VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 2A.730/2004  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 2A.730/2004 vom 15.06.2005
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
2A.730/2004 /ast
 
Urteil vom 15. Juni 2005
 
II. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Merkli, Präsident,
 
Bundesrichter Betschart, Bundesrichter Müller,
 
Gerichtsschreiber Matter.
 
Parteien
 
Bundesamt für Migration, 3003 Bern,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
X.________,
 
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Oskar Müller,
 
Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau, Laurenzenvorstadt 9, Postfach, 5001 Aarau.
 
Gegenstand
 
Familiennachzug,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des Rekursgerichts im Ausländerrecht des Kantons Aargau vom 12. November 2004.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
X.________, mazedonischer Staatsangehöriger, geb. 1964, heiratete 1982 in seinem Heimatland eine Landsfrau. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor (geb. 1983, 1986, 1990 und 1992). Die Ehefrau verstarb im Jahr 1994. Eine im Dezember 1995 eingegangene zweite Ehe wurde im Dezember 1999 kinderlos geschieden.
 
X.________ erhielt von 1987 bis 1992 eine Saisonnierbewilligung in der Schweiz, ab März 1993 eine Jahresaufenthaltsbewilligung. Seit Februar 2003 ist er im Besitze einer Niederlassungsbewilligung.
 
B.
 
Am 12. Mai 2003 stellte X.________ ein Familiennachzugsgesuch für seine drei jüngsten Kinder, das vom Migrationsamt des Kantons Aargau mit Verfügung vom 29. September 2003 abgelehnt wurde. Nach erfolgloser Einsprache gelangte X.________ am 24. Mai 2004 an das kantonale Rekursgericht in Ausländerfragen. Dieses hiess die Beschwerde am 12. November 2004 gut, bewilligte den Nachzug der drei Kinder und wies das Migrationsamt an, deren Aufenthalt zu regeln, sobald der Vater den Nachweis einer angemessenen Wohnung erbracht habe.
 
C.
 
Mit Eingabe vom 8. Dezember 2004 hat das Bundesamt für Zuwanderung, Integration und Auswanderung (IMES; heute Bundesamt für Migration, nachfolgend: Bundesamt) Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht erhoben. Es stellt den Antrag, die Beschwerde gutzuheissen, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und in Bestätigung des Einspracheentscheids das Gesuch um Familiennachzug zu verweigern.
 
X.________ schliesst (wie das Rekursgericht) auf Abweisung der Beschwerde; zudem ersucht er um unentgeltliche Prozessführung. Das kantonale Migrationsamt beantragt die Gutheissung der Beschwerde.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Nach Art. 103 lit. b OG ist das in der Sache zuständige Departement oder, soweit das Bundesrecht es vorsieht, die in der Sache zuständige Dienstabteilung der Bundesverwaltung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht berechtigt. Gemäss Art. 14 Abs. 2 der Organisationsverordnung vom 17. November 1999 für das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (OV-EJPD; SR 172.213.1; in der Fassung gemäss Änderungsverordnung des Bundesrates vom 3. November 2004, in Kraft seit 1. Januar 2005, AS 2004 4813) ist das Bundesamt ermächtigt, Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide zu führen.
 
Das Beschwerderecht der Bundesbehörden soll den richtigen und rechtsgleichen Vollzug des Bundesverwaltungsrechts sicherstellen. Dabei muss grundsätzlich kein spezifisches öffentliches Interesse an der Anfechtung der Verfügung nachgewiesen werden. Erforderlich ist nur, dass es der beschwerdeführenden Verwaltungseinheit nicht um die Behandlung abstrakter Fragen des objektiven Rechts, sondern um konkrete Rechtsfragen eines tatsächlich bestehenden Einzelfalles geht (vgl. BGE 129 II 1 E. 1.1 S. 3 f., 11 E. 1.1 S. 13, je mit Hinweisen). Das ist hier der Fall. Auf die form- und fristgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten.
 
