VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer I 375/2003  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer I 375/2003 vom 30.07.2003
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 375/03
 
Urteil vom 30. Juli 2003
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber Fessler
 
Parteien
 
B.________, 1958, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecherin Ursula Lempen-Wegelin, Bahnhofstrasse 8, 3123 Belp,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
 
(Entscheid vom 19. April 2003)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Mit Verfügung vom 30. Mai 2001 verneinte die IV-Stelle Bern den Anspruch der 1958 geborenen B.________ auf eine Rente der Invalidenversicherung.
 
B.
 
Die von B.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern nach Vernehmlassung der IV-Stelle mit Entscheid vom 19. April 2003 ab.
 
C.
 
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem hauptsächlichen Rechtsbegehren, es sei ihr ab 1. September 1997 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Im Weitern ersucht sie um unentgeltliche Verbeiständung.
 
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung keine Vernehmlassung einreicht.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das kantonale Gericht hat für die Beurteilung des streitigen Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung auf die tatsächlichen Verhältnisse sowie die Rechtslage im Zeitpunkt der Verfügung vom 30. Mai 2001 abgestellt. Das ist richtig (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b). Insbesondere ist das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vorliegend nicht anwendbar.
 
Die Rechtsgrundlagen für die Beurteilung der Streitsache, insbesondere die Grundsätze zur Bestimmung des Status von im Haushalt tätigen Versicherten als Voll-, Nicht- oder Teilerwerbstätige, was je zur Anwendung einer anderen Methode der Invaliditätsbemessung (Einkommensvergleich, Betätigungsvergleich, gemischte Methode) führt (BGE 125 V 150 Erw. 2c mit Hinweisen), werden im angefochtenen Entscheid zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
2.
 
Das kantonale Gericht hat in Anwendung der gemischten Methode einen Invaliditätsgrad von höchstens 34,5 % (0,5 x 50 % + 0,5 x 19 %) ermittelt, was keinen Anspruch auf eine Invalidenrente gibt (Art. 28 Abs. 1 IVG). Dabei entspricht 0,5 (= 50 %/100 %) dem zeitlichen Umfang gemessen an einem Normalarbeitspensum, in welchem die Versicherte ohne gesundheitliche Beeinträchtigung als Krankenschwester erwerbstätig wäre (vgl. BGE 125 V 149 Erw. 2b). 50 % beträgt die Einschränkung im erwerblichen Bereich und 19 % die Behinderung im Haushalt.
 
Die IV-Stelle hatte einen Invaliditätsgrad von 9,5 % (0,5 x 0 % + 0,5 x 19 %) ermittelt (Verfügung vom 30. Mai 2001).
 
3.
 
Von den Bemessungsfaktoren sind einzig der Anteil der Erwerbstätigkeit resp. der Status als ohne gesundheitliche Beeinträchtigung teilerwerbstätige Hausfrau sowie die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit umstritten. Die von der IV-Stelle ermittelte und von der Vorinstanz bestätigte Behinderung in der Haushaltführung ist nicht angefochten. Es besteht aufgrund der Akten kein Anlass, auf diesen Punkt näher einzugehen (BGE 125 V 415 Erw. 1b sowie 417 oben).
 
3.1
 
3.1.1 Zur Statusfrage hat das kantonale Gericht erwogen, die Versicherte habe ab August 1995 bis zum Verkehrsunfall vom 18. Oktober 1996 durchschnittlich zu 40 % als Krankenschwester im Blutspendedienst Y.________gearbeitet. Diese Tätigkeit würde sie nach eigenen Angaben auch ohne Gesundheitsschaden weiterhin ausüben. Aufgrund der seit August 1999 geringeren Alimente für sich und ihre beiden Kinder von monatlich Fr. 2133.- hätte sie zur Deckung ihres Einkommensbedarfs von Fr. 5000.- das Arbeitspensum entsprechend erhöht. Bei einem durchschnittlichen Einkommen als Krankenschwester am Spital X.________ von Fr. 36'400.- (13 x Fr. 2800.-) ergebe sich ein Beschäftigungsgrad von 50 %. Ein höheres Arbeitspensum sei unter Würdigung der gesamten Umstände zu verneinen.
 
