BGer 6A.23/2005 | |||
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BGer 6A.23/2005 vom 21.06.2005 | |
Tribunale federale
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{T 0/2}
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6A.23/2005 /bri
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Urteil vom 21. Juni 2005
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Kassationshof
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Besetzung
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Bundesrichter Schneider, Präsident,
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Bundesrichter Karlen, Zünd,
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Gerichtsschreiber Weissenberger.
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Parteien
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X.________,
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Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Schlatter,
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gegen
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Rekurskommission für Strassenverkehrssachen des Kantons Thurgau, Löwenstrasse 12, 8280 Kreuzlingen.
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Gegenstand
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Sicherungsentzug; Wiedererteilung der aufschiebenden Wirkung,
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Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Zwischen-entscheid des Rekurskommission für Strassenverkehrs-sachen des Kantons Thurgau vom 11. April 2005.
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Sachverhalt:
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A.
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X.________ verursachte am 31. Juli 2004 in A.________ beim Weiler B.________ einen Selbstunfall. Nachdem sie das hinterste Fahrzeug einer Kolonne überholt hatte, schwenkte sie wegen Gegenverkehrs wieder auf die rechte Fahrbahn ein, musste brüsk bremsen, kam dabei von der Strasse ab und fuhr in einen Weidezaun. Sie wendete anschliessend das Fahrzeug und fuhr weiter. Als sie später von der Polizei kontaktiert wurde, vermochte sie sich zwar noch an das Überholmanöver zu erinnern, gab aber an, keine Erinnerung mehr an das weitere Geschehen zu haben.
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Das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau sah sich aufgrund des Unfalls und der Erinnerungslücke veranlasst, beim Bezirksarzt die Fahreignung von X.________ abklären zu lassen. In seinem Bericht vom 16. Dezember 2004 hielt der Bezirksarzt fest, die Laboruntersuchung habe einen normalen CDT-Wert von 2,5 % ergeben. Hingegen sei der Marker Gamma-GT mit 98,5 deutlich erhöht. Fremdanamnestisch bestehe ein Alkoholproblem, worauf die Blutanalysen einen leichten Hinweis gäben. Die Erinnerungslücke deute auf eine eingeschränkte Hirnfunktion in der fraglichen Zeit hin, wie sie sich auch unter dem Einfluss von Alkohol darbieten könne. Das sei indessen nur eine Vermutung. Nicht verantwortlich für die Erinnerungslücke seien die von X.________ eingenommenen Medikamente (Reniten, Concor, Marcoumar und Remeron). Die Vermutung einer Alkoholabhängigkeit liesse sich durch die Auflage einer einjährigen Alkoholabstinenz widerlegen oder bestätigen.
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Gestützt auf diesen Bericht ordnete das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau am 28. Januar 2005 einen Sicherungsentzug des Führerausweises auf unbestimmte Zeit an und machte die Wiedererteilung von der Einhaltung einer mindestens einjährigen, ärztlich kontrollierten Alkoholabstinenz sowie von einem verkehrsmedizinischen Gutachten abhängig.
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B.
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Gegen diese Verfügung reichte X.________ am 21. Februar 2005 einen Rekurs an die Rekurskommission für Strassenverkehrssachen des Kantons Thurgau ein, wobei sie beantragte, den Führer-ausweisentzug auf unbestimmte Dauer aufzuheben, eventuell verbunden mit der Auflage, sich während eines Jahres einer ärztlich kontrollierten Alkoholkontrolle zu unterziehen. Zudem beantragte sie, dem Rekurs die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
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Mit Zwischenentscheid vom 11. April 2005 lehnte der Präsident der Rekurskommission für Strassenverkehrssachen die Erteilung der aufschiebenden Wirkung ab.
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C.
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X.________ hat mit Eingabe vom 25. April 2005 Verwaltungs-gerichtsbeschwerde an das Bundesgericht erhoben. Sie beantragt, den Zwischenentscheid aufzuheben und ihrem Rekurs vom 21. Februar 2005 gegen die Entzugsverfügung vom 28. Januar 2005 die aufschie-bende Wirkung zu erteilen.
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In ihrer Vernehmlassung vom 10. Mai 2005 beantragt die Rekurskommission die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Strassenverkehrsamt hält fest, dass aufgrund des ärztlichen Berichtes ein Alkoholproblem vorliege, weshalb ein Sicherungsentzug verfügt worden sei. Es bestätigt auf Anfrage des Instruktionsrichters, dass X.________ vor Anordnung der Massnahme keine Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten habe. Das Bundesamt für Strassen schliesst in seiner Vernehmlassung vom 2. Juni 2005 auf Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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1.