1.2 Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts (Art. 104 lit. a und b OG), nicht jedoch die Unangemessenheit des angefochtenen Entscheids (vgl. Art. 104 lit. c OG) gerügt werden. Hat - wie hier - eine richterliche Behörde als Vorinstanz entschieden, ist das Bundesgericht an deren Sachverhaltsfeststellung gebunden, sofern diese nicht offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen erfolgt ist (Art. 105 Abs. 2 OG).
 
2.
 
2.1 Gemäss Art. 17 Abs. 2 dritter Satz des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) haben ledige Kinder unter 18 Jahren Anspruch auf Einbezug in die Niederlassungsbewilligung ihrer Eltern, wenn sie mit diesen zusammen wohnen. Es ist zu prüfen, ob die Vorinstanz - wie das Bundesamt und das kantonale Migrationsamt behaupten - Bundesrecht falsch angewendet hat, indem sie einen Anspruch der drei Kinder auf Einbezug in die Niederlassungsbewilligung des Beschwerdegegners bejaht hat.
 
2.2 Zweck des so genannten Familiennachzugs ist es, das Leben in der Familiengemeinschaft zu ermöglichen. Der Gesetzeswortlaut (Art. 17 Abs. 2 Satz 3 ANAG) verdeutlicht, dass die rechtliche Absicherung des Zusammenlebens der Gesamtfamilie angestrebt wird: Verlangt ist ausdrücklich, dass die Kinder mit ihren Eltern (Plural) zusammenwohnen werden. Nach der Rechtsprechung ist der nachträgliche Familiennachzug durch Eltern, die sich beide in der Schweiz niedergelassen haben und einen gemeinsamen ehelichen Haushalt führen, möglich, ohne dass besondere stichhaltige Gründe die beabsichtigte Änderung des Betreuungsverhältnisses rechtfertigen müssen. Innerhalb der allgemeinen Schranken von Art. 17 Abs. 2 Satz 3 ANAG ist somit der Nachzug von gemeinsamen Kindern grundsätzlich jederzeit zulässig; vorbehalten bleibt einzig das Rechtsmissbrauchsverbot. Hingegen ist die Praxis auf Grund der unterschiedlichen familiären Situation wesentlich restriktiver, wenn der nachträgliche Familiennachzug von Kindern getrennter bzw. geschiedener Eltern in Frage steht. In solchen Fällen entspricht es dem Gesetzeszweck nicht, einen bedingungslosen Anspruch auf Nachzug der Kinder anzunehmen. Der nachträgliche Nachzug eines Kindes setzt diesfalls voraus, dass eine vorrangige Bindung des Kindes zum in der Schweiz lebenden Elternteil nachgewiesen ist und besonders stichhaltige familiäre Gründe, zum Beispiel eine Änderung der Betreuungsmöglichkeiten, dieses Vorgehen rechtfertigen (vgl. BGE 129 II 11 E. 3.1 S. 14 f. mit weiteren Hinweisen).
 
Ein bedingungsloser (bzw. nur unter dem Vorbehalt des Rechtsmissbrauches stehender) Anspruch des überlebenden Elternteils auf nachträglichen Nachzug der minderjährigen Kinder mag allenfalls dann gegeben sein, wenn zwischen diesem und den Kindern eine Familiengemeinschaft bereits bestanden hat und der überlebende Elternteil die Rolle, welche an sich den Eltern gemeinsam zukommt, trotz vorübergehender Betreuung der Kinder durch aussenstehende (nicht zur Kernfamilie gehörende) Dritte auch tatsächlich ausübt und das Zusammenleben mit den Kindern anstrebt bzw. sich diese Möglichkeit durch seine persönliche Lebensgestaltung erkennbar vorbehält. Wer dagegen als verwitweter bzw. wiederverheirateter Elternteil sein Kind jahrelang im Heimatland in der Obhut der Grosseltern oder anderer naher Verwandter lässt, hat - gleich wie ein getrennter oder geschiedener Elternteil - nur dann einen Anspruch auf nachträglichen Familiennachzug, wenn stichhaltige Gründe eine Änderung der Betreuungsverhältnisse gebieten (vgl. BGE 129 II 11 E. 3.3.1 S. 16 sowie 2A.280/2001 vom 21.9.2001 i.S. S. E. 3-4).
 
