VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer I 479/2001  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer I 479/2001 vom 30.09.2003
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 479/01
 
Urteil vom 30. September 2003
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber Hochuli
 
Parteien
 
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
W.________, 1956, Beschwerdegegner,
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
 
(Entscheid vom 28. Juni 2001)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1956 geborene, als Magaziner für die Firma X.________, arbeitende W.________ litt unter beidseitiger Katarakt, links mehr als rechts. Am 2. Februar 1990 meldete er sich deshalb bei der IV-Stelle Bern zum Leistungsbezug an. Daraufhin übernahm die Invalidenversicherung die Kataraktoperation links vom Januar 1990 (Verfügung vom 6. März 1990) sowie die Nachstarentfernung links vom Januar 1991 (Verfügung vom 18. Dezember 1990) und sodann, nach erneutem Leistungsgesuch vom 14. August 1997, die Kataraktoperation am rechten Auge vom 12. September 1997 einschliesslich Nachbehandlung (Verfügung vom 7. November 1997) als medizinische Eingliederungsmassnahmen. Auf ein weiteres Leistungsgesuch vom 26. Januar 2001 hin lehnte die IV-Stelle die Übernahme der am 25. Januar 2001 durchgeführten Nachstarentfernung rechts mit Verfügung vom 8. März 2001 ohne erwerbliche oder medizinische Abklärungen ab, weil das Entfernen des Nachstars seit 1. November 2000 als eigenständige medizinische Eingliederungsmassnahme gälte und der Versicherte für die Ausübung seiner Erwerbstätigkeit nicht auf Binokularsehen angewiesen sei.
 
B.
 
Die hiegegen mit Unterstützung seines Augenarztes Dr. med. B.________ erhobene Beschwerde des W.________ hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 28. Juni 2001 gut und wies die IV-Stelle an, "die Kosten für die Nachstar-Operation rechts zu übernehmen".
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids.
 
Während die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet W.________ auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über die Voraussetzungen des Anspruchs auf Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und den Anspruch auf medizinische Massnahmen im Besonderen (Art. 12 Abs. 1 IVG) zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen dazu, dass die Übernahme der Staroperation als medizinische Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG grundsätzlich in Frage kommt (AHI 2000 S. 299 Erw. 2a mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.
 
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 12 IVG namentlich die gegenseitige Abgrenzung der Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits sowie der Kranken- und Unfallversicherung andererseits bezweckt (BGE 104 V 81 Erw. 1 mit Hinweis) und dass eine Kataraktoperation an einem Auge bei erhaltener Sehfähigkeit des anderen Auges nur dann von der Invalidenversicherung übernommen werden kann, wenn der Defekt die versicherte Person dermassen in der Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit behindert, dass ohne Durchführung des Eingriffs die Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt wäre (AHI 2000 S. 296 f. Erw. 4b).
 
1.2 Anzufügen bleibt, dass am 1. Januar 2003 das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten ist. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: vom 8. März 2001) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar.
 
2.
 
Fest steht, dass bei W.________ keine erheblichen krankhaften Nebenbefunde vorhanden sind, welche die Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des Eingliederungserfolgs in Frage zu stellen vermögen (BGE 101 V 47 f. Erw. 1b, 97 f. Erw. 2b, 103 Erw. 3; AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen). Unbestritten ist ferner, dass das Alter des Versicherten - er befand sich im massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses (8. März 2001) in seinem 45. Lebensjahr - der Übernahme der Nachstarentfernung vom 25. Januar 2001 durch die Invalidenversicherung unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit des zu erwartenden Eingliederungserfolges nicht entgegen steht (BGE 101 V 50 Erw. 3b).
 
3.
 
Das kantonale Gericht stützte sich sowohl in erwerblicher als auch medizinischer Hinsicht einzig auf die Angaben des Dr. med. B.________ vom 26. März 2001 und ging in der Folge davon aus, dass der Versicherte als Magaziner auch mit dem Hubstapler Gegenstände und Paletten auf drei bis vier Meter hohe Regale einordnen müsse und dafür nach Einschätzung seines behandelnden Augenarztes auf ein gutes beidäugiges Sehen angewiesen sei. Dagegen wendet das Beschwerde führende BSV ein, den Akten seien keine Hinweise darauf zu entnehmen, dass der Versicherte vor der Entfernung des Nachstars am rechten Auge vom 25. Januar 2001 arbeitsunfähig geworden wäre, obwohl sich zuvor der Visus infolge der kontinuierlichen Nachstarbildung bis auf den Wert von 0,04 verschlechtert habe. Auch vor der Kataraktoperation am rechten Auge vom 12. September 1997 sei es trotz allmählicher Reduktion der Sehfähigkeit bis auf einen Visus von 0,16 nicht zu Arbeitsunfähigkeit gekommen. W.________ sei somit für die Ausübung seiner Erwerbstätigkeit nicht auf Binokularsehen angewiesen. Aus medizinischer Sicht habe die Indikation zur Durchführung der Kataraktoperation zweifellos bestanden.
 
Zu prüfen ist demnach, ob gestützt auf die vorliegenden Akten die Frage nach der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte Tätigkeit des Versicherten beantwortet werden kann.
 
