach Lage der Akten, insbesondere dem Abklärungsbericht des Berufsberaters der IV-Stelle vom 27. Januar 1999 und dem polydisziplinären Gutachten der MEDAS vom 29. Juli 1998, welches alle rechtsprechungsgemässen (BGE 125 V 352 Erw. 3 mit Hinweisen) Kriterien für beweiskräftige ärztliche Entscheidungsgrundlagen erfüllt und dem somit voller Beweiswert zukommt, ist mit der Vorinstanz und der Verwaltung davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer, bei welchem die Ärzte der MEDAS u.a. eine Beinparese rechts, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung sowie Verdacht auf Konversionsreaktion und Aggravationsverhalten diagnostizierten, gesundheitsbedingt die Tätigkeit als Lagermitarbeiter nicht mehr verrichten kann. Hinsichtlich körperlich leichter, vorwiegend sitzend auszuübender Arbeiten ist er indes zu 50 % arbeitsfähig.
 
3.
 
Strittig sind hauptsächlich der Beginn des Anspruchs auf eine Invalidenrente sowie die Bemessung des Invaliditätsgrades.
 
3.1 Die Vorinstanz hat einlässlich und zutreffend erwogen, dass die Wartezeit gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG nach Massgabe von Art. 29ter IVV dadurch wesentlich unterbrochen worden ist, dass auf Grund des Berichts des Dr. med. W.________ (vom 29. November 1996) vom 28. Mai bis 27. Juni 1996 volle Arbeitsfähigkeit bestand. Die Wartezeit endete somit im Juni 1997. Ein weiter zurückgehender Rentenanspruch fällt mit dem kantonalen Gericht ausser Betracht.
 
3.2
 
3.2.1 Für die Ermittlung des hypothetischen Einkommens ohne Invalidität (Valideneinkommen) ist vom Verdienst auszugehen, den der Beschwerdeführer im Jahre 1996 bei der Firma X.________ erzielte (Fr. 51'740.-), woraus für das Jahr 1997 (Ablauf der Wartezeit) ein Betrag von Fr. 51'998.70 (Fr. 3980 x 13, bereinigt um die Teuerung für das Jahr 1997 [0,5 %], vgl. Die Volkswirtschaft 11/2002 S. 89 Tabelle B 10.2) resultiert. Für das Jahr 1999 (Erlass der strittigen Verfügung) ergibt sich ein Verdienst von Fr. 52'519.75 (Fr. 3980 x 13, bereinigt um die Teuerung für die Jahre 1997 [0,5 %], 1998 [0,7 %] und 1999 [0,3 %]).
 
3.2.2 Bei der Bestimmung des trotz Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch realisierbaren Einkommens (Invalideneinkommen) ist primär von der beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in welcher die versicherte Person konkret steht. Ist - wie im hier zu beurteilenden Fall - kein tatsächlich erzieltes Erwerbseinkommen gegeben, können rechtsprechungsgemäss Tabellenlöhne beigezogen werden (BGE 126 V 75 Erw. 3b/aa und bb mit Hinweisen), wobei sich unter Zugrundelegung eines Pensums von 100 % ein jährliches (teuerungsbereinigtes) Einkommen (für 1997) von Fr. 54'245.45 (Tabelle A1 der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung [LSE] 1996, Anforderungsniveau 4, monatlich Fr. 4294.- umgerechnet auf 41,9 Wochenstunden, Teuerung 1997: 0,5 %) errechnet. Bei 50%iger Arbeitsfähigkeit resultiert ein Verdienst von Fr. 27'122.70 (für 1997). Für das Jahr 1999 ergibt eine analoge Vorgehensweise einen Betrag von Fr. 26'904.85 (Tabelle A1 der LSE 1998, Anforderungsniveau 4, monatlich Fr. 4268.- umgerechnet auf 41,9 Wochenstunden, Teuerung 1999: 0,3 %, 50 % Pensum).
 
Die Frage, ob und in welchem Ausmass Tabellenlöhne herabzusetzen sind, hängt von sämtlichen persönlichen und beruflichen Umständen des konkreten Einzelfalles ab (leidensbedingte Einschränkung, Alter, Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad) (BGE 126 V 75 Erw. 5b/aa-cc). Die Vorinstanz hat den Abzug vom Tabellenlohn, der eine Schätzung darstellt und rechtsprechungsgemäss kurz zu begründen ist (BGE 126 V 75 Erw. 6), auf 15 % festgesetzt, wobei sie nebst leidensbedingten Einschränkungen in der Verweisungstätigkeit insbesondere den Beschäftigungsgrad als lohnmindernd qualifizierte. Der Beschwerdeführer bringt keine triftigen Gründe vor, welche eine nach den Grundsätzen über die richterliche Ermessenskontrolle abweichende Ermessensausübung als naheliegender erscheinen liesse (vgl. Art. 132 lit. a OG; BGE 123 V 152 Erw. 2). Um 15 % gekürzt ergibt sich bei einem Pensum von 50 % ein Invalideneinkommen von Fr. 23'054.30 (für das Jahr 1997); für das Jahr 1999 resultiert ein Betrag von Fr. 22'869.15.
 
3.2.3 Bei der Gegenüberstellung der hypothetischen Einkommen errechnet sich für das Jahr 1997 (Invalideneinkommen: Fr. 23'054.30; Valideneinkommen: Fr. 51'998.70) ein Invaliditätsgrad von 55,66 %. Für das Jahr 1999 ergibt sich ein Wert von 56,45 % (Invalideneinkommen: Fr. 22'869.15, Valideneinkommen: Fr. 52'519.75).
 