2.3 Der Beschwerdegegner besitzt die Niederlassungsbewilligung. Die drei Kinder, welche er nachziehen will, sind ledig und waren im Zeitpunkt der hier massgeblichen Gesuchseinreichung (vgl. BGE 120 Ib 257 E. 1f S. 262; zuletzt: BGE 129 II 249 E. 1.2 S. 252, 11 E. 2 S. 13) noch nicht 18 Jahre alt. Insoweit spricht nichts gegen den beantragten Nachzug.
 
2.4 Das Bundesamt macht geltend, der Beschwerdegegner sei freiwillig in die Schweiz gekommen und habe eine dauerhafte Trennung von seiner Familie zumindest in Kauf genommen. Seither habe er mit seinen Kindern kaum Kontakt gepflegt, so dass keine vorrangige Beziehung zu ihnen bestehe. Obwohl er schon als Jahresaufenthalter (d.h. seit 1993) rechtlich die Möglichkeit gehabt hätte, für seine Kinder ein Nachzugsgesuch zu stellen, sei das hier zu beurteilende Gesuch erst 2003 erfolgt. Ein derart langes Zuwarten sei nicht nachvollziehbar. Ebenso wenig seien stichhaltige Gründe für eine Änderung der Betreuungsverhältnisse im jetzigen Zeitpunkt ersichtlich. Das habe zu gelten, auch wenn die Kinder seit dem Tod des Grossvaters (im September 2001) allein und ohne direkte Betreuung seien, was nicht gerade ideal sei. Ihr Nachzug in die Schweiz sei aber auch deshalb nicht gerechtfertigt, weil der Beschwerdegegner nicht über eine geeignete Wohnung verfüge, in der das Familienleben tatsächlich gelebt werden könne. Die Bereitschaft des Rekursgerichts, den Nachzug grundsätzlich zu bewilligen und ihn nur vom späteren Beleg einer genügend grossen Wohnung abhängig zu machen, verstosse ebenfalls gegen Bundesrecht.
 
2.5 Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen:
 
2.5.1 Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, wäre es dem Beschwerdegegner seit Erteilung der Jahresaufenthaltsbewilligung gestützt auf Art. 38 der Verordnung über die Begrenzung der Zahl der Ausländer (BVO) vom 6. Oktober 1986 zwar rechtlich möglich gewesen, ein Gesuch um Familiennachzug stellen, ohne indessen einen Anspruch darauf zu haben, selbst wenn er alle Voraussetzungen von Art. 39 BVO erfüllt hätte (vgl. BGE 130 II 281 E. 2.2 S. 284 mit weiteren Hinweisen). Für das Bundesgericht verbindlich (Art. 105 Abs. 2 OG) hat das Rekursgericht aber festgestellt, dass der Beschwerdegegner in all den Jahren bis zum Erhalt seiner Niederlassungsbewilligung weder genügende finanzielle Mittel noch eine angemessene Wohnung hatte (vgl. Art. 39 Abs. 1 lit. b und c BVO), um seine Kinder in die Schweiz zu holen. Deren Nachzug wäre somit wohl rechtlich, nicht aber faktisch möglich gewesen. Es lagen also stichhaltige Gründe für ein Zuwarten vor. Die dagegen gerichteten Ausführungen des Bundesamts beziehen sich im Wesentlichen auf die Zeit vor Februar 2003 (vgl. insb. II.2-4 der Beschwerdeschrift) und dringen nicht durch. Zu beurteilen ist fortan ausschliesslich die Situation nach Erteilung der Niederlassungsbewilligung. Knapp drei Monate später hat der Beschwerdegegner das hier streitige Nachzugsgesuch gestellt, wogegen nichts einzuwenden ist.
 