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Der Entscheid über die aufschiebende Wirkung im kantonalen Rechtsmittelverfahren gegen einen Sicherungsentzug des Führerausweises stellt einen Zwischenentscheid dar. Gegen einen solchen ist nach Art. 97 Abs. 1 OG i.V.m. Art. 45 Abs. 1 und 2 VwVG die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirkt und die Verwaltungsgerichts-beschwerde auch in der Hauptsache offen steht (Art. 101 lit. a OG, e contrario). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben, weil die Beschwerdeführerin aufgrund der Verweigerung der aufschiebenden Wirkung nicht mehr berechtigt ist, ein Fahrzeug zu führen, und gegen den Sicherungsentzug als solchen, der sich auf das Strassen-verkehrsrecht des Bundes (Art. 16d SVG) stützt, die Verwaltungs-gerichtsbeschwerde offen steht (Art. 97 Abs. 1 OG i.V.m. Art. 5 VwVG; Art. 24 Abs. 2 SVG). Zwar ergehen Entscheide über die aufschiebende Wirkung in Anwendung von kantonalem Verfahrensrecht, doch besteht ein hinreichend enger Sachzusammenhang zur Regelung des Bundesrechts über den Sicherungsentzug (Urteil 6A.85/2002 vom 22. November 2002 E. 1.2), weshalb auf die innert der Frist von 10 Tagen für die Anfechtung eines Zwischenentscheides (Art. 106 Abs. 1 OG) eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten ist.
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2.
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2.1 Gemäss § 48 Abs. 1 des Thurgauer Gesetzes vom 23. Februar 1981 über die Verwaltungsrechtspflege (VRG/TG) hat der Rekurs aufschiebende Wirkung, sofern nicht die Vorinstanz aus besonderen Gründen die Vollstreckbarkeit anordnet. Die Rekursinstanz oder ihr Vorsitzender kann einen gegenteiligen Entscheid treffen (§ 48 Abs. 3 VRG/TG). Beim Entscheid über die Wiederherstellung der auf-schiebenden Wirkung hat die Behörde zu prüfen, ob die Gründe, die eine sofortige Vollstreckung nahe legen, wichtiger sind als jene, die für einen Aufschub sprechen. Bei dieser Interessenabwägung kommt ihr - der Natur der Sache nach - ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu. Sie ist nicht gehalten, für ihren Entscheid zeitraubende zusätzliche Abklärungen zu treffen, sondern kann in erster Linie auf die ihr zur Verfügung stehenden Akten abstellen. Der vermutliche Ausgang des Verfahrens in der Sache selber kann dabei berücksichtigt werden, sofern die Prozessaussichten eindeutig sind (BGE 129 II 286 E. 3 S. 289; 106 Ib 115 E. 2a S. 116).
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2.2 Gemäss Art. 16 Abs. 1 SVG ist der Führerausweis zu entziehen, wenn festgestellt wird, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen. Namentlich ist der Führerausweis auf unbestimmte Zeit zu entziehen, wenn die Person an einer Sucht leidet, welche die Fahreignung ausschliesst (Art. 16d Abs. 1 lit. b SVG). Es handelt sich hierbei um einen Sicherungsentzug, der den Schutz des Verkehrs vor ungeeigneten Fahrzeuglenkern bezweckt. Aus der Zwecksetzung ergibt sich, dass diese Form des Entzugs im Interesse der Verkehrssicherheit in der Regel keinen Aufschub erträgt. Nach der Rechtsprechung ist daher Rechtsmitteln gegen Sicherungsentzüge die aufschiebende Wirkung zu verweigern, soweit nicht besondere Umstände vorliegen (BGE 122 II 359 E. 3a; 107 Ib 395 E. 2a; 106 Ib 115 E. 2b). Bis zum rechtskräftigen Entscheid über die Frage der Anordnung eines Sicherungsentzuges soll der Betroffene auch ohne strikten Nachweis von Umständen, die seine Fahreignung ausschliessen, vom Verkehr ferngehalten werden dürfen (BGE 122 II 359 E. 3a). Immerhin müssen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Fahrzeugführer andere Verkehrsteilnehmer im Vergleich zu den übrigen Fahrzeugführern in erhöhtem Masse gefährden könnte, würde er während der Verfahrensdauer zum Verkehr zugelassen (BGE 106 Ib 115 E. 2b).