Invaliditätsfremde Gründe, wie mangelhafte Ausbildung und Sprachkenntnisse etc., werden für die Festlegung des hypothetischen Valideneinkommens nicht berücksichtigt. Führen diese Gründe jedoch zu einem unterdurchschnittlichen Einkommen, so ist diesem Umstand entweder sowohl beim Validen- wie auch beim Invalideneinkommen oder überhaupt nicht Rechnung zu tragen (ZAK 1989 S. 458 Erw. 3b; RKUV 1993 Nr. U 168 S. 104). Im hier zu beurteilenden Fall ist fraglich, ob mit der Vorinstanz von einem aus invaliditätsfremden Gründen deutlich unter dem branchenüblichen Ansatz liegenden Lohn gesprochen werden kann, wie es in RKUV 1993 Nr. U 168 S. 104 Erw. 5a ausdrücklich verlangt wird, nachdem die Differenz zwischen dem effektiven Verdienst 1996 (Fr. 51'740.-) und dem tabellarischen Lohn (LSE 1996, TA 1, Anforderungsniveau 4, Pos. 15 "Herstellung von Nahrungsmitteln und Getränken": Fr. 52'027.25) nur Fr. 287.25 ergibt. Selbst wenn vom höheren (teuerungsbereinigten) Valideneinkommen ausgegangen würde, wäre die Grenze für die Zusprechung einer ganzen Rente (66 2/3 %) klarerweise nicht erreicht (1997: Invalideneinkommen: Fr. 23'054.30, Valideneinkommen: Fr. 52'287.40, Invaliditätsgrad: 55,90 %).
 
3.2.4 Hinsichtlich des Rentenbeginns wie bezüglich des Verfügungszeitpunkts ist der Anspruch auf eine halbe Invalidenrente ausgewiesen. Der vorinstanzliche Entscheid ist insoweit im Ergebnis zu bestätigen.
 
4.
 
4.1 Bezüglich der subeventuell beantragten Massnahmen beruflicher Art, namentlich Umschulung und Arbeitsvermittlung, ist vom Grundsatz auszugehen, dass im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren in Invalidenversicherungssachen betreffend Leistungen nur über Anspruchsberechtigungen zu entscheiden ist, hinsichtlich derer die IV-Stelle eine Verfügung erlassen hat und/oder bezüglich derer sie es - in Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes sowie des Prinzips der Rechtsanwendung von Amtes wegen - unterlassen hat, eine Verfügung zu treffen, obwohl dazu nach der Aktenlage oder den Parteivorbringen hinreichender Anlass bestanden hat (Urteile V. vom 20. August 2002, I 347/00, und G. vom 17. Mai 2002, I 535/01).
 
Bei Beschwerden, welche sich gegen Verfügungen über die Zusprechung einer Rente der Invalidenversicherung richten, besteht im Umfange der von der Verwaltung anerkannten Erwerbsunfähigkeit materiellrechtlich zudem in allen Fällen die Möglichkeit, die Priorität der Eingliederungsberechtigung vor dem Rentenanspruch zu prüfen. Eine solche - im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes und der Rechtsanwendung von Amtes wegen in Anbetracht des materiellrechtlichen Zusammenhangs zwischen Eingliederung und Rente zulässigerweise einsetzende - gerichtliche Prüfung darf jedoch nur unter Berücksichtigung der prozessualen Regeln erfolgen, welche die Rechtsprechung (BGE 122 V 36 Erw. 2a mit Hinweisen) für die Ausdehnung des Beschwerdeverfahrens über den verfügten Gegenstand hinaus aufgestellt hat (Urteil V. vom 20. August 2002, I 347/00).
 
4.2 Der Beschwerdeführer hat in der Anmeldung zum Leistungsbezug vom 20. November 1996 unter Ziff. 6.8 einzig um Zusprechung einer Rente nachgesucht. Die strittige Verwaltungsverfügung hat ausschliesslich den Anspruch auf eine Invalidenrente zum Gegenstand. Im kantonalen Verfahren beschränkte sich der Beschwerdeführer darauf, die Zusprechung einer ganzen Invalidenrente zu beantragen.
 
Nach dem in Erw. 4.1 zweiter Absatz hievor Gesagten stand dem kantonalen Gericht die Möglichkeit offen, bei dieser Sach- und Prozesslage das Verfahren über den Rentenpunkt hinaus auszudehnen. Der Umstand, dass dabei nach Lage der Akten die hiefür u.a. notwendige Prozesserklärung der Verwaltung nicht eingeholt wurde, bietet letztinstanzlich insoweit keinen Grund für Weiterungen, als der kantonale Gerichtsentscheid den Anspruch auf berufliche Massnahmen ablehnte, die Verwaltung insoweit nicht beschwert ist, und auch letztinstanzlich ein Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen offensichtlich nicht gegeben ist, weil es dem Beschwerdeführer aktenkundig während des Verwaltungsverfahrens offensichtlich bereits an der Eingliederungsbereitschaft fehlte (ZAK 1991 S. 178).
 
5.
 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG).
 
Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), weil die Bedürftigkeit ausgewiesen ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos und die anwaltliche Vertretung geboten war (BGE 124 V 309 Erw. 6 mit Hinweisen; AHI 1999 S. 85 Erw. 3). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Dr. Roland Ilg für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der Ausgleichskasse der Brauereien und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 14. April 2003
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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