2.5.2 Unstreitig und entscheidend ist, dass die drei Kinder (im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung 16, 13 und 11 Jahre alt) seit dem Tod ihres Grossvaters auf sich allein gestellt und ohne Betreuung in einem dem Beschwerdegegner gehörenden Haus leben. Eine solche Situation (vgl. dazu die Urteile 2A.655/2004 vom 11.4.2005 sowie 2A.52/2005 vom 6.6.2005 u.a.) ist mehr als "nicht gerade ideal". Unter den gegebenen Umständen haben die Kinder wohl eine gewisse Selbständigkeit entwickeln müssen. Dennoch benötigen sie - vor allem die beiden Jüngsten - immer noch ein bestimmtes Ausmass an Pflege und Erziehung. Abgesehen von ihrem Vater verbleibt ihnen - soweit ersichtlich unbestrittenermassen - keine gleichzeitig betreuungsfähige und -willige Bezugsperson. Nur der Familiennachzug erlaubt somit, ein weiterhin notwendiges Obhutsverhältnis wiederherzustellen. Er beruht hier also auf stichhaltigen Gründen. Dagegen kann - wie schon hervorgehoben (vgl. E. 2.5.1) - auch nicht eingewendet werden, der Beschwerdegegner habe die jetzige Situation freiwillig und dauerhaft in Kauf genommen. Ebenso wenig kann es darum gehen, ob dem in der Schweiz Niedergelassenen eine Rückkehr in sein Heimatland zuzumuten ist, wie das kantonale Migrationsamt unzutreffend meint (vgl. dazu stichhaltig S. 9 f. des angefochtenen Entscheids).
 
2.5.3 Im Weiteren ist zwar unbestritten, dass die wirtschaftliche Lage des Beschwerdegegners problematisch ist. Dennoch erübrigt sich eine nähere Auseinandersetzung mit den diesbezüglichen Ausführungen der Vorinstanz, zumal sie vom Bundesamt (abgesehen von der Wohnungsfrage) nicht beanstandet werden. Es genügt festzuhalten, dass das Rekursgericht im Einklang mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BGE 122 II 1 E. 3c S. 8 f., 119 Ib 81 E. 2d S. 87, je mit weiteren Hinweisen) erwogen hat, dass ein wirtschaftlicher Hinderungsgrund nur bei einer fortgesetzten und erheblichen Fürsorgeabhängigkeit gegeben wäre. Eine solche hat die Vorinstanz nicht angenommen, obwohl die monatlichen Einkünfte des Beschwerdegegners im damaligen Zeitpunkt unter dem fürsorgerischen Existenzminimum für einen vierköpfigen Haushalt lagen. Im Hinblick auf die von der Praxis geforderte längerfristige Betrachtung, unter Miteinbezug der Verdienstmöglichkeiten aller Familienmitglieder, fällt namentlich ins Gewicht, dass der Beschwerdegegner seit dem Oktober 2004 eine von 50 auf 75 % erhöhte IV-Rente erhält; dazu kommen gegebenenfalls noch die entsprechenden Ergänzungsleistungen gemäss Art. 2 Abs. 2 lit. a des Bundesgesetzes vom 19. Mai 1965 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG; SR 831.30; vgl. auch 2A.397/2001 vom 17.1.2002 i.S. M. E. 4b). Ausserdem ist zu erwarten, dass insbesondere das älteste der drei Kinder bald einer Erwerbstätigkeit nachgehen wird. Demzufolge hat das Rekursgericht den Familiennachzug hier trotz der bestehenden finanziellen Schwierigkeiten zu Recht als grundsätzlich gerechtfertigt beurteilt. Auch hat es unter den vorliegenden Umständen die definitive Erteilung der Bewilligung vom Nachweis einer angemessenen Wohnung abhängig machen dürfen.
 
3.
 
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird das Bundesamt kosten- sowie entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG in Verbindung mit Art. 153 und 153a OG; Art. 159 OG) und das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Bundesamt für Migration auferlegt.
 
3.
 
Das Bundesamt für Migration wird verpflichtet, den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien sowie dem Migrationsamt und dem Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 15. Juni 2005
 
Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).