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2.3 Das Strassenverkehrsamt hat der Beschwerdeführerin den Führerausweis gestützt auf einen ärztlichen Bericht entzogen, der eine Alkoholsucht für möglich hält, eine solche aber nicht belegt, wie auch die Rekurskommission im angefochtenen Entscheid einräumt. Zu diesem ärztlichen Bericht wie auch zum in Aussicht genommenen Sicherungsentzug hat sich die Beschwerdeführerin vor Erlass der getroffenen Massnahme nicht äussern können. Nach der Rechtsprechung ergibt sich aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) namentlich das Recht, sich vor Erlass einer belastenden Verfügung zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, an der Erhebung von Beweisen mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis äussern zu können (BGE 129 II 497 E. 2.2 S. 504 f.; 127 I 54 E. 2b S. 56; 124 I 49 E. 3a S. 51).
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Der Gehörsanspruch wurde vorliegend der Beschwerdeführerin grundsätzlich verwehrt, indem sie weder zur in Aussicht genommenen Massnahme noch zu den erhobenen Beweisen Stellung nehmen konnte und auch keine Möglichkeit hatte, angesichts einer wenig schlüssigen Beweislage Anträge auf weitere Abklärungen zu stellen. Aus dieser eklatanten Gehörsverletzung lässt sich jedoch für die Beantwortung der Frage, ob der angefochtene Zwischentscheid der Vorinstanz Bundesrecht verletzt, nichts ableiten.
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2.4 Im Lichte der oben (E. 2.2) dargelegten Kriterien erscheint der vom Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau verfügte Sicherungsentzug materiell nicht offensichtlich fehlerhaft. Wie die Beschwerde-führerin im kantonalen Verfahren selbst einräumte, bestand bei ihr in der Vergangenheit ein schweres Alkoholproblem. Gestützt auf den Bericht des Bezirksarztes ist auf Grund erhöhter Blutwerte und der Erinnerungslücke ernsthaft möglich, dass die Beschwerdeführerin an einer Alkoholsucht im Sinne des Strassenverkehrsgesetzes leidet. Die Rekurskommission für Strasssenverkehrssachen zieht daraus in ihrer Stellungnahme vom 10. Mai 2005 zutreffend den Schluss, dies bilde einen hinreichenden Anlass, um die Frage der Fahreignung spezial-ärztlich untersuchen zu lassen. Aus den bisherigen Akten ergeben sich begründete Zweifel an der Fahreignung der Beschwerdeführerin. Diese werden durch den Umstand, dass die Beschwerdeführerin sich seit Januar 2005 regelmässigen Blutalkoholkontrollen bei ihrer Hausärztin unterzieht, nicht vermindert, weil über die Modalitäten und die Häufigkeit der Kontrollen nichts bekannt ist und der Zeitraum für eine verlässliche Aussage über den Umgang mit Alkohol ohnehin zu kurz ist. Auch wenn die erste Instanz eine verkehrsrelevante Alkoholsucht nicht zu belegen vermochte, verdient das Interesse an einem sofortigen Vollzug des Sicherungsentzugs in der zu beurteilenden unklaren Situation den Vorrang. Ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang im Übrigen, ob die Beschwerdeführerin vor dem Unfall Alkohol getrunken hatte, ob sie sich in einer schwierigen Lebenssituation befindet und ob sie in besonderem Masse sanktions-empfindlich ist.
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2.5 Aus diesen Erwägungen durfte der Präsident der Rekurs-kommission für Strassenverkehrssachen des Kantons Thurgau besondere Umstände, die von Bundesrecht wegen ausnahmsweise die Gewährung der aufschiebenden Wirkung rechtfertigen würden, verneinen, ohne den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum zu überschreiten.
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3.
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Der angefochtene Entscheid verletzt deshalb kein Bundesrecht. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist abzuweisen. Angesichts der Gehörsverletzung durch das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau und der wenig schlüssigen Beweislage konnte sich die Beschwerdeführerin in guten Treuen zur Prozessführung veranlasst sehen, weshalb keine Verfahrenskosten zu erheben sind (Art. 156 Abs. 1 OG).
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Anzumerken bleibt, dass der Entzug des Führerausweises bereits fünf Monate gedauert hat und die Vorinstanz das Verfahren deshalb beförderlich wird behandeln müssen.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
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2.
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Es werden keine Kosten erhoben.
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3.
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Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und dem Rekurskommission für Strassenverkehrssachen des Kantons Thurgau sowie dem Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 21. Juni 2005
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Im Namen des Kassationshofes
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
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