3.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht präzisierte seine Rechtsprechung zur Übernahme der Kataraktoperation am zweiten Auge (vgl. AHI 2000 S. 294) im Urteil D. vom 24. Juli 2003 (I 29/02) dahingehend, dass die Staroperation am zweiten Auge (nach erfolgter Übernahme am ersten Auge) - bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen nach Art. 12 Abs. 1 IVG - nur dann als medizinische Eingliederungsmassnahme durch die Invalidenversicherung zu übernehmen ist, wenn aufgrund detaillierter Ermittlung der Tätigkeiten im Rahmen des ausgeübten Berufes für die visuell anspruchvollste dieser Tätigkeiten die Notwendigkeit des Binokularsehens aus augenärztlicher Sicht bejaht wird. In denjenigen Berufen, in welchen besondere medizinische Mindestanforderungen an die Sehfähigkeit ausdrücklich normiert sind, ist auf diese Visusgrenzwerte abzustellen, so dass sich in erwerblicher Hinsicht eine detaillierte Ermittlung der verschiedenen Tätigkeitsanteile erübrigt.
 
3.2 Den Akten ist nicht mit dem im Sozialversicherungsrecht geltenden Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit Hinweisen) zu entnehmen, welche konkreten Tätigkeiten W.________ im Rahmen seiner Berufsausübung als Magaziner zu verrichten hat. Gemäss den vorliegenden Akten war er für die Firma X.________ bis 1990 als "Geleisemonteur" tätig gewesen. Die aktenkundigen Hinweise zu seinen seit 1997 zu erfüllenden einzelnen Aufgaben im Rahmen seiner Anstellung bei derselben Arbeitgeberin beruhen ausschliesslich auf dem Bericht des Dr. med. B.________ vom 26. März 2001 und stützen sich offenbar allein auf die seinem Augenarzt gegenüber gemachten Angaben des Versicherten. Aus dieser Beschreibung geht nicht hervor, ob z.B. das Hubstapler-Fahren im Rahmen der Tätigkeit als Magaziner gegebenenfalls durch andere in demselben Magazin beschäftigte Arbeitskollegen übernommen werden könnte. Die Vorinstanz stellte zu Unrecht auf die unvollständigen und nur indirekt rapportierten Aussagen des W.________ ab, weshalb ergänzende Abklärungen in erwerblicher Hinsicht unerlässlich sind. Die Verwaltung, an welche die Sache vorweg zu diesem Zweck zurückzuweisen ist, wird deshalb in geeigneter Form - z.B. durch Einholung eines Pflichtenheftes und Befragung der Arbeitgeberin - das Tätigkeitsspektrum des Versicherten abklären.
 
3.3 Steht fest, welches die visuell anspruchvollste Tätigkeit des W.________ ist, wird die IV-Stelle einen fachärztlichen Bericht zur diesbezüglichen Notwendigkeit des Binokularsehens einholen, der nicht allein auf die subjektiven Angaben des Versicherten abstellt, sondern vielmehr für die streitigen Belange umfassend ist, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben wird und der konkreten medizinischen Situation Rechnung trägt (vgl. dazu BGE 125 V 353 Erw. 3a). Soweit der einseitige Ausfall der Sehfähigkeit durch Angewöhnung an den Verlust des stereoskopischen Sehens zumutbarerweise kompensiert werden kann (vgl. z.B. die viermonatige Wartefrist nach dem Verlust eines Auges in der Führerausweis-Kategorie B gemäss Anhang 1 zur Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr [VZV; SR 741.51]), hat dies der Augenarzt im Einzelfall zu berücksichtigen und dazu Stellung zu nehmen. Erfolgt die augenärztliche Beurteilung dieser Fragen - wie hier - erst nach bereits durchgeführter Operation, sind sie medizinisch prognostisch aufgrund der Verhältnisse vor der fraglichen Operation (AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen) zu beantworten, wobei es zur Aufgabe des Arztes oder der Ärztin gehört, dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten der Versicherte ohne die am 25. Januar 2001 vorgenommene Nachstarentfernung am rechten Auge arbeitsunfähig geworden wäre (vgl. BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen).
 
3.4 Fehlt es an den erforderlichen Grundlagen zur Beantwortung der Frage nach der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte Tätigkeit des Versicherten (vgl. Erw. 3.2 hievor), sind der angefochtene Entscheid und die Verwaltungsverfügung aufzuheben. Die Sache ist an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese bei den ergänzenden Abklärungen nach den Erwägungen Ziffer 3.1 bis 3.3 vorgehen und anschliessend über das Leistungsgesuch betreffend den am (8/III/2) 25. Januar 2001 entfernten Nachstar am rechten Auge neu verfügen wird.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 28. Juni 2001 und die Verwaltungsverfügung vom 8. März 2001 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über das Leistungsgesuch betreffend die am 25. Januar 2001 durchgeführte Entfernung des Nachstars am rechten Auge neu verfüge.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der IV-Stelle Bern und der Ausgleichskasse des Kantons Bern zugestellt.
 
Luzern, 30. September 2003
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Präsidentin der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).