3.1.2 Dagegen wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu Recht eingewendet, die Vorinstanz lasse unberücksichtigt, dass gemäss Ziff. 6 der Ehescheidungskonvention vom 17. Juni 1999 der Unterhaltsbeitrag nicht fix Fr. 2113.- betrage, sondern sich proportional zum eigenen Einkommen (um die Hälfte der Fr. 1900.- übersteigenden Summe) reduziere. Abgesehen davon kann für die Ermittlung des zur Deckung des Einkommensbedarfs notwendigen Arbeitspensums im Gesundheitsfall nicht ohne weiteres auf die Lohnverhältnisse von Krankenschwestern am Spital X.________ abgestellt werden. Bei Annahme, die Versicherte würde ohne gesundheitliche Beeinträchtigung als Krankenschwester im Blutspendedienst Y._________arbeiten, wäre an sich folgerichtig auf die Verdienstverhältnisse in dieser konkreten Anstellung abzustellen. Gemäss «Abklärungsbericht Haushalt» vom 2. September 1999 ergäbe sich diesfalls ein hypothetisches Arbeitspensum von 53 %.
 
Unter Berücksichtigung der Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist von einer ohne gesundheitliche Beeinträchtigung im zeitlichen Umfang von 60 % ausgeübten Erwerbstätigkeit auszugehen. Ein höherer Anteil der Erwerbstätigkeit von 0,6 (60 %/100 %) ist bis zum massgebenden Zeitpunkt der Verfügung vom 30. Mai 2001 (Erw. 1) nicht wahrscheinlich. Die beiden Kinder standen damals noch im schulpflichtigen Alter. Dass und wie deren Betreuung während der geltend gemachten Vollerwerbstätigkeit gewährleistet gewesen wäre, wird nicht gesagt.
 
3.2
 
3.2.1 Die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit hat das kantonale Gericht bezogen auf den Beruf der Versicherten als Krankenschwester bestimmt. Das widerspricht Bundesrecht. Die praxisgemässen Voraussetzungen für ein solches Vorgehen sind hier nicht erfüllt sind (vgl. BGE 126 V 76 Erw. 3b/aa). Die Beschwerdeführerin hatte nach dem Unfall vom 18. Oktober 1996 die Arbeit im Zentrallaboratorium Blutspendedienst nicht mehr aufgenommen. Es kommt dazu, dass das Valideneinkommen nicht auf der Grundlage des zuletzt tatsächlich erzielten Verdienstes ermittelt werden kann. Gemäss «Fragebogen für den Arbeitgeber» vom 18. Mai 1998 wäre das Arbeitsverhältnis wegen Umstrukturierung auf Ende Februar 1998 aufgehoben worden. Aus hier nicht weiter interessierenden Gründen erfolgte die Kündigung erst auf Ende Juni 1998.
 
3.2.2 Das ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erzielte Einkommen ist daher ebenso wie das Invalideneinkommen grundsätzlich nach Massgabe statistischer Durchschnittslöhne zu ermitteln (vgl. AHI 1999 S. 240 Erw. 3b; Urteil M. vom 29. August 2002 [I 97/00] Erw. 1.2). Dabei ist zu fragen, welche Tätigkeiten (Krankenschwester im Spital, Arztgehilfin, Laborassistentin etc.) aufgrund der Ausbildung und bisherigen beruflichen Karriere realistischerweise in Betracht fallen.
 
Beim Invalideneinkommen sodann kann in Bezug auf die verbliebene Arbeitsfähigkeit entgegen dem kantonalen Gericht nicht auf das Gutachten der MEDAS vom 20. März 2001 abgestellt werden. Danach ist aus psychiatrischer und psychosomatischer Sicht die Tätigkeit als Krankenschwester bei zumutbarer Willensanstrengung zu 50 % möglich. Wie die Vorinstanz selber festhält, steht diese Einschätzung im Gegensatz zu allen seit dem Unfall erstellten medizinischen Arztberichten und Expertisen, welche übereinstimmend von einer 100 %igen Arbeitsunfähigkeit ausgehen. Es kommt dazu, dass die Präzisierung der MEDAS-Ärzte vom 15. Mai 2001 vom Gutachten abweicht und zudem missverständlich ist, wie auch im angefochtenen Entscheid festgehalten wird.
 
3.3 Im Sinne des Vorstehenden wird die IV-Stelle ergänzende Abklärungen u.a. zur Frage der Arbeitsfähigkeit aus medizinischer und allenfalls auch berufsberaterischer Sicht vorzunehmen und den Invaliditätsgrad neu zu ermitteln haben. Dabei hat sie Änderungen in den tatsächlichen Verhältnissen seit der Verfügung vom 30. Mai 2001 zu berücksichtigen.
 
4.
 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG in Verbindung mit Art. 135 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ist somit gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 19. April 2003 und die Verfügung vom 30. Mai 2001 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen wird, damit sie nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung neu verfüge.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die IV-Stelle Bern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hat über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 30. Juli 2003
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Präsidentin der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
i.V.
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).